Ohne Titel

Es ist Allerheiligen und ich werde wie auf Befehl sentimental. Ich wollte dir grad ein Grablicht anzünden und es ans Fenster stellen, Mama, aber ich find keines. Das wundert mich nicht bei deiner Schlamperei, würdest du jetzt sagen, und weil du es nicht mehr sagen kannst, sag ich es selber: „Das wundert mich nicht bei deiner Schlamperei.“
Ich zünd jetzt ein Teelicht für dich an, ja? Und ein Räucherstäbchen. Ist das ein adäquater Ersatz?

Tut mir leid, dass ich heute nicht auf dem Friedhof war, Mama, aber ich halte Friedhöfe mit so vielen oberirdischen Menschen drauf nicht gut aus. Außerdem habe ich dort nicht das Gefühl, dass ich dir nahe bin. Nicht näher als du es ohnehin bist, nämlich in meinem Herzen.

Grad heute hätte ich dich so gern angerufen. Um dich zu fragen, wie ich das mache, dass der Strudelteig nicht immer so hart wird. Da staunst du, oder? Ja, ich back einen Birnenstrudel mit selbst vom Baum gefallenen Birnen und von mir selbst ausgezogenem Teig. Ich weiß, ich könnte im Internet stöbern oder meine Schwiegermutter anrufen, aber das ist irgendwie nicht dasselbe.

Morgen hat dein einziger Enkelsohn Geburtstag. Siebzehn wird er, und er verbringt seinen Geburtstag wie alle Geburtstage, außer dem, an dem er aus mir geschlüpft ist, bei ... ja, wie schreib ich das jetzt? In deiner ehemaligen Wohnung. Beim Opa halt. Und heute ist er mit ihm auf dem Berg, und ich wette, sie denken da oben an dich. Ich schreib jetzt schnell weiter, weil sonst die Traurigkeit wieder kommt, wenn ich daran denke, wie du das letzte Mal auf dem Berg warst. Wie er dich abgeworfen hat, der Berg, wie ein störrisches Pferd seinen Reiter, der es liebt.
Deine Bergschuhe, Mama, die hat er nach deinem Tod total gern getragen, um dir nahe zu sein, aber er ist längst herausgewachsen. Nicht einmal die vom Opa passen ihm noch.
Den Kindern geht’s gut, mach dir um sie keine Sorgen. Ich glaub, so eine schlechte Mutter war ich bis jetzt gar nicht, auch wenn es jetzt schon halb sechs ist und ich noch immer nicht gekocht hab. Viel Liebe haben sie in ihren Herzen, und davon ist jede Menge von dir dabei.
Ja, dein Enkelsohn will noch immer am liebsten Bauer werden, daran hat sich nichts geändert. Er wird jetzt versuchen, den Hauptschulabschluss zu machen. Keine Ahnung, ob er es schafft, das Kind mit besonderen Bedürfnissen. (Haben wir nicht alle besondere Bedürfnisse? Ich jetzt zum Beispiel das, mit dir einen Kaffee zu trinken. Aber bitte keinen aufgewärmten, mach mir doch einen frischen.)
Ja, früher habe ich oft mit dem Schicksal gehadert, dass er „anders“ ist, „beeinträchtigt“ oder wie auch immer man das nennt. Ich dachte, es ist halt unsere Aufgabe, damit klarzukommen. Jetzt bin ich unendlich dankbar dafür, weil ich so viel lernen kann von ihm. Zuversicht, Glück, Bescheidenheit. Er hat die Sonne im Herzen, Mama. Und vielleicht hat er die auch deshalb, weil Liebe und Geborgenheit in unserer Familie immer etwas Selbstverständliches war. Auch die Liebe zum Leben.
Er macht jeden Tag in der Früh sein Bett, putzt gern und legt viel Wert auf Ordnung. Der Arzt hat gesagt, weil ihm innere Strukturen fehlen, braucht er die äußeren. Ich aber weiß, das hat er von dir. Dein Hang zur Sauberkeit hat nur eine Generation übersprungen. Und in der nächsten ist er ungerecht verteilt, deine Enkeltochter lebt nämlich gern im Chaos. Du wärst trotzdem sehr stolz auf sie.

Ich verkrieche mich jetzt wieder in der dunkelblauen Fleecejacke. Eines der wenigen Stücke, die ich mir von dir mitgenommen hab. Wenn ich die Augen schließe und an ihr schnuppere, kann ich dich noch immer riechen. Dich und das Butterkipferl, das du mir immer gestrichen hast, wenn ich krank war. Und den aufgewärmten Kaffee.
katiza - 1. Nov, 19:02

Gassho - ich verneige mich.

testsiegerin - 1. Nov, 20:57

ich musste erst nachschlagen, was gassho bedeutet.

kein grund, dich zu verneigen. aber danke.
Mamü (Gast) - 1. Nov, 23:13

Dieser Brief ist eine viel schönere Idee als ein Grablicht. Ich muss zugeben, dass mir gerade die Tränen die Wangen hinunterlaufen, weil ich meine Mama auch gerne angerufen hätte. Doch im Himmel gibts kein Telefon.
Wunderschön geschrieben. Danke.

Gruß,
Martina

testsiegerin - 2. Nov, 14:47

im himmel oder wo auch immer. aber ich glaub, die dort drüben können gedankenlesen.
punctum - 1. Nov, 23:22

das ist ein so lieber und aufrichtiger brief, der mir sehr nahe geht. dieses besondere kind wird ein großartiger bauer werden - und die großmutter wäre stolz!

testsiegerin - 2. Nov, 14:48

danke. er lernt jetzt für den traktorführerschein ;-)
und stolz wäre sie bestimmt.
Lo - 1. Nov, 23:23

Wunderschön.
Vermutlich wird Dir Deine Mama beim Schreiben über die Schulter geschaut haben. Wär doch schön, oder?
Ich wünschte es Dir.

testsiegerin - 2. Nov, 14:48

ja. das ist eine schöne vorstellung.
obwohl ... ich sollte den schreibtisch ein bissl aufräumen. man kann ja nicht wissen.
hobo - 1. Nov, 23:30

danke für´s daran teilhaben lassen.
packt mich, wie sts "großvodda" ...

danke

testsiegerin - 2. Nov, 14:49

danke fürs lesen und mitfühlen.
Uta-Traveller - 2. Nov, 08:08

Berührend und sehr persönlich.

Bei mir ist es der Vater, mit dem ich diese stillen Gespräche habe, weil ich nicht mehr mit ihm telefonieren kann.

Ich mag Friedhöfe, mag in fremden Städten zwischen alten Grabsteinen bummeln. Aber ich mag überhaupt nicht zum Grab gehen, weil man das eben macht.
Meine Mutter kümmert sich um Papas Grab, dass es ordentlich ist. Aber sie sagt: da liegt nur die Asche, da ist er nicht mehr. Er ist ganz woanders. Und dann legt sie die Hand auf die Herzgegend.

testsiegerin - 2. Nov, 14:49

ja. ich glaub, es gibt menschen, für die der besuch eines friedhofs wichtig ist und für andere nicht so. und beides gilt es zu respektieren.
steppenhund - 2. Nov, 09:07

Persönlich denke ich ja, dass Menschen, an die man sich so sehr erinnert, dass man mit ihnen sprechen oder ihnen schreiben kann, nicht wirklich gestorben sind. Kinder wie dein Sohn polarisieren. Manche Eltern kommen damit nicht zurecht, doch viele, mit denen ich im Kontakt war, bestätigen, dass sie die Bereicherung tagtäglich erfahren.
Vielleicht liegt es daran, dass man das Wunder Leben besser erahnen kann.

testsiegerin - 2. Nov, 14:50

ich glaub, es ist eine erweiterung der perspektiven. und ein besinnen auf das, was wirklich wichtig ist.
und das ist letztendlich in erster linie die liebe und die freude am leben.
kathrin (Gast) - 2. Nov, 22:08

nickt

ja. bei mir ist es auch der vater - seit 13 jahren ist er tot. und doch, als ich deine worte hier las, da mußte ich denke, wie es sein wird, wenn auch meine mutter mal nicht mehr lebt. noch ist das unvorstellbar für mich. sie ist so agil, so lebensfroh, tut noch so vieles, lernt neues dazu, fährt mit dem auto quer durch deutschland...
und eine träne rollte mir übers gesicht, beim gedanken daran, daß das irgendwann nicht mehr so sein wird. wie bei dir. nein, noch ist das unvorstellbar.

dein eintrag hier hat mich sehr berührt in seiner offenheit. danke, trotz der momentanen traurigkeit.

lg,
kathrin

testsiegerin - 3. Nov, 11:33

danke für deine lieben worte. und schön, dass du immer noch hier mitliest.
virago - 3. Nov, 19:20

Ein berührend schlichter Text. Danke dafür.
Ich mag Friedhöfe, aber nicht zu Allerheiligen. Da sind sie nicht friedlich, sondern hektisch.
Heute ist der achte Todestag meiner Mutter. Ich habe ein Grablicht auf den Balkon gestellt.

testsiegerin - 4. Nov, 12:34

und wenn die, die verstorben sind und denen wir lichter anzünden, die nähe und liebe nicht mehr spüren, dann spüren wenigstens wir sie.

danke.
brigitte.m - 4. Nov, 18:35

das

ist einfach schön

lg brigitte

testsiegerin - 4. Nov, 23:11

danke brigitte,
auch dafür, dass du so eine treue seele bist.
la lunaD (Gast) - 5. Nov, 23:06

Danke für diesen schönen Brief! Mit Tränen in den Augen las ich die letzten Zeilen. Ich habe erst vor kurzem meinen Opa durch ein schweres Ereignis verloren. Ich werde nachts wach, weine um ihn, weine um die Todesursache, weine aus Verzweiflung... und meine große Hoffnung ist es, das wir uns irgendwann irgendwo wiedersehen.
Es ist ein schöner Dedanke, dass uns die Lieben über die Schulter schaun und noch etwas an unserem Leben teil haben.

lg

testsiegerin - 6. Nov, 08:23

ich glaub, dass es gar nicht wichtig ist, ob sie das tun oder überhaupt noch können. ich glaub, wichtig ist nur, dass wir uns vorstellen, dass sie das gern tun würden ;-)

danke für deine schönen zeilen
gerda (Gast) - 6. Nov, 08:03

....und mama wird sicher nicht nur auf ihre enkelkinder stolz sein, sondern ganz besonders auf ihre tochter, die sooo berührende texte schreibt.

testsiegerin - 6. Nov, 08:23

du ewige schmeichlerin ;-)
danke.

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"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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