Es ist Dienstag

Ein Dienstag wie jeder andere. Zumindest war er das zunächst. Sie hatte noch im Bett gelesen, mit der Kleinen, die mittlerweile nicht mehr klein, sondern Studentin war, gefrühstückt und gequatscht, war ins Büro gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht.

Die Stimmung im Büro war schlecht, wie so oft in letzter Zeit. Jeder saß in seinem Kämmerchen, arbeitete still vor sich hin und nahm die anderen nicht mehr wahr.
Immer öfter hatte sie in letzter Zeit daran gedacht, zu kündigen, aber sie war nicht mehr die Jüngste, und feige war sie auch. Vielleicht würde ein Lottogewinn sie mutiger machen. Aber das Glück war ein Vogerl und schiss ihr höchstens auf den Kopf.
Seit ihr Kollege gestorben war, war nichts mehr wie früher. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Natürlich war nichts mehr wie früher. Die Zeit vergeht und wir mit ihr. Alles ist immer im Wandel, die Welt verändert sich und die Menschen und das war gut so.
"Nur die Dümmsten und die Weisesten können sich nicht ändern“ (Konfuzius), steht auf dem Kalenderblatt im Büro ihrer blonden Kollegin. Ich fürchte, ich gehöre zur ersten Gruppe, dachte sie.

Heute war sie wütend gewesen, so wütend wie selten zuvor. Und mutig war sie gewesen.

Sie spaziert durch den Regen und weiß noch nicht, ob die Mischung eine gute ist. Die Mischung aus Wut und Mut und Dienstag. Warum heißt es mutig und wütend?, fragt sie sich. Nicht mutig und wutig. Oder wütend und mütend. Egal. Nichts würde mehr so sein wie früher. Vielleicht hat das Buch, das sie heute früh gelesen hat, sie beeinflusst. In ihm hatte nämlich Heiner, der Protagonist, von einem Tag auf den anderen, ohne irgendwelche Anzeichen, die seine Entscheidung angekündigt hätten, gekündigt. Er hatte sein Erspartes abgehoben und ein Taxi zum Flughafen genommen. Er wollte in den nächstbesten Flieger steigen und in der Ferne ein neues Leben beginnen. Sein Leben. Der nächstbeste Flieger ging nach Novosibirsk und Heiner hatte sich seine Zukunft dann doch etwas anders vorgestellt. Plötzlich hatte er Angst vor seinem eigenen Mut bekommen und war mit der Bahn wieder in die Stadt gefahren. Er wollte die Kündigung zurücknehmen, aber sein Chef hat gesagt: „Tut mir leid, wir haben die Stelle schon ausgeschrieben. Wir suchen ohnehin einen Jüngeren, Billigeren.“ So hat Heiner weiterhin jeden Tag um dieselbe Uhrzeit dieselbe Frau geküsst, dieselbe Aktentasche genommen und dasselbe Reihenhaus verlassen. Seine Tage verbrachte er im Sommer im Park und im Winter in Einkaufszentren und Cafés. Am Abend küsste er seine Frau, murmelte „was für ein anstrengender Tag“, schenkte sich ein Bier ein und legte die Beine hoch. So lange spielte er seiner Familie und sich selbst Normalität vor, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand, weil weder die Stromkosten noch die Miete bezahlt worden waren.
An dieser Stelle war es Zeit gewesen mit dem Lesen aufzuhören.

Sie steht am Bahnsteig. Und jetzt?, fragt sie sich. Nach Hause fahren ging nicht, denn sie würde sich erklären müssen. Sie könnte „ich fühle mich krank“ sagen und ins Bett legen, aber Lösung ist das auch keine. Sie hat keine Lust, wie Heiner zu enden.
Sie würde es einfach allen erzählen, ihrer Familie und ihren Freunden. „Ich habe gekündigt. Punkt.“ Die Menschen haben Mitleid, wenn man gekündigt wird, aber wenn man mit 47 kündigt, ohne Ersparnisse und ohne einen neuen Job in Aussicht, hat keiner Mitleid. Sie würden sich an die eigene Stirn greifen oder an ihre und fragen: „Hast du Fieber?“

Sie schämt sich. Und fühlt sich lächerlich. Wegen so einer Kleinigkeit wirft man doch nicht alles weg, was einem in den letzten 20 Jahren wichtig war? Im Prinzip mag sie ihren Beruf ja gerne. Gut, sie hat sich nicht mehr gebraucht gefühlt, nicht mehr wichtig genug, seit die blonde Kollegin da war, die alles, was bisher gegolten hatte, hinterfragt hat und alles ändern wollte. Für die einmal vereinbarte Regeln nichts galten, weil sie nicht dabei war, als sie vereinbart worden sind. Aber deshalb alles hinwerfen? Und was jetzt?

Sie steht am Bahnsteig. Ihre wichtigsten Grundbedürfnisse, eigentlich die wichtigsten Bedürfnisse aller Menschen wurden in der Firma nicht mehr erfüllt. Gemocht und respektiert zu werden, nützlich zu sein, gebraucht zu werden und verstehen und verstanden werden. So einfach, im Prinzip. Und so schwierig zugleich.

Sie starrt auf die Gleise. Das ist eine Möglichkeit. Sie würde nichts erklären müssen, nicht ihren Kindern, nicht ihrer Mutter, nicht den Freundinnen. Einfach weg, wenn auch nicht nach Novosibirsk. „Sie war doch immer so fröhlich“, würden ihre Mutter und ihre Kinder sagen; „wir hatten immer noch ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältnis“ ihr Exmann. „Nein, sie hatte weder Krebs noch eine andere schwere Krankheit“ ihr Hausarzt, „bei der letzten Gesundenuntersuchung waren alle Werte in Ordnung“. Ihr Chef würde sagen: „Ich kann mir das nicht erklären. Weder die überraschende Kündigung noch ihren Selbst...äh... Freitod. Sie war eine sehr engagierte langjährige Mitarbeiterin. Alle hier mochten sie.“
Ihre Freundinnen würden fassungslos sein und sagen: „Warum hat sie nicht mit uns drüber geredet? Sie war die Lebenslustigste von uns allen.“ Irgendein Psychiater, den man für das Bezirksblatt befragen würde, würde eine professionell-ernste Miene aufsetzen und sagen: „Depression ist ein Tabuthema. Oft wird sie lange nicht wahrgenommen und ein klitzekleiner Auslöser reicht aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.“ Ha ha. Klitzekleiner Auslöser, der hat leicht reden. „Sie betrifft häufig die nach außen hin fröhlichen, selbstbewussten Menschen, ganz oft Kabarettisten und Clowns. Sie glauben, immer witzig und schlagfertig sein zu müssen, auch wenn es in ihrem Inneren ganz anders ausschaut.“ So ein Idiot.

Nur die blonde Kollegin würde sich schuldig fühlen. Sie würde schlaflose Nächte haben und alle Worte, die sie je mit ihr gewechselt hat, dreimal im Kopf herumdrehen und sich fragen, was sie hätte anders machen können. Sie würde leiden und schreckliche Gewissensbisse haben. Das ist wohl das mindeste, was ich erwarten kann, denkt sie und lässt die Bahn abfahren. Vielleicht würde die blonde Kollegin schon morgen ihre Sachen in eine Kiste packen und in ihr Büro übersiedeln. Vielleicht würde sie „Alles Leben ist Veränderung“ murmeln und zufrieden das Foto ihres Gatten auf ihren neuen Arbeitsplatz stellen. Vielleicht würde der einzige, der tatsächlich Schuldgefühle haben würde der sein, der am wenigsten dafür kann. Der Lokführer.

„Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten“, tönt es durch den Lautsprecher, „Zug fährt durch“. Scheiße, denkt sie. Scheiße, dass ich so verdammt gerne lebe. Sterben ist einfach keine adäquate Alternative.

Heute früh hat sie selbstgebackenen Zwetschkenfleck ins Büro mitgebracht, für die Kollegen. Aus feinem Germteig und mit knusprigem Streusel drauf. Sie wollte den Kollegen eine Freude machen, und sich selbst auch, denn Kochen und Backen bereitet ihr Trost und Wärme. Zu Mittag ist der Kuchen immer noch unberührt von den Menschen und berührt von den Obstfliegen am Tisch gestanden. „Ich nehm grad ab“, hat eine Kollegin gesagt, ausgerechnet diejenige mit Kleidergröße 36. „Ich esse nur bio-ökologisch und vollwertig“, die andere und sich eine Zigarette angesteckt. Dabei waren die Zwetschken und Nüsse aus ihrem Garten selbstverständlich biologisch, weil sie viel zu faul war, um Gift zu spritzen. Außerdem liebte sie die Bienen und Schmetterlinge und die Zwetschken viel zu sehr, um sie zu vergiften. „Ich bin nicht so ein Süßer“, hat der süße Kollege gesagt und die blonde Kollegin hat mitleidig gelächelt und gemeint: „Ich hab keine Zeit zum Kuchenessen. Zu viel Arbeit.“
Am Abend würde die Putzfrau kommen und den schönen Zwetschkenkuchen in den Müll werfen.

Ich hab gekündigt, denkt sie, nach zwanzig Jahren hab ich gekündigt, ich hab keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen wird und ich steh hier und mach mir Gedanken um Zwetschkenkuchen.

Sie ist ins Büro ihres Chefs gegangen, ohne anzuklopfen. Weil sie vorher geahnt hatte, dass ihr in dieser Situation die Stimme wegbleiben würde, hatte sie die Worte auf ein kleines Stück abgerissenes Papier gekritzelt. Ein Zettel wie einer, den ein nervöser Bankräuber dem Schalterbeamten vor die Nase knallen würde, aus Angst, seine Stimme könnte versagen oder der Beamte könnte ihn am Akzent erkennen, weil die Bank seine Hausbank war. Weil er viel zu feige war, eine fremde Bank zu überfallen, wo er die Beamten nicht kannte und in der Aufregung den Fluchtweg nicht finden würde.
Auf dem Zettel, den sie vorhin ihrem Chef auf den Tisch gelegt hat, stand nicht „Das ist ein Banküberfall, handeln sie erfahrungsgemäß“, sondern nur zwei Worte: „Ich kündige.“


„Warum?“ kreischt die junge Frau neben ihr am Bahnsteig und sie merkt nicht, dass die Frage nicht ihr gilt, sondern irgendeinem Kerl, der weit entfernt von ihr auch ein Handy ans Ohr gepresst hält und ihr vielleicht gerade gesagt hat, dass er sie nicht mehr liebt.
„Sie haben meinen Zwetschkenkuchen nicht gegessen“, sagt sie laut und die Umstehenden lächeln peinlich berührt. Wahrscheinlich denken sie, dass ich verrückt geworden bin, denkt sie. Wahrscheinlich haben sie Recht.
„Also dann“, sagt sie, macht auf der Stelle kehrt und geht durch den Regen zurück in die Firma. Völlig durchnässt kommt sie dort an, denn sie hat ihren Schirm auf der Bank auf dem Bahnsteig liegenlassen.

Die blonde Kollegin ist gerade dabei, den Kalender mit den Sprüchen über ihren neuen Schreibtisch zu hängen. Sie hält kurz inne. „Oh, hallo!“, sagt sie, „deine Sachen stehen da drüben.“
Der Chef sitzt in der Küche und trinkt Kaffee. Er schaut auf und lächelt sie an. „Oh, hallo!“, sagt auch er. „Sind Sie gekommen um die Kündigung zurückzunehmen?“
„Nein. Nur den Zwetschkenkuchen.“
Er errötet. „Oh, das tut mir jetzt leid. Ich habe ihn gegessen. Er hat ganz wunderbar geschmeckt.“
la-mamma - 13. Okt, 17:41

like.

testsiegerin - 13. Okt, 17:45

möchten sie einen zwetschkenkuchen? oder apfel-zwetschkenstrudel? oder powidl? krautrouladen mit erdäpfel könnt ich auch bieten.
la-mamma - 13. Okt, 17:55

also wenn wir weit genug vom bahngleis entfernt sind, würd ich im moment den strudel wählen. gegessen hab ich schon, aber mir ist grad so nach den extraangeboten;-)
HARFIM - 13. Okt, 17:46

schön.

Novosibirsk ist irgendwie auch keine Alternative :-)

testsiegerin - 13. Okt, 20:02

Besser als Astana oder Ulan Bator ... kommt immer darauf an, womit man etwas vergleicht ;-)
HARFIM - 13. Okt, 22:12

Na ja, ohne den Bürgern von Novosibirsk

zu nahe treten zu wollen, meiner Vorstellung nach ist das so die Gegend, wohin man früher verbannt wurde, wenn man dem Zaren nicht genehm war... als Ort wahrscheinlich auch deshalb in dem Roman witzig gewählt worden, oder.
Ich kenne ja jemanden zu dem ich keinen Kontakt mehr habe, aber er ist in einer Midlifecrisis nach den Fidschiinseln ausgewandert :-)
viennacat - 13. Okt, 23:24

zwetschkenfleck.
welche wunderbaren dinge andere dinge in einem komplett anderen licht erscheinen lassen.

wie immer, verehrteste: danke.

testsiegerin - 16. Okt, 20:43

bitte gern ;-) hat spaß gemacht. noch gibts zwetschken am baum, und nachdem wir jetzt unmengen powidl gekocht haben, sind noch immer zwetschken für einen zwetschkenfleck am baum.
Jossele - 14. Okt, 09:51

Putzfrauen werfen Zwetschkenkuchen eher selten in den Mist, viel eher nehmen sie ihn mit nach Hause.
Die Philosophie vieler Putzfrauen und -männer ist, die haben das für mich hingestellt ;-)

Was das Heil suchen in anderen Destinationen anbelangt, interessant, dass Menschen aus Novosibirsk, Fidschi, ja selbst aus dem sonnigen Süden Spaniens ebenso in Züge und Flugzeuge steigen um hierher zu uns zu entfliehen.
Irgendwie scheint die heile Welt immer anderswo zu sein...

testsiegerin - 16. Okt, 20:53

Da wird die Protagonistin froh sein, wenn der Zwetschkenfleck wenigstens der Putzfrau schmeckt.
bonanzaMARGOT - 14. Okt, 15:08

sehr schöne passagen über sinnkrise und midlifecrisis.
meiner meinung nach nicht konsequent genug fortgeführt. aber nett.

Jossele - 15. Okt, 13:51

Was wäre "konsequent genug fortgeführt"?
bonanzaMARGOT - 15. Okt, 14:06

dem thema entsprechend

mit dem gebührenden ernst fortgeführt. ab mitte bis ende wird es mir zu albern.
Jossele - 16. Okt, 16:20

Jedem das Seine... ;-)
bonanzaMARGOT - 16. Okt, 16:25

ich hab doch nicht gesagt, dass mir der text nicht gefällt.
eben ein barbara-text. es ist auch nicht leicht, bei solchen schwierigen themen die kurve zu kriegen.
Jossele - 16. Okt, 18:44

Hab ich auch nicht behauptet.
Zu jeglichem Thema gibt es mehr als einen Zugang, eben hier eine Barbara-Lösung, dem Publikum mehr oder weniger entsprechend, wobei ich anmeken möchte, ich mag den Text bis zum Schluss.
"Dem Thema entsprechen mit dem gebührendem Ernst fortgeführt", das ist mir ein bisserl zusehr erhobener Zeigefinger, wie vordem bei "nicht konsequent genug fortgeführt".
testsiegerin - 16. Okt, 21:01

@bonanza:
so wie ein bild ja immer genauso viel mit dem betrachter wie mit dem maler zu tun hat, ist es auch bei einem text. ich wollte nämlich keinen text über eine midlife- und sinnkrise schreiben, mir ging es eher um die tatsache, dass kleine kränkungen manchmal enorme reaktionen hervorrufen. und welche auswirkungen die dann wieder haben können.

abgesehen davon hab ich bei deinen kommentaren immer wieder einmal das gefühl, dass es dir freude macht, andere menschen zu kränken und kleinzumachen.
bonanzaMARGOT - 17. Okt, 09:49

quark, ich gab lediglich kurz mein leseempfinden wider.
ich wüßte nicht, was daran kränkend sein sollte. und andere klein machen, ist absolut nicht mein stil.
aber offensichtlich wird schon alles, was nicht positiv ist, von manchen zeitgenossen als kränkung aufgefasst.
katiza - 24. Okt, 16:55


Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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