Donnerstag, 1. November 2012

Oh du lieber Augustin

passend zum heutigen Tag

Wien ist ein Aphrodisiakum für Nekrophile
(André Heller)


Sibylle war gern hier. Der Zentralfriedhof war für sie der schönste Ort in Wien. Sie fühlte sich immer unverstanden, wenn Freunde von auswärts den Kopf schüttelten, weil sie ihnen als eines der Wahrzeichen den Wiener Zentralfriedhof zeigen wollte.
Sie war eine Frau in den besten Jahren, also knapp über vierzig. Dank einer sensationellen Anwältin erfolgreich geschieden, von ihrem Mann großzügig abgefunden und Eigentümerin einer stilvollen Altbauwohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Als Unternehmensberaterin hatte sie einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr Spaß machte. Mit ihrem Leben war Sibylle also ganz zufrieden. Aber neben dem Leben mochte Sibylle auch den Tod. Deshalb zog es sie immer wieder hierher. Bei schönem Wetter, denn sie liebte zwar die Trauer, aber die Kälte und Nässe hasste sie.
Am liebsten war sie am Friedhof, wenn Beerdigungen stattfanden. An diesen Tagen zog sie ihren schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und schwarze Strümpfe an und mischte sich unter die Hinterbliebenen.

Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
(Spinoza)



Sibylle bevorzugte Bestattungen mit sichtbarem, überwältigendem Schmerz. Der wurde am deutlichsten spürbar, wenn Kinder oder junge Menschen begraben wurden. Sie bekam Herzklopfen und weiche Knie, wenn eine Mutter von den Totengräbern zurückgehalten werden musste, weil sie ihrem Kind am liebsten in das offene Grab folgen wollte. Oder ein junger Mann am Grab stand, der gerade seine Frau verloren hatte und stumm weinte, während sein Gesicht Fassungslosigkeit, Schmerz und unendliche Liebe spiegelte. Und wenn die Kinder verloren und voller Fragen, die sie nicht zu stellen trauten, selbst gezeichnete Bilder in die Grube warfen.
Es war nicht so, dass sie Freude empfand oder Genugtuung, wenn sie Szenen wie diese beobachtete. Ganz und gar nicht. Auch Sibylle litt. Trotzdem, wenn ihr dann endlich die Tränen über die Wangen liefen, dann war da auch ein warmes sattes Gefühl, dessen sie sich nicht einmal schämte.

Quem dei diligunt, adulescens moritur - Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben
(Titus Maccius Plautus)

Die anderen Beerdigungen, die Sibylle so liebte, waren die, zu denen kaum Leute kamen. Oder höchstens eine Nachbarin oder eine entfernte Kusine, die völlig abwesend wirkten. Diese Abschiede waren viel einsamer als die Begräbnisse voller ohnmächtiger Verzweiflung der Liebenden. Wenn sie dann so hinter dem Sarg des Verstorbenen herging und das Laub unter ihren Füßen raschelte, entstanden in ihrem Kopf Geschichten. Da sah sie obdachlose Penner, erfroren vor Bahnhöfen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verschlossen blieben. Die alte Frau, die erst gefunden wurde, als Verwesungsgeruch durch den Briefschlitz drang. Den Studenten vom Land, der dem Tempo der Großstadt und dem Druck der Universität nicht standhielt und sich in seinem Untermietzimmer das Leben nahm.

Ich fürchte, dass mein Tod nicht bemerkt wird, außer durch meine zurückgelassene Unordnung.
(Armin Mueller-Stahl)


Zu Prominentenbegräbnissen ging sie nie und an den Ehrengräbern blieb sie nicht stehen. Sie mochte das einfache Leben und den einfachen Tod. Sibylle wusste von den Toten in der Regel nicht mehr als in den Todesanzeigen stand. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen, denn es waren nicht die wahren Geschichten, die sie so aufwühlten, sondern ihre erdachten.
Sie wollte dabei sein, wenn es um den Tod ging. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass es sie selbst wieder einmal nicht getroffen hatte.
Der Hang zur Morbidität floss seit jeher durch ihre Venen. Als kleines Mädchen war sie am liebsten bei der Tochter des Bestatters zum Spielen gewesen, schaurig fasziniert von den Särgen und den ernsten Mienen. Während andere Kinder dem Oster- und Weihnachtsfest entgegenfieberten, wartete sie sehnsüchtig auf Allerheiligen. Und wenn ihre Mitschülerinnen einander „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit´ren Stunden nur“ ins Poesiealbum schrieben, so entschied sie sich für Sprüche aus den Todesanzeigen.

Wie ein Blatt vom Baume fällt,
So fällt ein Mensch aus seiner Welt,
Die Vögel singen weiter.
(Matthias Claudius)



Oft malte Sibylle sich ihr eigenes Begräbnis aus. Eine richtig „schöne Leich“, wie man hier sagte, wollte sie. Alle in Schwarz und ein Kranz mit weißen Rosen auf dem Sarg. Mozarts Requiem. Totengräber mit langen zerfurchten Gesichtern. Die weinerliche Stimme von Pater Gregor, der die „liebe Verstorbene“ huldigte und Freunde, die ihr mit feuchten Augen ein Schäuferl Erde ins Grab nachschmissen, während der Geistliche sagte: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Und die Tränen würden in Strömen fließen.
Auf jeden Fall sollte keine kalte Platte aus Marmor auf ihr liegen. Nur feuchte, weiche Erde würde ihren Sarg bedecken. Und darauf wunderschöne Kränze mit rührenden Abschiedsworten auf den Trauerschleifen. „Wir werden dich nie vergessen“. Danach würden sie alle beim Wirten sitzen zum Leichenschmaus. Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat. Zur Nachspeise Apfelstrudel. Und viel Wein. Den würden sie auf Sibylle trinken. Die Traurigkeit müsste dann dem Lachen weichen und irgendjemand das Wienerlied „Es wird ein Wein sein, und wir wer´n nimmer sein...“ anstimmen. Wahrscheinlich der Onkel Franz.
Eigentlich schade, dass sie das alles nicht mehr erleben konnte.

Rien, je ne regrette rien
(Edith Piaf)


würde auf der Todesanzeige, die hier Partezettel hieß, stehen. Gleich neben dem Foto, das sie an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit Selbstauslöser auf dem Zentralfriedhof. Rien de rien. Ich bereue nichts.

*

„Die Angst vor dem Scheintod veranlasste Manchen anzuordnen, dass nach seinem Tod durch die Vornahme des Herzstichs die Möglichkeit des Lebendig-Begraben-Werdens ausgeschlossen wurde. Der Herzstich durfte jedoch ausschließlich von einem Arzt und erst nach der Totenbeschau vorgenommen werden“ , erklärte der Museumsreferent bestimmt schon zum tausendsten Mal.
Sibylle betrachtete gerade ein Stilett mit Holzgriffen und Stahlklinge, entstanden um 1900. Wenn der Spätherbst sich mit seinen feuchten kalten Nebeln über Wien legte, dann wurden Sibylles Besuche auf dem Friedhof seltener und die im Wiener Bestattungsmuseum häufiger.
„Sie sind nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?“ flüsterte ihr ein Mann zu, der sie schon eine ganze Zeit von der Seite betrachtet hatte. Erschrocken blickte sie auf.
„Ich?“ Sie lächelte verlegen und stammelte: „Nein ... ich ... wieso ... wie kommen Sie darauf?“ Sie fühlte sich ertappt.
„Oh!“ Er grinste liebenswert. „Ich habe ihre Lippen beobachtet. Und nicht nur, weil sie so schön rot sind, sondern, weil sie gleichzeitig mit dem Museumsführer seinen Text gesprochen haben.“
Sie schämte sich. Er würde sie jetzt wahrscheinlich für eine Verrückte halten, die nichts anderes zu tun hatte, als sich in ihrer Freizeit im Bestattungsmuseum herumzutreiben. Dabei stimmte das gar nicht, sie war ja meistens auf dem Friedhof. Die Geschichten hier waren zwar skurriler als die ausgedachten vom Friedhof, aber der Tod draußen fühlte sich lebendiger an.
Der Mann war etwas jünger als sie und sah gut aus. Groß und schlank war er und dunkelblond. Sibylle errötete und überlegte sich gerade eine überzeugende Erklärung, doch er sprach einfach weiter.
„Ein schönes Stilett, nicht wahr? Wussten Sie, dass Arthur Schnitzler und Johann Nestroy den Herzstich testamentarisch verfügt haben?“

Die Doctoren - selbst wenn sie einen umgebracht haben - wissen nicht einmal gewiß, ob man todt ist.
(Nestroy)


Natürlich wusste sie das, sie war ja nicht zum ersten Mal hier.
„Bösendorfer auch“, sagte sie und die Faszination am Tod hatte ihre vorübergehende Scham besiegt. „Sie wissen schon, der berühmte Klavierbauer.“ Er nickte. Er wusste. „Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen etwas!“ Sibylle nahm den Fremden einfach an der Hand und führte ihn in den Nebenraum.
„Mein Lieblingsstück“, sagte sie, als sie vor dem Josephinischen Gemeindesarg standen, einem Holzsarg mit Bodenklappen und einem Öffnungsmechanismus aus Schmiedeeisen.
„Der Verblichene wurde nackt in einen Leinensack genäht und in diesem Sarg deponiert. Dann wurde der Sarg auf das Grab gestellt, der Totengräber klappte den Boden auf und der Leinensack plumpste ins Grab hinein“, erklärte Sibylle voller Leidenschaft und er lauschte mit offenem Mund. „Sparpolitik anno 1784“, fügte sie noch lächelnd hinzu.
„Ich bin übrigens der August“, sagte er, noch immer mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Oh, der lieber Augustin!“, antwortete sie und sie strahlten einander an. Jeder hier kannte die mythische Figur des Sängers Augustin, der in einer Pestgrube übernachtete, um dann fröhlich weiter zu singen.
„Ich heiße Sibylle.“ Sie wollte ihm gerade die Hand entgegenstrecken, als sie bemerkte, dass sie die seine während des Monologs die ganze Zeit gehalten hatte.
„Komm, wir gehen wieder zur Gruppe, ja?“ Vorsichtig entzog sie sich ihm und schaute auf die Uhr. „Jetzt kommt nämlich gleich die grausige Geschichte von den Pestopfern.“
Der Museumsführer erzählte erst von der Pest und später von alten und neuen Beerdigungsriten. Sie lauschten und fühlten, wie ihre Herzen ein bisschen heftiger pochten als noch eine halbe Stunde zuvor. Und das lag nicht nur an den makabren Geschichten.

Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.
(Bundesreisekostengesetz 1973)


Draußen regnete es in Strömen. Sie standen da und sahen einander an. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“ fragte sie fast ein bisschen scheu.
„Nur, wenn du mich an der Hand nimmst.“
„Ich glaub, das geht“, sagte sie, griff nach seiner Hand und sie rannten zum Kaffeehaus um die Ecke und sangen dabei:

„Rock ist weg, Stock ist weg
Augustin liegt im Dreck,
Oh du lieber Augustin, alles ist hin“

Sibylle war nicht bloß zufrieden. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sibylle glücklich war.
„Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?“ fragte August, während sie ihm durchs nasse dunkle Haar strubbelte und die Tropfen in ihren Kaffee spritzen.
„Nein. Hab ich nicht.“ Ihre Antwort kam schnell, aber wenig überzeugend. In Wahrheit mischte Angst davor sich mit der Sehnsucht danach.
„Magst du Friedhöfe?“ fragte sie und er nickte.
„Ich bin oft auf dem jüdischen Friedhof in Währing“, sagte August. „Möchtest du nächste Woche mitkommen?“ Ja. Sie mochte.
Sie tranken ihren Kaffee und dachten nach. Und redeten. Über den Tod hauptsächlich. Aber, weil der Tod ein Teil vom Leben war, auch übers Leben. Und über den Sinn.

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.
(Antoine de Saint-Exupéry)



Sie waren oft in dem Kaffeehaus. Meistens an Freitagen, an denen das Wetter ihren Friedhofsbesuchen einen Strich durch die Rechnung machte.

Irgendwann, der Winter war längst vorbei, saßen sie wieder hier.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ Diesmal war es Sibylle, die diese Frage stellte. August fütterte sie mit Topfenstrudel und sagte zärtlich:
„Ja. Hab ich.
Vor deinem.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

Web Counter-Modul


Briefverkehr mit einem Beamten
Erlebtes
Femmes frontales
Forschertagebuch
Gedanken
Gedichte
Geschichten
Glosse
In dreißig Tagen um die Welt
Kurzprosa
Lesungen
Menschen
Sex and the Country
Toll3ste Weiber
Vita
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter