Ich schaue in den Spiegel und durch ihn hindurch. Ich sehe mich, vor dreißig Jahren.
Fasziniert betrachte ich die Person, die mir entgegenblickt.
Nicht mehr Kind und noch nicht ganz Frau. Große Klappe und großes Herz, aber beides kann man im Spiegel nicht sehen. Ein freches Mädchen sehe ich, mit weiblichen Brüsten und kindlichen Sehnsüchten. Nach der ewigen Liebe, der Leichtigkeit des Seins und dem ersten Sex. Dem, der das Leben verändern wird.
Ich habe mich nicht weiterentwickelt, erkenne ich mit Schrecken. Die Träume und Sehnsüchte sind dieselben geblieben, abgesehen vom ersten Sex.
Ein starkes, schlampiges, stolzes Mädchen sehe ich im Spiegel, eines, das vor Selbstsicherheit strotzt. Ich lächle sie aufmunternd an, denn ich weiß, wie sie sich hinter dieser Schicht, die keine Fassade, sondern Teil von ihr ist, fühlt, wie unsicher und schwach. Ich weiß, dass sie damit hadert, dass die meisten in ihr nur die Starke, die Wilde, die Rebellin sehen und ihr weiches Herz dahinter nicht begreifen.
Eine zornige, nachdenkliche Frau blickt mich an, eine neugierige und schlagfertige Frau, zu deren besten Freunden Bücher gehören. Eine Frau, die das Spiel mit der Sprache liebt.
Eine, die ständig zwischen den Polen pendelt. Zwischen stark und schwach. Laut und leise. Diese Polarität zieht sich an und stößt sich ab, erzeugt Strom und Spannung. Diese Ambivalenz, dieses Hin- und Hergerissensein macht sie natürlich auch spannend, aber das weiß sie nicht. Das weiß nur ich, aus der Distanz.
Eine junge Frau sehe ich, die geliebt werden will. Am liebsten will sie von allen geliebt werden, sogar von denen, die sie selbst nicht liebt. Sie will anders sein und ist es wohl auch. Manchmal heult sie sich in den Schlaf, weil sie anders ist. Und weil es eine Tatsache ist, dass die, die so anders sind als die Anderen, meistens nicht dazugehören. Das aber ist auch so eine dieser verdammten, kindlichen Sehnsüchte. Dazugehören. Nicht um jeden Preis, nein. Nicht um den Preis der Anpassung. Wie diesen Spagat schaffen, fragt die Frau im Spiegel sich Tag für Tag.
Plötzlich merke ich, dass irgendetwas in diesem Blick, der sich mir zurückwirft, anders ist als das Bild in meiner Erinnerung. Da ist mehr Zweifel. Weniger Optimismus. Mehr Abgeklärtheit. Oder mehr Klarheit?
Je genauer ich schaue, umso mehr Unterschiede erkenne ich.
„Warum starrst du mich eigentlich so an?“, fragt meine Tochter, berührt mich und das dünne Glas zwischen uns zerbricht.
testsiegerin - 1. Dez, 19:21
Bumm. Bumm. Bumm. Sascha schlug einen Nagel ein, um das Bild aufzuhängen, das sie für ihn gemalt hatte. Sie stand daneben und freute sich wie ein kleines Kind. Bumm. Bumm. Bumm.
Sascha war tot, fiel ihr im Halbschlaf ein. Seit knapp einem Jahr schlug sein Herz nicht mehr. Also konnte das Hämmern gar nicht von ihm sein. Sie wollte nicht aufwachen. Sie wollte ihm weiter zuschauen, wie er den Nagel einschlug, das Bild an die Wand hängte, einen Schritt zurück stieg und sein und ihr Werk bewunderte. Sie wollte ihm dabei zuschauen, wie er seine Wohnung langsam zu ihrer gemeinsamen machte.
Das Pochen wurde heftiger. Ihr Herzklopfen auch. Da war sie wieder, die Angst. Damals hatten sie auch geklopft, als es draußen noch dunkel war. Damals hatten sie ihr mit ernsten Gesichtern gesagt, dass sie jetzt ganz stark sein müsse.
Sie schälte sich aus der Geborgenheit des Sessels, seines Sessels, in dem sie einige Stunden zuvor in eine Decke gekuschelt eingeschlafen war. Im langen T-Shirt öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
Zwei groß gewachsene Männer standen vor der Tür, in altmodischen Mänteln, mit altmodischen Aktentaschen und mit ihrem amtlichen Abzeichen auf dem Revers.
„Gerichtsvollzieher!“ dröhnte es durch das ganze Haus, obwohl sie längst direkt vor ihnen stand. Allmählich gingen auch die Türen der Nachbarn auf.
Vier Augen starrten auf ihre mageren Beine. Sie öffnete die Sicherheitskette und ließ sie die Männer ein.
Ein kalter Luftzug drang in die Wohnung ein und setzte sich darin fest. Mechanisch griff sie nach dem Kleidungsstück auf der Kommode und wickelte sich darin ein. Es war seine Lieblingsweste gewesen. Sie passte dreimal rund um ihren Körper und ging ihr bis zu den Knien. Jetzt würde sie sie beschützen.
Die heruntergeleierten Sätze, die die Männer zu ihr sagten, prallten an der dicken Wollweste und der dünnen Haut darunter ab. Nur ab und zu drangen ein paar nadelspitze Wörter durch den dicken Wollschutz.
Bezirksgericht
Exekutionstitel
Zwangsversteigerung
Vor Jahren hatte sie die alte Mühle gekauft, mit ihrem Exmann. Ein Ort der Begegnung und der Kunst hätte sie werden sollen. Aber dann kam die Rezession. Die in der Ehe zuerst. Zunächst wurden die Worte weniger und dann die Liebe. Dem Einbruch in ihrer Beziehung folgte der wirtschaftliche.
Die Mühle wurde weit unter ihrem Wert verkauft, und auch ihre Bilder verkaufte sie zu Schrottpreisen, um Miete und Strom für die Mietwohnung bezahlen zu können. Und neue Farben für neue Bilder, die niemand kaufte, zu kaufen. Später sparte sie bei den Farben und malte nur noch graue Bilder. Trotzdem reichte das Geld nicht für die Kreditraten.
Sie flehte, sie bittete und sie bettelte. Vergebens. „Sie müssen verstehen“, hatten die adretten Bankbeamten in ihren adretten Anzügen freundlich gelächelt und gesagt: „Eine Bank ist nicht die Caritas.“
Die beiden Riesen betrachteten ein wenig mitleidig die Einrichtung und machten Notizen. Es gab nicht viel in dem großen Zimmer, das zugleich Wohnung und Atelier war. Leinwände, Farben und Pinsel. Ein paar Bücher.
Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie sah, wie sie die Play-Station notierten. Das Weihnachtsgeschenk für ihren Sohn.
Nicht weinen. Nicht ausflippen. Ruhig bleiben. Sollten sie doch ihren DVD-Player versteigern, ihren Stolz ließ sie sich nicht nehmen. Nicht ihre Würde. Nicht das, was noch übrig war davon.
Sie konnte die Gedanken in den Köpfen der Männer hören. Arbeitsscheues Künstlerpack. Nichtsnutz. Versagerin.
Sie kroch tiefer in die Weste und spürte die schöne warme Zeit mit Sascha. Die viel zu kurze Zeit mit Sascha. Er hatte nicht gegeizt, nicht mit Worten, nicht mit Geschenken, vor allem aber nicht mit Aufmerksamkeit. Trotzdem mischte sich manchmal Wut in die Trauer. Es hatte kein Testament gegeben. Alles was er besaß, und das war neben seinem großen Herzen und dem scharfen Verstand noch einiges, gehörte jetzt seiner Schwester. Auch die Eigentumswohnung, aus der sie demnächst rausmüsste.
Nur ein paar persönliche Dinge und den alten Polstersessel hatte die Schwester nicht gewollt. Seinen massigen, weichen Sessel.
Den, an den sie sich jetzt klammerte, um nicht den Halt zu verlieren.
Den, den sie jetzt aufschrieben.
testsiegerin - 23. Nov, 17:43
Anlässlich des heutigen Welttoilettentags stell ich diese Geschichte noch mal rein:
„Wir sind gleich auf Sendung.“ Der Kameramann richtete das Objektiv auf Lieselotte Pfeffer. Die trat ihre Zigarette aus, fuhr sich nervös durchs kurz geschnittene Haar und drückte sich den Stöpsel tiefer ins Ohr.
„Grüß Gott und guten Abend bei Überall Daheim. Ich begrüße Sie herzlich aus Ried, der charmanten Messestadt im Innkreis. Über unser heutiges Thema werden Sie vielleicht schmunzeln, aber es ist ernster als es im ersten Moment scheint. Es geht um etwas, dass wir alle tun müssen. Nein, nicht sterben, nicht Steuern zahlen, sondern aufs Klo gehen. Überall daheim ist heute zu Gast beim Gründungstag der Ö.T.O., der Österreichischen Toilettenorganisation.“
Lieselotte lächelte und schob verschmitzt die Zungenspitze in den Mundwinkel. „Herr Peter Strobel.“ Sie wandte sich an ihren Interviewpartner und versuchte ernst zu bleiben. „Sie sind Gründungsmitglied und erster Obmann der neuen nationalen Toilettenorganisation. Was war denn Ihr Motiv, unter dem Deckel... Verzeihung, unter dem Dach der World Toilet Organization aktiv zu werden?“
„Es geht um ein Problem, das zum Himmel stinkt“. polterte Peter Strobel ins Mikrofon, „es war einfach an der Zeit, es anzupacken. Denn Toilette bedeutet Würde.“
„Da wollen wir mal hoffen, dass das kein Griff ins Klo wird, Herr Strobel. Was genau haben Sie vor in Österreich?“
„Schau’n Sie, gnädige Frau, wir leben hier nicht auf einer Insel der Seligen, klotechnisch gesehen. Jeder von uns muss manchmal in der Fremde nötig aufs WC und landet dabei in einem schäbigen Autobahnklo oder auf einem unwürdigen öffentlichen Abort. Damit muss endlich Schluss sein.“
Herr Strobel faselte noch begeistert von der Notwendigkeit, das Thema Toilette aus dem Tabubereich zu holen und Lieselotte nickte wissend. Mit Tabus kannte sie sich aus. Vor zwei Jahren hatte sie für ein Magazin der Landespensionistenheime vom Geriatriekongress über Blasen und Inkontinenz berichtet. Erst seit ein paar Wochen arbeitete sie für das Regionalfernsehen. Damals noch Da.heim, heute schon Überall Daheim, dachte Lieselotte sarkastisch. Was für eine Karriere.
„Vielen Dank, Herr Strobel. Ich habe das Gefühl, Sie wissen, wovon Sie reden. Liebe Zuschauer, damit auch Sie wissen, wovon wir reden, betreten wir jetzt den Tatort. Meine Damen daheim, seien Sie tapfer - folgen Sie mir aufs Männerklo.“
Lieselotte verzog das Gesicht in einer Mischung aus Abscheu, Neugier und Spott. Gefolgt von der Kamera, öffnete sie die Tür mit dem männlichen Emblem und steuerte zielstrebig auf die Stehbecken zu.
„Wird das ein Dogma-Film?“, tönte es wütend aus dem Ohrstöpsel. „Das Bild ist ja völlig verwackelt.“
Der Kameramann schüttelte sich vor Lachen. Drei Urinale waren an der Wand befestigt, und über jedem hing ein Schild. Bier über dem linken, Wein über dem rechten und Alkoholfrei über der mittleren Muschel.
Ein Mann nestelte am Reißverschluss seiner Hose herum und schwankte zwischen den Urinalen hin und her. „Ich hab zuerst einen Radler getrunken und dann einen doppelten Schnaps“, lallte er verzweifelt. „Wohin mit mir?“
Eine Viertelstunde später saß Lieselotte im Sitzungssaal. Sie hatte sich für Wein entschieden. Da die Qualität der Redebeiträge sich dem Thema angepasst hatte, betrachtete sie eingehend die Zuhörer, um nicht einzuschlafen. Die Frauen waren in der Minderheit und trugen überwiegend Kostümjacken in lindgrün oder zartorange. Die vielen Männer waren nicht besonders attraktiv, zu alt, zu dick oder zu geleckt. Auch das Publikum passt zum Thema, entschied Lieselotte. Ein Schlag gegen ihre Rückenlehne schreckte sie auf.
„Vergeving!“, sagte die Männerstimme direkt hinter ihr.
„Pfeffer“, flüsterte Lieselotte, drehte sich um und erschrak. Der dunkelgelockte Kerl war weder alt noch dick. Das Hemd hing lässig aus seinen Jeans und Lieselottes braune Augen blieben in seinen grünen hängen.
Er war so attraktiv, dass es schon kitschig war.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht...“ Er zögerte. „Wie sagt man? Gebumst?“
Sie lachte. „Ja, das sagt man. Aber nicht dazu.“
„Jan van Groningen. Ich bin Holländer.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wozu sagt man denn gebumst?“
„Lieselotte“, sagte Lieselotte und leckte sich über die Lippen. „Wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen das erkläre?“
Er nickte. „Aber nicht hier. Gehen wir raus?“
Mit Weinglas und Notizblock schlichen sie kichernd an den anderen Gästen vorbei und zur Tür hinaus. Beim Anblick von Jan und den Köstlichkeiten am Buffet lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie klaute eine mit gebratenem Speck umwickelte Dörrpflaume.
„Also lassen Sie uns anbumsen“, prostete er ihr zu, „auf einen schönen Abend.“
„Proost. Op uw gezonheid!“
„Sie praaten Nederlands?“
„Nein. Nur ein paar Worte, und selbst von denen weiß ich nicht, was sie bedeuten. Zum Beispiel: Neuken in de Keuken.“
„Oh ja. Wissen Sie, wo hier die Küche ist?“
„Leider nein. Aber können Sie mir vielleicht verraten, was neuken bedeutet?“ Lieselotte war inzwischen ziemlich beschwipst und öffnete heimlich die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides.
„Neuken bedeutet... nun ja...“ Jan grinste sie dreist an.
„Bumsen?“ Sie beugte sich so über das Buffet, dass er ihr in den Ausschnitt schauen musste.
„Die Fleischbällchen sehen wirklich verlockend aus“, raunte er ihr zu.
„Greifen Sie nur zu, Jan van Groningen. Hier gibt’s heute alles kostenlos.“
„Wenn die Herrschaften bitte warten würden, bis das Buffet eröffnet ist“, schalt der Oberkellner sie. Lieselotte räusperte sich und wandte sich wieder Jan zu.
„Was treibt einen Mann wie Sie zur Versammlung eines österreichischen Klo-Vereins? Lächerliche Veranstaltung, finden Sie nicht?“
Lieselotte war Expertin im Fettnäpfchenhüpfen, denn Jan antwortete: „700 Millionen Inder leben ohne Toiletten. Aber auch bei uns in Holland ist überall große Notdurft. Wir wollen die Nederlandse Toilet Organisatije gründen. Ich bin hier zu holen ein paar Inputs.“
„Also, ich werde dann besser gehen“, stammelte Lieselotte, „war schön, Sie kennengelernt zu haben.“
„Langzaam, Lieselotte. Als Sie sich gar nicht für die Welt der Toilette interessieren, was machen Sie dann hier?“
„Nun ja. Ich bin Überall Daheim.“ Sie wartete einen Moment um Jans neugierigen Blick auszukosten. „So heißt die Sendung, die ich moderiere. Fürs Regionalfernsehen. Ich bin Journalistin.“
Selbstverständlich war Lieselotte heute ebenso wenig Journalistin wie vor Jahren, als sie noch bei der schreibenden Zunft arbeitete. Sie hielt lediglich ein Mikrofon in der Hand und quasselte hinein, was die Leute hören wollten.
„Journalistin?“
„Ja. Journalistin.“ Sie sonnte sich stolz im Ruhm der Pulitzer-Preisträger.
Jan machte eine abwertende Handbewegung. „Sie haben Recht, es war nett. Tot ziens.“
Wie bitte? Lieselotte traute ihren Ohren nicht. Erst fielen seine grünen Augen förmlich in ihr Dekolleté und jetzt ließ er sie einfach gehen, ohne um sie zu kämpfen? Was bildete dieser Käsefresser sich ein?
Wütend schritt sie zur Garderobe und nahm Mantel und Tasche entgegen. Sie spürte die Blicke von Jan, der an einer der Säulen im Foyer lehnte und sie beobachtete. Als sie einen Blick nach hinten warf, wurde ihr schummrig. Noch immer hing der linke Hemdzipfel schlampig aus seiner Hose. Lieselotte machte kehrte und blieb vor ihm stehen.
„Ich habe nichts gegen Klos", sagte sie. "Könnten Sie mich nicht bitten, noch ein bisschen zu bleiben?“
„Warum?“
„Weil Sie ...“, Lieselotte erinnerte sich an ihr Erlebnis am Geriatriekongress. Was würde Jan von einer Frau halten, die so um seine Aufmerksamkeit bettelte und ihm Honig ums Maul schmierte? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, Frau Pfeffer, beschwor sie sich und richtete sich auf, „ach, ganz einfach, weil ICH interessant bin und witzig. Halbwegs intelligent. Vielleicht sogar attraktiv.“
„Ja, vielleicht.“ Er musterte sie.
„Vielleicht? Was soll das heißen?“
„Das haben Sie gesagt.“
„So, hab ich das?“
„Ja.“
„Und was sagen Sie?“
„Wahrscheinlich sind Sie attraktiv.“
„Nur wahrscheinlich?“
„Nun ja. Ich habe noch nicht alles gesehen.“
„Wollen Sie mich etwa zum Objekt Ihrer stochastischen Methoden machen?“
„Oh nein. Ich mag keine Gewalt beim Sex.“
Lieselotte lachte laut. „Stochastik ist Wahrscheinlichkeitsrechnung.“ Vor Jahren hatte sie Berichte für das Informatikermagazin Unberechenbar geschrieben. Wenn er sie schon nur wahrscheinlich attraktiv fand, dann hielt er sie jetzt ganz sicher für halbwegs intelligent.
„Wie wäre es, wenn Sie sich bald entscheiden würden, Lieselotte?“
„Wofür?“
„Ob Sie gehen oder bleiben. Ich werde Sie gewiss nicht darum bitten. Sie sind eine erwachsene Frau. Sie werden wohl selbst am besten wissen, was gut für Sie ist.“
„Na gut.“ Sie kam ihm sehr nahe. „Wenn Sie so darauf bestehen, dann bleibe ich eben.“
„Gehen wir?“, fragte er.
„Wohin?“
„Zur Toilettenausstellung. Vielleicht. Oder in mein Hotelzimmer. Ihre Entscheidung.“
„Wie Sie schon bemerkt haben dürften, interessiere ich mich nicht für Toiletten.“
„Interessieren Sie sich denn für mein Hotelzimmer?“
Lieselotte leckte sich amüsiert über die Lippen. „Vielleicht.“
Sie drückte ihm zwei Gläser und eine Flasche Sekt vom Buffet in die Hand. Am Treppenabsatz schlüpfte sie aus ihren Stilettos. Es wäre ein denkbar ungeeigneter Moment gewesen, um sich den Fuß zu brechen.
„Und? Gefällt es Ihnen?“, fragte er zwei Stockwerke höher.
„Wahrscheinlich. Ich habe ja noch nicht alles gesehen.“
„Werden Sie auch nicht.“
Jan ließ die Jalousien herunter und schaltete das Licht aus.
Unter ihren Füßen fühlte Lieselotte den weichen Teppich, in ihrem Nacken Jans Atem und an ihren Hüften Hände, die sie zu ihm drehten.
Durch die plötzliche Dunkelheit nahm sie nicht einmal seine Konturen wahr und tastete mit ihren Fingern nach seinem Gesicht.
Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit zu ihrem Hintern, von dort weiter abwärts bis zum Saum ihres Rockes und an der Innenseite ihrer Schenkel wieder hinauf.
.„Du fühlst dich verdammt schön an“ flüsterte Jan.
Jetzt zog sie das Hemd vollends aus seiner Hose und berührte seine Haut.
„Was willst du, Lieselotte?“
Sie schluckte. „Glück. Gesundheit. Und mehr Geld. Oder wenigstens das ewige Leben und den Weltfrieden.“
„Ich mag bescheidene Frauen. Und was willst du jetzt?“
„Hmmm...“
„Komm, nimm dir, was du willst.“
„Würde ich ja gern. Aber ich finde den Sekt im Dunkeln nicht.“
„Dann musst du darauf warten, bis ich das Licht wieder anmache.“
„Wann machst du es wieder an?“
„Wenn wir fertig sind mit Bumsen.“
„Gut. Aber beeil dich, bitte.“
Wahrscheinlich hätte Jan sich beeilt, wenn Lieselotte ihn gebeten hätte, ganz langsam zu machen. So aber sah er keine Veranlassung zur Eile, sondern nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Zärtlich, lustvoll und ein kleines bisschen gierig. Sehr gierig, um ehrlich zu sein.
Lieselottes Finger waren noch immer unter seinem Hemd und krallten sich in seinen Rücken. „Darf ich dich kratzen?“ fragte sie leise, als seine Zunge ihren Mund wieder verlassen hatte.
„Warum fragst du?“
„Ich will nicht, dass du Ärger kriegst.“
„Kratz nur. Darf ich auch?“
Lieselotte antwortete mit wohligen Lauten der Zustimmung, als sie Jans Fingernägel in der Haut spürte. Irgendwann hörten Jans Finger auf zu kratzen und begannen zu streicheln. Irgendwann wurden Lieselottes Knie so weich, dass Jan sie aufs Bett legte, wo er langsam weiterstreichelte. Irgendwie war er plötzlich in ihr und die wohligen Laute wurden lauter.
Und irgendwann nach dem Sex gab es Licht und Sekt.
„Bleibst du heute Nacht bei mir, Lilo?“
Sie nippte und nickte. „Ja. Mein Sohn schläft bei einem Freund.“
„Und...“, er zögerte, „... und gibt es einen Mann in deinem Leben?“
„Es gab. Aber wir hatten unterschiedliche Vorstellungen. Nicht nur vom Geschirrspülen.“
Er küsste sanft ihre Brüste. „Das war eben wunderschön mit dir.“
„Du darfst das gern wiederholen, Jan. Nach dem Sex ist vor dem Sex.“
„Bist du auf Entzug? Wann hattest du denn zuletzt?“
„Gestern.“ Sie grinste frech. „Leider allein.“
„Erzähl mir davon“, forderte er sie auf. Lieselotte errötete und wandte ihr Gesicht ab.
„Nein. Schau mich bitte an, wenn du es mir erzählst.“
„Nun ja, ich war im Funkhaus. Und ich musste einen Beitrag über die finnische Sauna vorbereiten, da hab ich plötzlich wahnsinnig große Lust gekriegt und konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Also bin ich aufs Klo und ...“
„Auf’s Klo?“
„Ja. Dort hab ich meine Ruhe. Ich lehn mich da ganz entspannt gegen die Wand.“
„Tust du das oft?“
„Nun ja.“ Sie spürte seinen Blick.
„Da siehst du, wie wichtig saubere, gemütliche und hygienische Toiletten sind. Am schönsten sind übrigens die japanischen. Wahlweise mit Musik oder Vogelzwitschern. Da hört dich auch niemand.“
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. „War ich so laut?“
„Gerade richtig laut, Lilo. Zeigst du mir, wie du es dir machst, an die Wand gelehnt?“
„Jetzt? Um Himmels Willen. Ich bin doch keine Dreißig mehr.“
„Keine Sorge, ich auch nicht. Darf ich dich wecken, wenn ich vor dir wach bin?“
Sie nickte. „Wann musst du wieder heim, Jan?“
„Keine Ahnung. Weißt du, Lilo“, er küsste sie auf die Stirn, „irgendwie bin ich überall daheim. Bei dir ganz besonders.“
testsiegerin - 19. Nov, 16:58
Auf besonderen Wunsch stell ich diese (alte) Geschichte noch einmal rein. (und wahrscheinlich genauso schnell wieder raus)
„Ihr Sohn wird keine normale Schule besuchen können“, sagt die Psychologin lapidar, nachdem sie drei Wochen lang getestet und ausgewertet hat. Die Uhr im Ambulatorium für Entwicklungsdiagnostik tickt. Lauter als sonst. Ich habe zwei Minuten Zeit, noch etwas zu sagen. Ich sage nichts.
Keine normale Schule. Kein normales Kind.
Minimale Cerebrale Disfunktion.
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperkinetisches Syndrom. ADHS.
Wahrnehmungsstörungen.
Umleitungen im Gehirn.
Wir haben keinen Albert Einstein erwartet. Kinder, die mit sechs noch nicht wissen, wie viel eins und eins ist, werden selten Nobelpreisträger.
Wir haben keinen Hermann Maier erwartet. Kinder, die mit sechs noch nicht auf einem Bein stehen können, werden selten Olympiasieger.
Ein ganz normales Kind haben wir erwartet. Eins, das es leicht haben wird im Leben. Eins, das so schön und so klug ist wie die Mama und so stark und geschickt wie der Papa. Eins, das viele Freunde hat, die zum Geburtstag kommen. Eins, das in der Fußballschülerliga mitspielt und verschmitzt vom Maturafoto lächelt.
Grad der Behinderung: 60 von Hundert, steht im Bescheid vom Finanzamt.
„Und dann prägt dir einer diesen Stempel auf die Stirn....“, singt Konstantin Wecker und das Geld ist ein schwacher Trost.
Die Finanzbeamtin weiß nicht, dass ich mich Nachts in den Schlaf heule. Die Psychologin weiß nicht, dass ich das Gefühl habe, als Mutter versagt zu haben. Die Schuldirektorin weiß nicht, dass die starke, stolze Frau, die da vor ihr steht und wie eine Tigerin kämpft, sich schwach und hilflos fühlt.
Mein Mann weiß nicht, was in mir vorgeht. Aber er hält mich fest und sagt: „Wir lieben nicht das Bild von ihm, sondern ihn. So wie er ist.“
Warum ist für ihn so einfach, was für mich so schwierig ist?
Es heißt Abschied nehmen. Abschied von Illusionen. Abschied von Träumen. Abschied von einem Stück Perfektion, das es nicht gibt.
Es ist nur ein Satz. „Ihr Sohn wird keine normale Schule besuchen können.“
*
„Ihre Tochter hat Tourette-Syndrom“, sagt der Arzt. Wir sind in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung des Krankenhauses. Mein Kind tict. Lauter als sonst. „Sie haben keine Schuld“, sagt er. „Niemand hat Schuld.“ Ich schlucke und schweige. „Wird sie eine normale Schule besuchen können?“
„Ich habe Tics, aber sie haben mich nicht“, sagt meine Tochter, wenn andere Kinder sie fragen, warum sie so zuckt. Und Worte ups sagt, die ups ganz bestimmt nicht ups an dieser Stelle ups in den Satz ups gehören.
„Das ist so ähnlich wie Schluckauf, nur im Gehirn“, erklärt sie der Verkäuferin, die ihr kein Kipferl geben will, weil sie nicht aufhört, den Kopf zu schütteln.
Grad der Behinderung: 60 von Hundert, steht im Bescheid des Finanzamtes. Es tut wieder weh. Aber man gewöhnt sich sogar an das Gefühl des Versagens.
„Sie schreibt wunderschöne Aufsätze“, sagt die Lehrerin.
Meine Tochter besucht eine normale Schule. Sie ist intelligent, aber faul. Ganz die Mama. „Auch Mozart hatte Tourette“, sagt der Arzt. „Ihre Tochter kann sogar Nobelpreisträgerin werden.“
Meine Kinder sind nicht normal. Normalität ist der Trott der Masse als Maßstab für alles. Ich liebe die Abweichung. Ich liebe meine Kinder.
Ich bin nicht normal. „Mama, sei doch ein bisschen anders“, sagt meine Tochter, wenn ich beim Nudeln kochen tanze und lache. „So wie die andern.“
Und auf die Frage, ob sie wirklich eine ganz normale Mama wolle: „Bist deppert?“
testsiegerin - 11. Nov, 21:45
Die Testsiegerin goes Germany. Vielleicht sind ja ein paar von euch in der Nähe.
Lesung: "Kein Blatt vor den Mund - Auch nicht im Herbst"
Werkstatt Kassel e.V.
Friedrich-Ebert-Str. 175
Samstag | 15 | 11 | 2008
Beginn: 20:00 Uhr
Eintritt frei
testsiegerin - 10. Nov, 09:15
Die strahlende Frau
auf der vergilbten Kinderzeichnung
war mal sie
Damals war der Lack
von den roten Stiefeln
noch nicht
ab/gebrochen
nicht das Herz
ungetrübt der Blick
Mit schwarzen Filzstiften
malt sie dicke Wolken
in den blauen Himmel
und dunkle Regentropfen
über ihren Kopf
Vielleicht sollte ich mich
einfach ausradieren
verschmiert sie mit dem Stück Gummi
lustleidend ihre Konturen
Kein Kummer mehr
und kein Schmerz
Immer dünner
wird das Papier
dem Zerreißen nahe
Das ist mein Bild
brüllt das Kind
vor Kummer und Schmerz
Du hast kein Recht es zu kaputten!
Mit neongelbem Leuchtstift
malt es trotzig
fette Sonnenstrahlen
zwischen die Regentropfen
Mit blutrotem Nagellack
ein Lächeln auf
Stiefel und Lippen
und unendlichen Scham
in ihre Seele
testsiegerin - 8. Nov, 09:38
Haben Sie ein Problem?
Nein?
Brauchen Sie eins?
Unser schlimmstes Problem ist nämlich angeblich die Zufriedenheit, denn sie erzeugt Langeweile im Leben.
Keine Herausforderungen – kein Glück. So einfach ist das.
Shit. So ein blöder Schweizer war schneller als ich, obwohl ja die Schweizer nicht für ihre Geschwindigkeit, sondern eher für die Präzision und die Löcher bekannt sind.
Auf jeden Fall verkaufen die auf
http://www.needaproblem.com Probleme. Für Leute die sonst schon alles haben.
Man kann wählen zwischen trivialen, einfachen, normalen, schwierigen und fast unlösbaren Problemen. So ein Miniproblemtscherl gibt’s schon für einen Schweizer Franken, für ein fast unlösbares Problem muss man 5000,- hinblättern.
Ich vermute, die Probleme, die einem da geschickt werden, sind völlig unpersönlich und anonym. Wahrscheinlich irgendwelche komplizierten Matheaufgaben oder computertechnisches Zeugs. Männliche Probleme halt, welche zum Lösen. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn hat man dieses Problem mal gelöst, steht man vor einem neuen. Nämlich vor dem, dass man kein Problem hat.
Ich hab jetzt meine eigene Problemhandlung eröffnet. Für vorwiegend weibliche Probleme, an denen man lange, wenn nicht ewig nagt. Schließlich singt sogar Annette Louisan: „Geh mir weg mit deiner Lösung, sie wär der Tod für mein Problem!“ Aber auch Männer sind herzlich bei mir willkommen, wenn sie sich richtigen Herausforderungen stellen möchten.
Ich habe in meinem kleinen Problemladen weit mehr Auswahl und Problemvielfalt als diese Schweizer. Und bei mir würden Sie nicht die Sacke im Katz kaufen, Sie können meine – vielleicht bald Ihre? – Probleme anschauen, anfassen und anprobieren. Bei mir gibt es unter anderem Alltagsprobleme der Sorte „Wie-kriege-ich-Job-und-Familie-unter-einen-Hut“, ideal für Arbeitgeber. Bei mir gibt’s aber auch politische und sehr, sehr persönliche Probleme, gelegentlich sogar solche sexueller Natur. Und dann hätten wir da natürlich noch Kardinalprobleme, Schlüssel-, Zeit- und Zukunftsprobleme. Sogar brennende Probleme führen wir.
Meine finanziellen Probleme sind am teuersten, aber es gibt bestimmt ein paar potentielle Kunden, für die sie nicht unlösbar sind. Für mich wären sie jedenfalls gelöst, wenn sie mir jemand abkauft.
Aber keine Sorge, es wäre trotzdem noch genug für alle anderen da. Zellulitis? Ein paar Kilo zu viel? Probleme mit den Zähnen? Durchaus leistbar.
Probleme im Job? In allen Größen vorrätig. Beziehungsprobleme? (Ich weiß, die sind schon ein bisschen verstaubt, ich muss gestehen, die sind ein echter Ladenhüter, offenbar gibt’s die am Markt im Überangebot, das drückt die Nachfrage und den Preis.)
Was hätten wir da noch?
Probleme mit dem Selbstwert. Die fallen in die Gruppe Beinaheunlösbar. Erziehungsprobleme mit Pubertierenden? Ein Longseller für Kinderlose.
Vielleicht fragen Sie mich jetzt: Haben Sie keine anderen Probleme?
Aber ja doch, hab ich. Die Auswahl ist beinahe grenzenlos. Meine Disziplinlosigkeit, meine Sucht, geliebt zu werden, Probleme mit einer Kollegin, der mein Schweinsbraten stinkt, dem Finanzamt, einem Zivildiener, dem Chaos oder Katzen, die aufs Sofa pinkeln.
Ich habe aber nicht nur eigene Probleme im Sortiment, sondern auch die meiner Kinder. Ja, ihre Probleme sind auch meine (Und meine hoffentlich bald Ihre). Wenn Sie also Probleme mit Hausaufgaben, mit Mathematik oder damit, dass Sie endlich einen Freund wollen, brauchen: Bei mir sind Sie an der richtigen Adresse.
Als Sachwalterin werden mir ja täglich unendlich viele Probleme anvertraut.
Hier hängen sie alle, treten Sie ein, schauen Sie sich in Ruhe um, bestimmt ist auch etwas für Sie dabei.
Wollten Sie immer schon mal eine Vorstrafe haben? Hätten Sie gern zu wenig Geld? Möchten Sie Probleme mit Angehörigen, die Sorge haben, dass Sie Ihr Vermögen dem Tierschutzheim oder Opus Dei spenden? Lust auf eine PEG-Sonde? Oder das Problem, im Pflegebett fixiert zu sein, damit Sie nicht nach dem Fallen, sondern im Liegen sterben? (Das zählt auch eher zu den kostspieligen Herausforderungen.)
Sie sehen, es ist wirklich für jeden Geschmack etwas dabei.
Und das Beste: Es liegt einzig und allein an Ihnen, was Sie mit meinen Problemen machen. Auf die lange Bank schieben? Kritisch beleuchten, in den Raum stellen, erörtern, entwirren. Von mir aus können Sie sie auch bewältigen oder lösen. Ihr Problem, wenn Sie danach keine Probleme mehr haben. In diesem Fall können Sie aber zu einem Stammkundenrabatt gern neue kaufen.
Wir liefern übrigens prompt nach Zahlungseingang. Umtausch ist ausgeschlossen.
testsiegerin - 3. Nov, 21:55
... liebe Leser und Leserinnen, liebe Zuhörer und Zuhörerinnen,
keine Angst, das wird keine Publikumsbeschimpfung.
Aber ein bissl komisch seid ihr schon, das müsst ihr zugeben.
Texte, an denen ich wochenlang säge, hoble, schleife und feile, nehmt ihr gleichültig und ohne große Emotionen zur Kenntnis. (Wie die Woche im Bett, zum Beispiel, oder die Geschichten des jungen Römers.) Dahingerotzte Briefe ans Leben, bescheuerte Briefe an Bäume hingegen oder wütende Wortausbrüche scheint ihr zu lieben. Gedichte mit schlechten Reimen, die ich nur schreibe, um mir die Langeweile und die Phantomzahnschmerzen zu vertreiben, findet ihr witzig, manche Wortspiele und Metaphern, über die ich lange nachgedacht und noch länger geschrieben hab, bemerkt ihr nicht mal. Oder äußert euch nicht dazu, was weiß ich.
Ihr esst vermutlich auch gern bei McDonalds, oder? Aber ist schon o.k., jeder kann essen, was er will. (Außer kleine Kinder.) Und wer will sich schon ständig an Gourmet-Küche überessen? (Außer dem Steppenhund vermutlich)
Wisst ihr eigentlich, wie glücklich ihr mich trotzdem macht? Und wie süchtig? Wisst ihr, was für ein geiles Gefühl das ist, wenn ihr an meinen Lippen und Zeilen hängt und in meinen Worten zu Wachs werdet?
Wisst ihr, dass ich hauptsächlich für euch schreibe? Für mich natürlich auch, aber ohne euer Feedback, ohne eure Kritik, ohne eure Zustimmung hätte ich mich nicht weiterentwickelt. Und schon beim Schreiben seid ihr fester Bestandteil des Textes geworden, sitzt im Publikum, rümpft die Nase, rollt die Augen, lacht oder wischt verschämt eine Träne aus den Augen. Eigentlich schon früher, nämlich bei Erleben, wo ich überlege, wie ich euch die Geschichte so erzähle, dass ihr sie gerne lest, da ein bisschen weglasse und dort ein wenig ausschmücke und lüge.
Früher einmal wollte ich, dass möglichst viele Leute meine Bücher kaufen und ich berühmt bin. Ein bisschen will ich das natürlich immer noch, weil dann hätte ich keine Angst vor der nächsten Stromrechnung, aber tausendmal lieber ist mir der Kontakt mit denen, die mich lesen und hören, mit euch also. Die intime Atmosphäre, wo ihr einen Teil meines Lebens mit mir teilt, euch berühren lasst von mir und meinen Texten. Ich liebe den magischen Moment, wo sich meine Gedanken und Gefühle auf dem Weg zu euch mit euren eigenen Emotionen vermischen und in eure Poren und Herzen eindringen.
Ja, ich weiß, ich bin schon wieder gefühlsduselig. Aber ihr müsst euch jetzt vorstellen, dass ich das ganz nüchtern und neutral lese, dann kommt das nicht so pathetisch daher. (Ein Tipp meiner Sprechtechniktrainerin)
Ich hab euch das noch nie gesagt, glaube ich, aber ich liebe euch. Ihr macht mich glücklich, weil ihr euch von mir beschenken lasst und mir dadurch selbst so viel schenkt. Eure Aufmerksamkeit, eure Präsenz, euren Applaus. Ihr schenkt mir euer Lachen, eure Nachdenklichkeit, das Glänzen in euren Augen. Aber auch eure Kritik, die zwar manchmal weh tut, die mich aber wachsen lässt. Hab ich mich jemals dafür bedankt? Wenn nein, tue ich das jetzt. Danke auch, dass ihr mich aushaltet, wie ich bin. Mit meiner Wehleidigkeit, meiner Selbstverliebtheit und dem Selbstvertrauen, das schwankt wie eine Hängebrücke im Sturm.
Dieses Glück, das ich empfinde, weil es euch gibt, das ist kein flüchtiges Glück wie nach einer Tafel Zotter-Schokolade "Kandierte Preiselbeeren mit Steinpilzen*", das ist ganz tief empfundenes Glück, verrührt mit Dankbarkeit, überzogen mit Stolz. Das empfinde ich nicht nur am Abend einer Lesung, das hallt lange in mir nach. Und ermutigt mich, weiterzuschreiben. Für mich. Vor allem aber für euch.
*Eine dunkle Schokolade von erdiger Wildheit. Zart und herb ist das Geschmacksbild der kandierten Preiselbeeren, die als rote Farbwunder auf einer delikaten Canache aus getrockneten Steinpilzen und Grappa ruhen.
testsiegerin - 2. Nov, 12:45