Nackt

Er schaute sie an.
Nackt und reglos lag sie da, ihren Oberkörper ihm zugewandt, die Beine leicht angewinkelt, den Kopf auf den linken Arm gestützt. Ihre rechte Hand ruhte auf ihrer ausladenden Hüfte. Ihre Scham schamlos unverhüllt.
Er strich konzentriert über ihren Hals, berührte behutsam ihre Brüste, widmete sich ihrem Bauchnabel. Mitten in der Bewegung hielt er abrupt inne, stand auf und trat ein paar Schritte zurück.

„Du findest mich nicht schön, oder?“, fragte sie.
Er erschrak. Fühlte sich ertappt. Zögerte mit seiner Antwort.
„Doch, doch. Nicht schön im herkömmlichen Sinn. Aber schön.“
„Ist es wegen meiner Hüften? Ich weiß, sie sind eine Spur zu üppig geraten.“
„Nein.“ Er dachte nach. „Das ist es nicht.“ Er kam wieder näher und fuhr mit den Fingern erst durch ihr Haar und dann sanft über ihre Hüften. „Das passt schon so. Ich steh ohnehin nicht auf verhungernde Frauen.“
„Was also gefällt dir nicht an mir?“
„Ich weiß es wirklich nicht.“ In seinem Gesicht spiegelte sich Verzweiflung. „Ich wünschte doch auch, es wäre anders.“
Jetzt schwieg sie wieder und er hatte das Gefühl, sie blickte ihn leer und leidend an.
„Ich habe eine Ahnung, woran es liegen könnte. Es ist nicht der Körper, der ist gut, wie er ist, auch die Proportionen stimmen. Es ist das Gesicht, der Ausdruck. Der fehlende Ausdruck. Du wirkst... du wirkst irgendwie so nackt auf mich."
"Ich bin nackt", erinnerte sie ihn.
"Ja, ich weiß, aber da ist kein Geheimnis hinter deinen schönen Augen, verstehst du?“
Sie antwortete nicht.
„Ich fürchte, dir fehlt die Seele“, fuhr er fort, „das Feuer in den Augen. Weißt du, was ich meine?“ Er redete sich immer tiefer in den Strudel hinein. „Man spürt nichts von deinen Gefühlen, deinen Ängsten, deinen Träumen und deinen Hoffnungen. Dein Charakter wirkt so beliebig, so austauschbar.“
Sie schwieg weiter.
Wahrscheinlich hört das keine Frau gerne, dachte er. Jetzt hatte er sie gekränkt, ohne es zu wollen. Aber er konnte seine Worte nicht mehr zurücknehmen.
„Tut mir Leid“, er fuhr ihre langen, festen Beine entlang, „ich kann es nicht besser in Worte fassen. Außerdem kannst du nichts dafür. Vielleicht liegt es ja an mir. Bestimmt sogar liegt es an mir.“

Er hörte Schritte und warf hastig das Leinentuch über sie. „Ich bin gleich wieder bei dir.“ Er ging zur Tür.
„Darf ich reinkommen?“, fragte die Stimme, die zu den Schritten gehörte und drückte die Klinke nach unten. Zum Glück hatte er den Schlüssel vorher umgedreht.
„Lieber... lieber nicht“, rief er durch die versperrte Tür, „ich bin noch nicht so weit.“
„Hm. Schade.“ Die Schritte entfernten sich.

Vorsichtig nahm er das Tuch wieder von ihr und legte seine Hand auf ihren Po. Täuschte er sich, oder funkelte sie ihn jetzt wütend an?
„Das ist gut, das ist sehr gut“, sagte er, denn ihre Augen verwandelten sich in glühende Kohlenstücke, auf der Stirn bildeten sich winzige Fältchen, kaum wahrnehmbar, aber sie drückten deutlich ihre Missbilligung aus, die Konturen ihrer Lippen wurden schärfer, gerade so als wollte sie ihm wüste Beleidigungen an den Kopf werfen. Deshalb verwischte er mit dem Finger ihre roten Lippen. „Großartig“, sagte er, „diese zornige Schlampigkeit lässt dich viel lebendiger wirken.“
„Arschloch“, zischte sie.
„Ich wollte dich nicht verstecken“, murmelte er und malte weiter, „aber meine Frau hat kein Verständnis dafür, wenn ich mit der Leinwand spreche.“
walküre - 21. Mär, 16:58

Fein geschrieben ...

testsiegerin - 22. Mär, 00:01

merci
Darpan (Gast) - 21. Mär, 19:18

Bin wieder begeistert.
Danke Darpan ;-)

testsiegerin - 22. Mär, 00:01

ich bedanke mich für das lob und freue mich!
Uta-Traveller - 21. Mär, 19:37

eine unerwartete Wendung am Schluss - das liebe ich an deinen Geschichten besonders
naja, ich mag sie sowieso gerne, weil sie so lebendig und raffiniert geschrieben sind

wollte ich nur mal wieder sagen (weil ich mich zur Zeit selten äußere, auch wenn ich hier lese)

lieben Gruß
Uta

testsiegerin - 22. Mär, 00:02

wie das leben, oder? das bietet - zumindest mir - auch immer überraschende wendungen. nicht immer sehr erfreuliche wendungen, leider.
datja - 22. Mär, 08:36

applaus!

hu das ist gut.

*beeindruckt ist*

testsiegerin - 22. Mär, 12:53

*freut sich, dass diese miniatur offenbar gelungen ist*
rosmarin - 22. Mär, 11:41

:-)
das das wieder eine wendung haben würde, war mir nach den ersten paar zeilen klar.
also hab ich nicht weitergelesen, sondern überlegt, welche wendung es wohl sein könnte.
bin nicht drauf gekommen.
süperschön.

testsiegerin - 22. Mär, 12:54

eigentlich wollte ich ja etwas ganz anderes schreiben. aber dann hat sich die frau auf dem bild und damit die geschichte selbstständig gemacht.
steppenhund - 22. Mär, 11:53

Abgesehen von der netten Wendung beschreibt diese Geschichte ziemlich genau das, was ich vor einigen Tagen bei la-mamma ausführen wollte.
Schön und nackt reicht nicht, wenn die Nacktheit eben dieses Leben dahinter komplett irrelevant erscheinen lässt.
Also schärfer formuliert reicht Nacktheit nicht, um Begehren zu erzeugen. (Außer vielleicht vor fünfzig Jahren:)
Keinesfalls reicht sie aus, um Liebe zu erwecken.
- Soweit die Interpretation, wenn es wirklich eine Frau gewesen wäre.
Dass der Maler mit seiner Leinwand spricht, halte ich für ganz normal und legitim. Ich spreche schließlich ja auch mit meinen Programmen, mit meinem Klavier, mit meinen Klavierstücken - und manchmal sogar mit meiner Frau...
Wenn Menschen mit ihren Blumen oder ihren Hunden sprechen, halte ich das übrigens für keine Selbstgespräche. Es wurde noch nicht nachgewiesen, dass Blumen oder Hunde nichts verstehen, die Empirie zeigt eher das Gegenteil.

testsiegerin - 22. Mär, 12:56

noch einmal danke.

sogar kühe geben - nach neuesten studien mehr milch - wenn sie mit ihrem namen angesprochen werden. und noch mehr, wenn sie mozart hören. schönberg mögen sie nicht so gerne.

über das "...manchmal sogar mit meiner frau" musste ich herzlich lachen.

ich spreche für gewöhnlich mit den figuren in den büchern, die ich lese, mit den katzen sowieso, und mit meinem auto.
LadylikeKandis - 23. Mär, 20:38

deine geschichten sind einfach nur schön und klasse!
ich frag mich immer schon am anfang, wie das ende aussehen wird und manchmal ertappe ich mich dabei, mich während des lesens zu fragen, wieviel wahrheit steckt drin, erfahrung, gedanken, gelebtes;-)))

ich lese dich einfach gern!

lg kandis

testsiegerin - 23. Mär, 22:26

ach, tut das gut!

von allem ein bisschen ist drin. vermischt mit meiner fantasie.
aktmodell war ich aber noch nie. beim zahnarzt schon.
MoniqueChantalHuber - 23. Mär, 22:32

ich lass auch mein lob hier.
eine wunderbare wendung und viel wahrheit.

testsiegerin - 24. Mär, 12:25

*sammelt das lob freudig auf*
g.emiks - 23. Mär, 23:16

nackt ist immer das b.ste, was
eine malen.schreiben k.nn

testsiegerin - 24. Mär, 12:25

also ich war ja schon angezogen, als ich diese geschichte geschrieben hab. der alte ist nämlich immer noch nicht weg und der neue noch nicht da.
Jossele - 24. Mär, 09:41

Fein ziseliert, trefflich!
Und genau so trägt es sich vor der Leinwand zu.

testsiegerin - 24. Mär, 12:25

merci. dabei male ich gar nicht. ich schreibe nur, und hin und wieder schmiede ich.
la-mamma - 24. Mär, 12:40

nach so viel kommentaren

kann ich´s ja nur frei nach nömix/valentin sagen: is eh scho alles g´sagt, aber noch nicht von mir;-)

testsiegerin - 24. Mär, 14:58

Ich freu mich trotzdem über jeden einzelnen Kommentar ;-)
Danke.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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