Das Fremde befreunden

In zehn Jahren gehe ich in Pension. Mit der Abfertigung werde ich das Dach reparieren lassen. Damit es mir nicht auf den Kopf fällt. Und jemanden dafür bezahlen, die alten Bäume zurückzuschneiden, damit mir beim Schreiben auch weiterhin Birnen auf den Kopf fallen. Vielleicht werde ich eine Schmuckwerkstatt einrichten. Und meine erste Kreuzfahrt machen. Mit 60 darf man das. Ich weiß, man darf das auch mit 25, natürlich, aber ich gestehe mir das mit 60 zu. Kuba vielleicht. Vielleicht ist ja auch der attraktive Herr meiner Geschichte „Kuba, wir kommen“ auf dem Boot. Eine Kreuzfahrt ist in meinen Kreisen der Inbegriff von Spießertum. In meinen Kreisen fährt man mit dem alten VW-Bus in die Wüste, wandert die bretonische Küste entlang oder begegnet in kanadischen Nationalparks Bären und verbringt die kühlen Winter in Goa oder auf Gomorrha. In meinen Kreisen und in meinem Alter hat man mindestens ein Jahr im Ausland verbracht und wenigstens vier Kontinente besucht. Wenn nicht alle sieben.
Ich war noch fast nirgends. Ich zucke betroffen zusammen, wenn jemand in geselliger Runde erzählt, dass Reisen den Geist öffnet und den Horizont erweitert.
Bin ich engsichtig und –stirnig, weil ich im Sommer im Garten sitze, von den Ribiseln nasche, den Ananassalbei zwischen den Fingern zerreibe und mich am Duft der Schokominze erfreue? Bin ich etwas dümmlich und dämlich, weil ich mein Geld nicht in eine Großwildsafari, sondern in zwei Operationen eines Katerbeins investiere?
Ich hätte ihn einschläfern lassen, sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich nicht. Ich hätte das nicht können. Ich kann doch ein Familienmitglied – und das sind unsere Katzen für mich, Familie – nicht einschläfern lassen, nur weil es sich ein Bein gebrochen hat. Ich möchte auch nicht, dass jemand an meinem Krankenbett steht und zum Arzt sagt: „Nein, kein neues Kniegelenk für die Frau Lehner, das können wir uns nicht leisten. Schläfern Sie sie bitte ein. Und seien wir uns ehrlich, so ein Leben mit kaputtem Knie ist doch kein Leben mehr. Sie ersparen ihr damit Leid... und uns Geld.“
Ich bin keine große Tierschützerin vor dem Herrn, nein, ich esse mit Vergnügen Würste vom Mangalizzaschwein, zerteile aus Rache für die nackten Hokkaidopflänzchen mit dem Spaten schleimige Nacktschnecken und sehe ungerührt zu, wie meine Tochter mit einem Aufschrei eine Fliege zerklatscht. „Warum bist du so aggressiv?“, frage ich. „Fliegen tötet man nicht mit Liebe“, antwortet sie.
Gestern hat mir der nunmehr dreibeinige Kater die erste Maus nach seinem Unfall vor die Füße gelegt. Eine ziemlich teure Maus.

Jetzt sind wir bei den Katzen, dabei waren wir grad beim Reisen. Wie krieg ich die Kurve wieder? Ja, das fehlende Konzept ist ein Nachteil beim forscherinnentagebuchführenden Schreiben.
Stubentiger statt sibirische Tiger. Ribisel statt exotischer Früchte. Engstirnig statt weitem, unendlichen Horizont. Du bist zynisch, sage ich mir, als ich vom unendlichen Horizont kinderfickender Touristen in Thailand schreiben will, oder – um fair zu sein – von frustrierten Europäerinnen, die sich großschwänzige Schwarze, oder schwarze, große Schwänze kaufen. Ich gebe zu, ich habe für den Augenblick eines Lidschlags sogar „Negerschwänze“ gedacht.
Ja, du bist verdammt zynisch, Barbara, denke ich. Und neidisch bist du auch. Nein, nicht auf die Ne... auf die Schwänze. Auf die, die sich ferne und aufregende Reisen leisten können und leisten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir nur einrede, dass ich mich in meinem Garten grad wohler fühle als an einem traumhaften Sandstrand, umgeben von lauter unendlich schönen, schlanken, jungen, knackigen und weitsichtigen Menschen. Oder ob ich mir etwas vormache. „Schleich dich, Neid!“, zische ich. Zischen zischt. Was für ein wunderbar onomatopoetisches Wort.

Ich bin selber weitsichtig. Ohne Brille kann ich im Restaurant nicht mal mehr ein saftiges Filetsteak vom Angusrind bestellen. Oder ich bestelle eines, obwohl es nicht auf der Karte steht, weil ich die Karte nicht mehr lesen kann.
Die Männer eines neuseeländischen Stammes begrüßen sich, indem sie mit nacktem Oberkörper mit verschränkten Händen unter ihre – also die eigenen – Achseln greifen und dann ihren Schweiß über den Körper des Gegenübers streichen. Das hat jetzt mit dem Horizont nichts zu tun und auch nichts mit Neid, nur mit Reisen. Und mit dem Seminar vorige Woche. Das Fremde befreunden.

Kuba wird mich auch in zehn Jahren nicht weitsichtiger machen, fürchte ich. Nicht besser, klüger, toleranter oder sonstwas. Ich mag einfach mit einer Freundin wegfahren, die Sonne und kubanische Rhythmen genießen und ein bisschen dekadent beim Captains Dinner Champagner schlürfen und über die Mitreisenden lästern, die es notwendig haben, eine Kreuzfahrt zu machen anstatt individuell mit lauter anderen Individualisten nach Kambodscha zu reisen oder in noch fremdere Länder, die noch nicht einmal entdeckt worden sind.

Vielleicht habe ich so viel Fremdes in mir, das zu entdecken und befreunden es sich noch lohnt – oder auch nicht lohnt. Wie kann man Gefühle wie Neid, Sucht nach Anerkennung und wer weiß, was ich noch alles auf meiner Reise in mich entdecke, wie kann man solche Gefühle befreunden?
Was, wenn sich meine Freunde angewidert von mir abwenden und sagen: „Wenn die kommen, dann gehen wir! Die können wir nicht leiden. Wir mögen nur dein Lachen, deine Wärme und deinen Rhabarberstrudel.“
Muss ich dann ganz allein nach Kuba?
steppenhund - 7. Jul, 13:12

Vier Kontingente - das kommt hin. Australien möchte ich noch gerne sehen, oder besser Neuseeland. Aber wenn ich diesen Text lese, will ich eigentlich nicht mehr hin. Vielleicht ist es doch besser, einfach die Welten in der Fantasie zu erleben und es sich auszumalen, wenn man das ein Leben lang macht. Sonst wird doch die Enttäuschung bereits in der Erwartung erzeugt.

Ich frage mich ja, ob es sinnvoll ist, auf solche Zeiträume voraus zu wünschen. Sollte ich nicht lieber jetzt in Pension gehen. Ich könnte es mir leisten. Ich könnte beginnen, das Leben zu genießen. Wäre das nicht dumm? Wenn ich nicht mein derzeitiges Leben genießen kann, wie sollte ich es später lernen können?

Aber besser als nach Australien zu fahren, wäre vielleicht die Zurücknahme auf Brunn am Gebirge und wieder einen Hund zu haben. Den leisten wir uns jetzt deswegen nicht, weil sonst immer einer von uns zuhause bleiben muss.

Ich kann da leicht klug daher schreiben. Ich bin schon über das Alter hinaus und habe genug von der Welt gesehen. Ich kann aber zustimmen, dass die Rettung des Katers weitaus mehr zählt. Ich bezweifle, dass sich die Freunde angewidert abwenden werden, denn es erscheint unlogisch, dass sich langjährig gewachsene Strukturen schlagartig zerschlagen lassen. Das funktioniert bei echten Freundschaften genauso wenig wie beim Internet.

Den Sex sollte man besser früher als später genießen oder noch besser sowohl früher wie später.

Ein anregender Text, der zum Nachdenken anregt. Und was gutes Futtern angeht, bin ich mittlerweile konsequent. Ich lasse nur mehr das Beste in meinen Luxuskörper.

la-mamma - 7. Jul, 15:23

Hach Frau Testsiegerin, die wichtigsten besten Dinge kann man sich doch eh nicht kaufen;-)
testsiegerin - 7. Jul, 17:31

@ Steppenhund: Ja, wenn man das Leben jetzt nicht genießen kann, dann wird man es vielleicht nie lernen. Darum mach ich mir aber keine allzugroßen Sorgen. Weder bei Ihnen noch bei mir ;-)

@ La-Mamma: Reden Sie jetzt vom Rhabarberstrudel?
rosmarin - 7. Jul, 14:38

geht ihr mit 60 in Pension??? wow.
Wir müssen ja deutlich länger....
aber wurscht, das wollte ich gar nicht ausführen, hat sich nur als kleine Irritation in den Hinterkopf geschlichen.
Nach diesem wunderbaren Text gehe ich jetzt leichtfüssig in den Garten, schau dem planschenden "Enkel"-Kind zu, kraule den Hund und beschließe, genau so verschroben zu bleiben, wie ich mich grad fühle.

testsiegerin - 7. Jul, 17:34

Ich gehör noch zu dem Jahrgang, der mit 60 in Pension geht, ja. Wenn das Pensionssystem hält ;-)

Verschroben ist ja ein bisschen so wie verschoben mit R drin. Das klingt gut. Und danke für die Blumen. Ich merk, wie mir das Leben und Schreiben grad Spaß macht.
Es ist ja nicht so, dass ich in letzter Zeit nichts geschrieben hab. Aber vorwiegend Theaterstücke. Mit dem Stück fürs Jugendtheaterworkshop, das morgen beginnt, bin ich grad fertig geworden.
HARFIM - 7. Jul, 15:14

Katzen das Leben retten,

ist eine sehr edle Handlung. Wer so etwas tut, kann kein schlechter Mensch sein.
Mit über sechzig Jahren inzwischen würde ich allerdings teuren Verlängerungen meines eigenen Lebens nicht mehr zustimmen. Irgendwie reicht es ja, und die Gesllschaft sollte sparsam denken, auch in dieser Hinischt.
Andererseit sagen ja manche, dass von 60 bis 70 das Wohlbefinden gerade psychisch gesehen ansteigt, das kann ich bestätigen... allerdings, nun ja, der Körper wird hinfällig :-)

testsiegerin - 7. Jul, 17:52

Oh, schön Sie hier zu lesen. Lang ist's her ;-)

Wenn jemand selbst teuren Verlängerungen des eigenen Lebens nicht mehr zustimmen würde, dann ist das ja auch in Ordnung. Aber wenn das für andere entschieden wird, sehe ich ein Problem. Das erinnert mich an düstere Zeiten, wo auch jemand entschied, was ein lebenswertes Leben ist und was nicht.

Ich hab 50jährige Klienten, die nicht mehr leben wollen und 90jährige, die nicht loslassen können. Alles nicht so einfach.
HARFIM - 7. Jul, 18:53

:-) ja, lang ist 's her

schön, dass Sie sich erinnern...

wir waren ja beide fast noch jung zu Gange in den Literaturseiten mit ihren "Textarbeit leisten"... und irgendwie war das Internet auch noch jung und unschuldig

*gg*

zu den 90-Jährigen, welche viel Geld kosten, um das Leben noch einige Monate an Apparaten zu verlängern, sage ich lieber nichts... sonst heißt es noch, der herb will die Alten umbringen :-)) obwohl, na ja... im Alter eckt man nicht mehr so gern an, obwohl... es machte einst auch Spaß...
iGing (Gast) - 7. Jul, 19:12

Der letzte Jahrgang, der mit 60 in Pension geht, ist der Jahrgang 1951, habe ich mir sagen lassen (oder jedenfalls in Rente - ist das was Anderes?).
Aber unabhängig davon: Eine Reise, die man wirklich ernsthaft machen möchte, zehn Jahre zu verschieben, ist unklug. Die Beschwerden, die Ängste, überhaupt die Gründe, die die Reise bisher verhindern, werden stärker und es braucht umso mehr Aufwand an Energie und Mut, die Widerstände zu besiegen und den Wunsch(traum?) dann doch Wirklichkeit werden zu lassen.
Besser gleich und dann nochmal!

testsiegerin - 7. Jul, 19:56

wäre ich Jahrgang 1951, wäre ich ja schon in Pension ;-)

http://www.50plus.at/finanz/pensanta.htm

Und noch will ich ja gar nicht nach Kuba. Vielleicht will ich nie nach Kuba. Ich glaub, es ist auch wichtig, irgendwelche Träume zu haben. Die können sich aber ändern. Vielleicht entscheide ich mich dann doch für Westsamoa ;-)

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