Das Weihnachtswunder vom Weinviertel

Ich betrete die Boutique. Die Verkäuferin strahlt mich an. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein, danke, ich will nur schauen.“ Sie ignoriert meinen Wunsch. „Hier hätten wir ein paar total schöne. Gestrickt aus nepalesischem Kaschmir, von einem arbeitslosen Sherpa handgefertigt. Das Unregelmäßige in der Textur ist kein Fehler, sondern liegt daran, dass sich der Sherpa auf einer Expedition mit französischen Bergsteigern drei Finger abgefroren hat. Deshalb ist er ja nun arbeitslos. Sehen Sie hier, die feinen Applikationen aus Abenteuern, Schneesturm, Konflikten und Hunger. Fair gestrickt.“
Das Strahlen ist ihr während der Erzählung nicht aus dem Gesicht gewichen. Sie strahlt, als hätte sie den Mount Everest bestiegen.
Nein, das Werk gefällt mir nicht. Zu düster für eine Weihnachtsgeschichte. Ich will keinen Hunger und keine Konflikte in meiner Geschichte und schon gar keinen Schneesturm, in dem sich Sherpas Finger abfrieren.
In einer Weihnachtsgeschichte muss es duften, glitzern und klingen, nach verkohlten Vanillekipferln, eisglatter Fahrbahn und einer Massen-karambolage, in der alle überleben und niemandem ein Finger fehlt.
Ich brauche eine Weihnachtswundergeschichte.


Ich schlendere weiter durch den Ort, auf der Suche nach der perfekten Weihnachtsgeschichte. Aber ich finde nur Stress in den Gesichtern der Menschen, an den Ständen gepanschten Punsch und geschmacklose Geschenke. Also wandere ich weiter.

Erst auf dem kleinen Adventmarkt in der Kellergasse finde ich Menschen, die lächeln. Es riecht nach Sternanis, Orangenschalen und Muskat, ich finde wunderschöne Kunstwerke und selbstgekochten Glühwein. Vor allem aber finde ich hier Geschichten. Lebensgeschichten, die mir Kunsthandwerkerinnen freimütig erzählen, wenn ich höflich und interessiert eines ihrer Werke berühre und bewundere anstatt einfach an ihnen vorbeizugehen.

Eine der Künstlerinnen erzählt mir gleich mehrere Lebensgeschichten. Ihre eigene Lebensgeschichte erzählt sie mir, und dass sie mit ihrer Arbeit kaum sich selbst und ihr kleines Kind über die Runden bringen kann, aber dass sie diese Arbeit liebt, mehr als alles andere. Bei dieser Bemerkung zucke ich kurz zusammen. Dann erzählt sie mir die Lebensgeschichte des Ahornbaums, aus welchem das Holz geschnitzt ist, mit dem sie die Schale gedrechselt hat. Schließlich noch die kurze Lebensgeschichte ihres jüdischen Großvaters und die längere ihrer jüdischen Großmutter, die es nach Amerika geschafft hat und als Schriftstellerin die kurze Lebensgeschichte des jüdischen Großvaters aufgeschrieben hat.
Ihre Augen glänzen traurig, und ich weiß nicht, ob es wegen der jüdischen Großeltern ist oder weil ich nach einer halben Stunde die Schale wieder zurücklege ohne sie zu kaufen. Beim nächsten Stand erfahre ich neue Geschichten, und beim übernächsten auch.
Irgendwann kann ich diese traurigen Geschichten und ihr trauriges Gesicht nicht mehr ertragen und ertränke mein Leid in rotem Glühwein.

Genau, in einer Weihnachtsgeschichte müssen Kinder vorkommen, denke ich, als ich durch das Guckloch in einen Weinkeller schaue, in dem die Heilige Familie aus Stroh nachgebaut ist und ein Holzkind in der Krippe liegt. Bestimmt fair gedrechselt.
Ich brauche eine Geschichte über Kinder, denke ich. Oder über ein Kind. Kind, Kitsch und ein Weihnachtswunder.
Da sehe ich einen kleinen Buben ganz allein unter einer Föhre sitzen. Er knabbert an einem Müsliriegel und weint.

*

Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, was dann über mich gekommen ist. Vermutlich hat sich das Bild des Kellers mit der Krippe mit dem Kind drin tief in mir eingeprägt. Die Worte der Kunsthandwerkerin. Vielleicht war es der Glühwein. Vielleicht aber auch die in Niederösterreich tief verwurzelte jahrhundertelange Tradition, Kinder in Keller zu sperren.

Er ist ungefähr drei und seine Mama ist Künstlerin, erzählt er, als ich ihn an der Hand fasse und mit nach Hause zerre. Ein entzückender Bub, mit schwarzem Wuschelkopf und olivbraunen Augen. Bei mir soll es ihm an nichts fehlen.
Er heißt Samuel, aber ich nenne ihn Adrian, der Name passt besser zu ihm. In den ersten Tagen weint er viel, das verunsichert mich, weil ich wirklich lieb und freundlich zu ihm bin und seine Wünsche erfülle. Er fragt oft nach seiner Mama, obwohl die sich auf dem Adventmarkt nur um ihre Kunden kümmert und ihre Kunst mehr liebt als ihn. Vielleicht ist er einfach zu jung dafür, um zu verstehen, dass ich es nur gut meine mit ihm. Irgendwann wird er mir dankbar sein für diese schöne gemeinsame Zeit, da bin ich mir sicher.

Ich hab ihm unseren kleinen Keller, in dem wir sonst nur Winteräpfel und Kartoffel lagern, liebevoll hergerichtet. Die Tiefkühltruhe habe ich mit einem Tischtuch mit weihnachtlichem Dekor abgedeckt, die Weihnachtslieder aus dem CD-Player übertönen ihr Summen. Er schläft auf dem japanischen Futon, auf dem meine Kinder manchmal geschlafen haben, als sie noch nach Hause gekommen sind. Das ist lange her, sie wollen mit mir nichts mehr zu tun haben, weiß Gott warum.
Die ersten Nächte hat Adrian kaum geschlafen, sondern nur bitterlich geweint. Ich habe ihm deshalb Rohypnol in den Tee gemischt. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, damit er es im Keller gemütlich hat. Sogar den alten Elektrostrahler hab ich in den Keller geschleppt, damit er es schön warm hat. Ein paar Tannenzweige hab ich an der Ziegelwand aufgehängt, und wenn ich bei ihm unten bin, zünde ich Kerzen an und singe Weihnachtslieder mit ihm. Wenn ich dann wieder hinaufgehe, blase ich die Kerzen aus, damit nichts passiert.

Im Gegensatz zu seiner Mama habe ich Zeit für ihn. Ich lese ihm viel vor, am liebsten mag er die Geschichte vom Sherpa Santosh, der auf der Expedition im heftigen Schneesturm fast erfroren wäre, wie seine beiden besten Freunde, und dem die Handschuhe des toten französischen Bergsteigers das Leben und sieben Finger gerettet haben.

Ich koche und backe für ihn. Am Anfang hat Adrian kaum etwas gegessen. Nur die Buchteln, gefüllt mit selbst gemachtem Powidl und mit Vanillesoße dazu haben ihm geschmeckt. Deshalb gibt es jetzt jeden zweiten Tag Buchteln. Spaghetti mag er auch, am liebsten mit Ketchup. Nachts sitze ich oft stundenlang neben ihm und schaue ihn einfach an. Streiche über seine ebenmäßige, zarte, blasse Haut. Kringle seine Locken in meinen Fingern. Adrian ist wunderschön. Ich bin glücklich.

Drei Wochen ist Adrian jetzt schon bei mir. Er weint nicht mehr so oft wie in den ersten Tagen. Wenn ich oben koche, spielt er unten mit den alten Puppen meiner Tochter. Vor allem die Geschichte vom Sherpa Santosh hat es ihm angetan und er spielt sie gerne nach. Die Puppe Laura - eine Negerpuppe mit Kraushaar - ist Santosh, der Sherpa. Aus bunten Decken baut er den Mount Everest, das alte Holzkreuz aus meinem Herrgottswinkel – ich bin eine fromme Frau - dient als Gipfelkreuz. Auf dem Dachboden hab ich noch eine große Schachtel mit kleinen Styroporkugeln gefunden, die dienen Adrian als Schneesturm. Ich muss lächeln, als ich ihn beim Spielen beobachte. Jetzt hab ich doch einen Schneesturm in meiner Geschichte. Der Negerpuppe hat Adrian mit der Bastelschere drei Finger abgeschnitten.

Morgen ist Heiliger Abend. Morgen werde ich mich von Adrian verabschieden. Nein, ich werde ihm nicht weh tun, obwohl es mir schwer fallen wird, ihn gehen zu lassen, denn ich habe den Kleinen in den letzten Wochen in mein Herz geschlossen. Aber es muss sein. Ich bin kein schlechter Mensch, keine Verbrecherin, die einfach so zum Spaß Kinder entführt und im Keller versteckt. Ich bin nur ein Mensch, der auf der Suche war. Auf der Suche nach einer Geschichte. Ich habe sie gefunden.

Ich werde morgen mit Adrian im Keller noch Weihnachten feiern, die Kerzen des kleinen Christbaums anzünden und Stille Nacht singen, wir werden Hühnersuppe und Buchteln mit Vanillesoße essen, mit echter Vanille. Den Sherpa Santosh darf Adrian behalten, als Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit. Auch ein paar Buchteln werde ich ihm in Stanniolpapier wickeln und in den kleinen Rucksack packen, den ich für ihn gekauft habe. Dann werde ich ihn zur Polizeistation bringen, die Klingel drücken und Adrian das letzte Mal an mich.

Ich werde traurig sein, dass er nicht mehr da ist, und gleichzeitig werde ich mich gut und zufrieden fühlen, wenn ich mich am Abend an den Schreibtisch setze und die Geschichte aufschreibe. Eine Weihnachtsgeschichte mit Kind und Vanilleduft und glitzerndem Schnee und Happy End.


Der Titel der Geschichte lautet genauso wie die Schlagzeile der morgigen Zeitung lauten wird: „Das Weihnachtswunder vom Weinviertel.“
Kinkerlitzch3n - 19. Dez, 22:46

Deine Ideen sind echt die ärgsten!
Aber super! ;-)

testsiegerin - 21. Dez, 10:59

Dabei entspricht die Geschichte gar nicht der Wahrheit. Ich werde Adrian am Weihnachtsabend eher nicht freilassen. Bitte nichts weitersagen. Mein Bewährungshelfer hat keine Ahnung, warum ich mich mit ihm grad lieber im Kaffeehaus treffe als zu Hause.
steppenhund - 20. Dez, 00:32

Eine Geschichte, die ich gerne selber geschrieben hätte. Hätte ich aber nicht gekonnt:(

Große schmunzelnde Anerkennung...

testsiegerin - 21. Dez, 10:59

Vielen, vielen Dank. Die ist irgendwie aus dem Handgelenk geflossen.
la-mamma - 20. Dez, 10:54

ein spezielles 9faches danke für diese geschichte und das vorleserecht dazu!

testsiegerin - 21. Dez, 11:00

sie sind ja pervers! ;-)
datja (Gast) - 20. Dez, 21:16

puh; das ist ...

*gänsehaut !*

*****

testsiegerin - 21. Dez, 11:01

Ja, Weihnachten macht manchen Menschen Gänsehaut.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
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Lo - 7. Jan, 13:36
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