Wickel, 2. Versuch

„Hallo Mama!“ Dorina schließt leise die Tür hinter sich. Jeden Samstag besucht sie ihre Mutter im Pflegeheim. Aus Pflichtgefühl einerseits, aber auch aus Hoffnung.
Als ihre Blicke aufeinandertreffen, fällt die Hoffnung zu Boden und zerbricht leise. Es ist ein vertrautes Geräusch, für beide Frauen.
Dorina küsst ihre Mutter auf die Stirn.
„Kind, wie schaust du denn schon wieder aus?“, zupft diese an ihrem kurzen Kleid. „Ist denen in der Fabrik der Stoff ausgegangen?“
„Hauptsache, dir geht die Boshaftigkeit auch im Alter nicht aus, Mama.“ Dorina öffnet den Schrank und schaut die Unterwäsche ihrer Mutter durch. Wenigstens das Pflichtgefühl ist noch da. Sie faltet die Kombinesch sorgfältig und gibt sie in das andere Fach, eine zerfledderte Unterhose stopft sie in ihre Tasche. Ihre Mutter würde nicht zulassen, wenn sie die vor ihren Augen in den Mistkübel werfen würde. „Brauchst du irgendwas, Mama?“
Ihre Mutter blickt demonstrativ aus dem Fenster, hinaus in den Park. Dort schiebt ein junger Pfleger eine alte Dame im Rollstuhl. „Was ich brauche, kannst du mir sowieso nicht geben“.
„Du konntest mir auch nicht geben, was ich gebraucht hätte“, murmelt Dorina. Pflichtgefühl, lass mich bitte jetzt nicht im Stich, denkt sie und sagt: „Komm, ich mach dir die Haare.“

Die beiden Frauen halten sich am Ritual fest. Schweigend kämmt Dorina ihr das feuchte Haar, schweigend reicht ihr die Mutter einen Lockenwickler nach dem anderen und zuckt vorwurfsvoll zusammen, wenn Dorina zu fest rollt oder den Wickler mit der Nadel unsanft fixiert.
Auch das Schweigen sticht fest zu und schmerzt. Als Dorina den Stielkamm auf die Kommode legt, fällt das gerahmte Sepia-Bild mit dem Soldaten in Uniform um. Dorina lässt es liegen.
„Ach, wenn er doch nur noch am Leben wäre.“ Ihre Mutter schlägt ein Kreuzzeichen. „Aber der Herrgott hat ihn zu sich geholt.“
„Der Herrgott sicher nicht. Eher der Teufel.“ Dorina wickelt fester. Halt dich im Zaum, denkt sie, es hat keinen Sinn mehr. Zu spät, wir werden das nicht mehr ausräumen. Mach nicht das bisschen Nähe auch noch kaputt. Es ist nicht klar, ob die Gedanken ihr selbst oder ihrer Mutter gelten.
„Ich hätt mich auch umbringen sollen, als er da in der Garage gehängt ist. Das wäre besser gewesen.“ Der Körper der alten Frau vibriert, nur ein wenig erst, doch nach und nach wird das Schütteln stärker.
„Du sollst dich nicht aufregen, Mama. Dein Blutdruck ist ohnehin viel zu hoch. Was hat es denn heute zu essen gegeben?“ Dorina wendet sich ab, gießt zwei Gläser Wasser ein und reicht eines ihrer Mutter. Ihr eigenes schmeckt nach einem Cocktail aus Pflichtgefühl, Bitterkeit und Hilflosigkeit.
„Er hat sich so gekränkt, dass du ihn so geschnitten hast. Du hast ihm das Herz gebrochen, Dorina-Schätzchen!“
Stille.
„Er hat meine Seele zerbrochen, Mama. Aber das hat dich nie interessiert. Wenn du deine Tage vorgetäuscht hast, ist er zu mir gekommen!“ Dorina kann weder die Erinnerungen noch die Tränen zurückhalten.
Ihre Mutter hält sich die Ohren zu und schreit: „Das ist nicht wahr. Das hast du dir alles nur eingebildet! Du hast immer schon eine lebhafte Fantasie gehabt.“
„Du hättest mich beschützen müssen, Mama, nicht ihn!“
Das Gesicht ihrer Mutter verfärbt sich bläulich. Sie ringt um Fassung, Luft und Worte.

„Nicht aufregen Mama!“ Dorina drückt die Klingel um die Schwester zu rufen. Dann rennt sie mit dem Waschlappen zum Waschbecken, hält ihn kurz unter das kalte Wasser und legt ihn ihrer Mutter auf die Stirn. Sie streicht ihr zärtlich über die Wange.

Angst, da ist nur noch Angst. Angst und etwas, das sich anfühlt wie Liebe. „Du musst atmen, Mama, komm... einatmen... und ausatmen... alles wird gut, Mama!“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Bitte nicht sterben... Ich hab doch nur dich!“
steppenhund - 18. Mai, 13:34

Ich könnte hier kein Pflichtgefühl mehr aufbringen. Die Mutter begeht und beging offensichtlich früher die größte Sünde - wider den Heiligen Geist, von der es heißt, dass sie nicht vergeben werden kann.
Die Realität auf Kosten anderer zu leugnen und daran bis ans Lebensende ohne Reue fest zu halten ist in meinen Augen ein Verbrechen. Es setzt den bereits zugefügten Schaden fort und verhindert jede Chance auf Verbesserung.
"Du meinst, ich bilde mir das nur ein? Gut, ich werde einen Umstand ändern, der mir der Erinnerung immer weieder zurückholt. Das ist heute mein letzter Besuch bei dir?" So würde ich reagieren...

testsiegerin - 18. Mai, 20:53

ich glaub ja nicht, dass die erinnerung sich so austricksen lässt.
und mir ging es schon darum, dass da bis zum schluss die hoffnung ist. die hoffnung auf einsicht, auf entschuldigung, ja irgendwie auch die hoffnung auf liebe.
Chris (Gast) - 19. Mai, 02:17

Dieser @Steppenhund macht es sich zu leicht. Im Grunde versteht er gar nichts. Nichts von Gefühlen der Hilflosigkeit und von Lebensangst, nichts von fast logisch folgender Verdrängung. Er wählt das Einfache. Typisch Mann? Nein. Aber typisch oft Mann.
steppenhund - 19. Mai, 09:19

Verstehen tu ich wirklich nichts. Ich schließe nur von selbst beobachteten Beispielen und höre manchmal auch zu, wenn mir jemand etwas erzählt. Ich kenne neben anderen einen spezifischen Fall, wo eine Tochter sich um die Mutter gekümmert hat, bis diese starb. Erst dann - die Tochter war 60 - fing für dieselbe das Leben an.
Ich kenne einen Mann, der sich fürsorglichst um seine Mutter gekümmert hat und daneben ein 500 Mann starkes Unternehmen geleitet hat.
Es geht nicht darum, ob man einem Menschen hilft oder nicht. es geht darum, dass man manchmal einem Menschen gar nicht helfen kann. Eine Frau, die bei ihrem Mann bleibt, obwohl er sie regelmäßig verprügelt, ist genauso arm wie die Frau eines Alkoholikers. In beiden Fällen wird der Rat erteilt, sich zu lösen. Eine alte Frau, die an ihren Irrtümern festhält, ist in meinen Augen genauso gewalttätig wie der prügelnde Mann, möglicherweise richten Worte sogar noch größeren Schaden an.
Aber wie gesagt, ich verstehe nichts davon. Ich verstehe auch nichts von Gefühlen, ich bin ein einfach ein kleiner Techniker.
steppenhund - 19. Mai, 09:29

@Testsiegerin

Ich habe mich seit meiner Kindheit in der Gegenwart alter Menschen wohlgefühlt. Oft habe ich stundenlang meiner Großmutter zugehört, wenn sie über die Nachbarn räsoniert und geschimpft hat. Lustig fand ich es, die Pensionisten im Park beim Zwanzigerrufen zu beobachten und ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen zu beobachten.
Heute, wo ich schon selbst alt und vertrottelt werde, würde ich die Aussage wagen, dass sich die Menschen im Alter in zwei verschiedene Richtungen bewegen können. Sie werden entweder immer toleranter und geduldiger oder sie werden immer zänkischer und unversöhnlicher.
Von den letzteren kenne ich lediglich aus der Literatur einige Charaktere, die sich noch einmal ändern. Die Bekehrung kurz vor dem Tod zählt dabei nicht.
Ohne eine wirkliche Erschütterung gibt es aber kaum eine Umkehr.
Literarisch ist gegen die Darstellung der Hoffnung überhaupt nichts einzuwenden. Doch wo habe ich anderswo gelesen. Die Kunst hilft, mit den Zweifeln umzugehen. Ich habe das so weit ausgeweitet, dass ich meine, dass die Kunst überhaupt erst Zweifel erzeugen soll.
Doch wie auch schon oft bei anderen Gelegenheiten wird man feststellen, dass gerade die Leute lesen, die es nicht erst lernen müssen. Ich selbst bleibe jetzt aber stur und sage, ich lerne nichts, was meine ursprüngliche Aussage abschwächen würde.
Aus der Kodependenz muss man herausfinden.
Lo - 18. Mai, 16:26

Eigentlich wollte ich lobend anmerken, wie gut diese Situation geschrieben ist.
Das ist mir aber zu wenig.
Ich bin berührt.

testsiegerin - 18. Mai, 20:53

danke, lieber lo.
la-mamma - 18. Mai, 21:27

heftig!

ich schätze, genauso läuft es mit dem wegschauenwollen. und selbstverständlich provozieren die opfer alles, was ihnen zustößt ...

Chris (Gast) - 19. Mai, 02:18

Das ist ein sehr guter Text, Mitten aus dem Leben, gratuliere...

testsiegerin - 19. Mai, 11:20

@ steppenhund, @ chris:

mir ging es auch nicht darum, irgendjemandem zu sagen, wie er oder sie leben oder empfinden soll. ob man verzeihen soll oder nicht.
ich hab diese szene für den theaterworkshop geschrieben und mir ging es lediglich darum, die spannungen in den figuren, die erst zu den spannungen zwischen den figuren führen, einzufangen. und ich glaub, dass wir ständig unter diesen spannungen stehen. liebe und hass, zuneigung und ablehnung, hoffnung und resignation.

steppenhund - 19. Mai, 13:39

Mir ist eigentlich nicht klar, wie mein erster Kommentar so missverstanden werden konnte.
Ich lese eine Geschichte und schreibe, wie ich mich in so einer Situation verhalten würde. Ich habe da kein "du sollst" etc. verwendet. Erst im heutigen Kommentar habe ich mich auf psychologische Ratschläge bezogen, die aber auch nicht von mir selbst stammen. Relata refero.
Ich verhalte mich ja bei anderen Geschichten nicht immer so, dass ich selbst in die Geschichte passen würde...
testsiegerin - 19. Mai, 14:28

so hab ich das auch verstanden, lieber steppenhund.
dass jeder andere gefühle und gedanken dazu hat. und dass es eben nicht darum geht, ob die richtig oder falsch sind.
erphschwester - 21. Mai, 23:13

dieser satz

"wenn du deine tage vorgetäuscht hast, ist er zu mir gekommen." das geht mir tief unter die haut.
neben allem anderen ist es die idee, dass das nicht nur ein billigendes in kauf nehmen, sondern ein bewusstes steuern war. tiefere abgründe lassen sich kaum denken.

testsiegerin - 27. Mai, 22:54

ich denke ja nicht, dass es ein bewusstes steuern ist. ich denke, es ist die eigene angst. die frau ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht wahrnimmt, was sie ihrer tochter antut.

ja, und es stimmt, tiefere abgründe lassen sich kaum denken.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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