Geschichten
„Na du?“ seufzte Veronika und zog die verfaulte Wurzel aus der Erde. „Hast es auch nicht leicht gehabt im Leben, wie? Sei froh, dass es jetzt vorbei ist.“
Ihre Worte waren mehr an die Leiche unter als an die Pflanze in der Erde gerichtet, aber das war egal, denn keiner der beiden antwortete.
Veronika hatte grüne Augen und einen schwarzen Daumen. Zu Hause am Fensterbrett stand nur noch ein einsamer Philodendron scandens, die anderen Pflanzen waren unter ihre Pflege eingegangen.
Sie hatte eigentlich Friseurin und Perückenmacherin werden wollen. Aus Unachtsamkeit hatte sie das Kreuzchen bei der Frage nach dem Berufswunsch an die falsche Stelle gesetzt und war deshalb auf dem Friedhof gelandet. Immerhin als Gärtnerin.
Vielleicht war das auch gut so. Bestimmt war das gut so, denn wenn sie daneben schnitt, und sie schnitt oft daneben, dann gingen höchstens die Pflanzen ein und nicht die Kundinnen. Die waren in ihrem Fall ohnehin schon tot.
„Veronika!“ Oh, einer der Juniorchefs persönlich. Die drei Chefs ließen sich selten hier herüben blicken, wahrscheinlich machten die Toten ihnen Angst. „Die Stiefmütterchen sind grad gekommen.“
Johan van de Madeliefjes zog einen voll beladenen Handkarren hinter sich her. Unter dem Einfluss der prallen Junisonne senkten sich die Köpfe der Pflanzen demütig und nickten artig bei jeder Bodenwelle. „Die Todgeweihten grüßen dich“, raunten sie Veronika zu.
„Du lieber Himmel, Johan, wohin sollen denn all diese Omablumen?“
„Von wegen Omabloemjes. Schau nur, die herrliche Farben. Die kommen alle auf die Familiengrab von die ungarische Adelfamilie.“
Na großartig. Nicht genug, dass Österreich nicht mehr mit Ungarn vereint war, jetzt drohte auch noch eine kriegerische Auseinandersetzung. Oder zumindest eine diplomatische, was angesichts der Schlagkraft der beiden Armeen vermutlich verheerender war. „Österreicher schänden ungarisches Adelsgrab“, so würde die Schlagzeile in der Magyaren-Krone lauten. Wie grausam musste das erst auf Ungarisch klingen?
„Ähm. Ganz schön viele Blumen sind das. Wo ist denn eigentlich unser Praktikant? Der könnte mir wunderbar dabei helfen.“
„Ja, könnte er. Wenn er nicht bei die Voetbalspel die Bein gebrochen hätte. Macht nichts. Du hast die ganze Woche Zeit.“
„Ich schon, aber die Blumen sehen so aus, als würden sie den Tag nicht überleben.“ Veronika wusste, dass das eine optimistische Einschätzung war.
„Kopf hoch“, sagte Johan, aber die Pflanzen gehorchten ihm nicht. Veronika hatte sich oft gefragt, warum sie nicht längst hinausgeschmissen worden war. Sie mochte ihren Beruf mittlerweile ganz gerne, sie war gern in der Natur, sie mochte die trauernden und traurigen Menschen auf dem Friedhof, die Stimmung, wenn der Nebel sich im Herbst über die Gräber legte. Sie wusste selbst, dass sie eine lausige Gärtnerin war. Zu ungeschickt. Zu langsam. Zu verträumt. Die meisten jungen Pflänzchen starben ihr unter den Fingern weg. Sie spiegelten im Zeitraffer die Vergänglichkeit des Lebens. Wahrscheinlich hatte Veronika es einzig Johan zu verdanken, dass sie noch immer hier war. Er nahm sie gegenüber seinen Eltern und Brüdern immer in Schutz.
Johan war das schwarze Schaf in der Familie, eine einzige Enttäuschung, wie sein Vater einmal gesagt hatte. Er interessierte sich nicht für Fußball und nicht für Volksmusik. Vor allem interessierte er sich nicht fürs Geld und fürs Geschäft. Er wäre gerne Kindergartenpädagoge geworden, aber dann starb sein Opa und Johan erbte ein Viertel des Betriebs und war geblieben. Er mochte keine Konflikte, und so zog er eben junge Pflänzchen anstatt Kinder groß und band Allerheiligenkränze anstatt kleinen Mädchen Haarkränze zu flechten. Johan war für die Rosenzucht und fürs Personal in der Gärtnerei zuständig. Sowohl mit den einen als auch mit den anderen ging er liebe- und respektvoll um. Er war der festen Überzeugung, dass Stress weder Pflanzen noch Menschen gut tat. Dass sie sich nicht entfalten konnten, wenn sie schlechten Einflüssen ausgesetzt waren.
„Bis später in die Pause“, sagte er. „Niet weer darauf vergessen.“
Veronika begann die blauen Stiefmütterchen in die Erde zu setzen und malte sich dabei ihr Leben als Gräfin aus. Es war ihr klar, dass sie als Gräfin jetzt nicht mit bloßen Händen in der Erde wühlen würde, was sie aber nicht als besonderen Vorteil angesehen hätte. Die Graberde fühlte sich angenehm warm und weich an, und der leicht modrige Geruch verursachte ihr ein ehrfürchtiges Gruseln, besonders wenn sie sich vorstellte, dass der Moder aus zwei Metern Tiefe an die Oberfläche gekrochen war. Aber im Inneren eines alten Schlosses herrschte wohl ein ähnlich morbides Klima. Sie atmete tief ein, schloss die Augen und saß als Gräfin in einer schummrigen Bibliothek und blätterte in einem Buch mit Ledereinband. Schloss Trautmannsdorf, stand auf einigen der Grabinschriften, mal als Ort der Geburt, mal als der des Todes. Einige Familienmitglieder schienen das Gebäude in der Zeit dazwischen gar nicht verlassen zu haben.
Veronika kannte das Schloss, schließlich kam ihr erster richtiger Freund aus Trautmannsdorf und sie waren einmal dort spazieren gegangen. Sie erinnerte sich nur noch schwach an das baufällige Gemäuer, doch an die Zärtlichkeiten, die sie in dessen Schatten genossen hatte, erinnerte sie sich gut.
Ein diskretes Räuspern riss sie aus ihren Schlossgartenträumen.
„Entschuldigung“, stammelte sie, sprang auf und wischte sich die erdigen Hände im Overall ab. Es gehörte sich nicht, bei der Arbeit am Grabsteinrand zu sitzen, wenn Trauergäste in der Nähe waren. Und es gehörte sich schon gar nicht, bei der Arbeit nicht zu arbeiten, sondern zu träumen.
Der alte, aufrechte Herr mit weißem Schnurrbart und dicken, weißen Augenbrauen winkte ab. „Lassen Sie nur“, er lüftete seinen Hut und verbeugte sich. „Sie hat bestimmt Verständnis für ihre Müdigkeit. Sie selbst hat überhaupt nie in ihrem Leben gearbeitet. Sie war nur schön“, sagte er mit ungarischem Akzent und Bitterkeit in der Stimme.
„Wer?“
„Die Gräfin. Sie liegt hier.“
Veronika bückte sich und entfernte ein paar verwelkte Blätter vom Grab. „Kannten Sie sie?“
„Und ob ich sie kannte. Ich bin... ich war...“, er zog ein gebügeltes und akkurat gefaltetes Taschentuch aus seiner Sakkotasche und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Veronika zog die Augenbrauen hoch. Sie war gespannt. Wer war er zur Gräfin? Ihr Ehemann, der Graf himself? Ihr Koch, ihr Fahrer, ihr Leibarzt? Ihr heimlicher Geliebter gar?
„Sie war meine Schwester.“
Veronika stutzte. „Sie sind der Bruder der Gräfin?“, fragte sie erstaunt. „Aber ich hab Sie noch nie hier gesehen.“
Der alte Herr seufzte, setzte sich auf die Einfriedung des Grabes, nahm das Schäufelchen, grub damit ein kleines Loch und pflanzte ein violettes Stiefmütterchen ein. „Violett war ihre Lieblingsfarbe. Ich... ich bin das erste Mal hier“, erklärte er, „ich war länger verreist, wissen Sie?“
„Wie lebt es sich als Bruder einer echten Gräfin?“
„Halbbruder“, korrigierte er. „Ich war das Ergebnis einer Affäre unseres Vaters, des Fürsten, mit einer Bürgerlichen. Die Familie wollte nichts mit mir zu tun haben. In ihren Augen war ich ein Bastard. In meinen Adern fließt nur zur Hälfte blaues Blut.“
Veronika setzte sich zu ihm und strich über seinen Unterarm.
„Ich hatte Hausverbot im Schloss", fuhr er fort. „Wenn sie könnten, würden sie mir sogar verbieten, meine Schwester am Friedhof zu besuchen.“
Veronika hörte zu. Die Geschichte des alten Herrn verwob sich in ihrem Kopf mit ihrer eigenen Geschichte. Auch sie war ein unerwünschtes Kind gewesen, nur war ihr Vater kein Fürst, sondern Fleischhauerlehring gewesen. Ihre Mutter keine Bürgerliche, sondern eine siebzehnjährige drogensüchtige Schulabbrecherin. Mit dem Balg fühlten die Eltern sich heillos überfordert, ihre Mutter haute ins benachbarte Ausland ab und ließ sie zurück. Ihre Großmutter väterlicherseits erbarmte sich und zog Veronika auf. Einmal hatte sie gehört, wie die sie gegenüber der Nachbarin als Rauschkind bezeichnete. Wenn jemand wusste, wie es sich anfühlte, unerwünscht zu sein, dann sie.
„Haben Sie versucht, mit Ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen?“ fragte sie ihn. Sie selbst hatte es probiert, aber ihre Mutter nicht gefunden. Sie wusste nicht mal, ob sie noch lebte.
„Veronika“, rief Johan von weitem. „Du musst nicht vergessen op die Pause, ja?“
„Gehen Sie ruhig, Kindchen“, sagte der alte Herr, der Laszlo hieß. „Lassen Sie sich Ihren Kaffee schmecken. Ich setze inzwischen die Blumen hier noch ein und geh dann. Wenn ich darf, komme ich morgen gerne wieder.“
Von da an kam Laszlo jeden Tag. Er half Veronika beim Laubrechen, machte Ordnung im Geräteschuppen, goss die Blumen und sorgte dafür, dass mehr Pflänzchen denn je ihre ersten Tage in Freiheit überlebten. Zwischendurch erzählte er Veronika aus seinem Leben, der Armut in Ungarn, während seine Familie im Schloss feudale Feste feierten, seiner Verhaftung während des Ungarnaufstands, von seiner lebenslangen Sehnsucht, zur Familie zu gehören. Veronika hörte zu, sagte selber nicht viel und schloss Laszlo von Tag zu Tag mehr in ihr Herz.
„Wovon träumen Sie?“, fragte sie einmal, als er einfach da saß und seine Augen sich in der Weite verloren. „Ich träume davon, wenigstens im Tod mit meiner Familie vereint zu sein.“ Ich noch im Leben, dachte Veronika, aber sie schwieg.
Eines Morgens tauchte Laszlo mit zerknittertem Anzug und völlig aufgelöst auf. „Ich geh da nicht mehr hin“, sagte er, „nie, nie wieder.“ Veronika schenkte ihm Tee aus der Thermoskanne ein, stellte Fragen, redete beruhigend auf Laszlo ein, aber es war nichts aus ihm herauszubekommen. Außer, dass er dort nicht mehr hinging. Wo immer dieses „dort“ auch sein mochte. „Bitte, Veronika“, schluchzte er verzweifelt, „schicken Sie mich nicht mehr dorthin zurück. Versprechen sie mir das. Bitte!“ Veronika versprach es. Wenn Lazlo nicht zurück wollte, wollte er eben nicht zurück.
„Johan“, sagte sie ins Telefon, „können Sie bitte kurz kommen? Ich brauche Ihre Hilfe.“ Johan kam, hörte und half. Hin und wieder kratzte er sich am Kinn, um schließlich zusammenzufassen: „Wenn Laszlo nicht zurück will, dann blijvt er even hier. Wir können ohnehin Hilfe gebrauchen.“
„Wenn Ihr Vater das erfährt, schmeißt er Sie aus der Firma“, sagte Veronika, als sie gemeinsam das alte Sofa in den Geräteschuppen schleppten.
„Nett, dass Sie sich mehr für andere Mensen sorgen dan für Sie. Keen Angst, der kommt so gut wie nie rüber.“
Johan besorgte noch einen Elektroradiator, einen Rasierapparat und Kosmetikartikel, Veronika organisierte eine Kochplatte sowie Töpfe und Teller und holte ein paar Hemden und Anzüge aus dem Caritas-Lager. Laszlo war eine große Hilfe, und Johan kam immer öfter rüber. Noch immer hatte er Angst vor den Toten, aber zu den Lebenden, die hier arbeiteten, fühlte er sich genauso hingezogen wie zu seinen Rosen.
„Wir möchten zu Herrn Graf“, sagten zwei Polizisten in Uniform und blickten sich suchend um.
„Der liegt da drüben. Im Familiengrab.“ Veronika nahm die alten Blumen und Kränze von einem Grab und blickte nicht auf.
„Nein, nein, wir suchen keinen Toten, sondern einen Lebenden. Harald Graf. Angeblich treibt er sich jeden Tag hier auf dem Friedhof herum.“
„Harald Graf? Nein, den kenne ich nicht. Nie von dem gehört oder gesehen.“
„Ein älterer Mann mit weißem Haar und Schnauzbart. Zirka 1,85 groß und gut gekleidet.“
Veronika ging ein Licht auf. „Sie sprechen nicht etwa von Laszlo?“ Der hielt gerade seinen verdienten Mittagsschlaf.
„Doch, von dem reden wir. Herr Harald Graf ist ein bisschen...“ er kreiste mit der flachen Hand vor seiner Stirn, „ein bisschen... Sie wissen schon. Laut Stationsschwester nennt er sich manchmal Laszlo und gibt sich als verstoßener Adeliger aus.“
Veronika biss sich auf die Lippen. „Hat er etwas angestellt?“
„Nein. Er ist nur aus dem Pflegeheim abgehaut. Wir sollen ihn wieder zurückbringen.“
„Hm.“ Jetzt war Veronika ratlos. „Nehmen Sie erstmal Platz, meine Herren“, Sie deutete auf die Parkbank bei dem Grabmal eines ehemals berühmten Volksschauspielers und drückte ihnen die Thermoskanne in die Hand. „Bitte bedienen Sie sich." Dann rief sie Johan an: „Johan? Können Sie bitte kurz rüberkommen?“
„Graf Laszlo hat gesagt, er will nicht mehr zurück“, erklärte Johan den Uniformierten, nachdem er vom Geräteschuppen zurück war. „Und wenn er nicht mehr zurück will, dann blijvt er even hier. Außerdem gebrauchen wir ihn hier. Er ersetzt den Praktikanten.“
„Oh Schwarzarbeit?“, zwinkerte einer der Polizisten verschwörerisch und klopfte sich selbst auf die Schulter.
„Nein. Ich habe ihn natuurlijk gemeldet. Sie können das gerne kontrolleren.“
Die beiden Polizisten schauten einander ratlos an. „Und jetzt?“, fragte einer. „Wir können das doch nicht einfach auf sich beruhen lassen?“ „Stimmt“, nickte der andere eifrig, „vielleicht wird Herr Graf ja gegen seinen Willen hier festgehalten? Wir müssen wenigstens mit ihm sprechen.“
„Könnten Sie bitte morgen weerkommen?", schlug Johan vor, „es geht heute Graf Laszlo nicht so goed.“
Veronika zog drei verwelkte Rosen aus dem vertrockneten Kranz und reichte sie den Polizisten. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Die dritte ist für die Stationsschwester. Sie soll sich keine Sorgen machen.“
testsiegerin - 8. Jan, 00:02
...
so der Titel eines Buches, das ich mir heute bestellt habe. Sehr, sehr kurze Geschichten mit maximal 140 Zeichen.
Jetzt übe ich mich in dieser Kunstform. Hier meine ersten Versuche:
- Ein halbes Jahr im Bau, Arbeit auf engstem Raum. Endlich Freiheit. Als sich der Kerl näherte, kam die Angst. Sie stach zu. Und starb.
- Er würde jetzt zu seiner heimlichen Geliebten fahren. Seine Frau weinte. „Was hast du schon wieder?“, fragte er. „Krebs.“
- Der Gourmet nahm am festlich gedeckten Tisch Platz. Seine Frau steckte ihm den Trichter in den Mund. „Gänsestopfleber, Schatz.“
- Wütend warf sie ihm Erde nach. Auf dem Heimweg hängte sie einen Zettel an die Straßenlaterne: Brautkleid zu verkaufen. Ungetragen.
testsiegerin - 27. Dez, 13:54
oder
Alle Jahre wieder ;-)
Weihnachten ist Scheiße. Mama will nicht, dass ich Scheiße sage. Aber ich sag’s ja auch nicht, ich schreib’s einfach hin. Scheiße. Weihnachten ist Scheiße, und Scheiße ist Weihnachten. So einfach ist das.
Scheiße muss kursiv. Wenn man Scheiße kursiv schreibt, dann schaut’s aus, als hätte da jemand reingetreten.
Zu meinen ersten Weihnachten war ich noch nicht mal ein Jahr alt. So geht’s den meisten Kindern, ich weiß. Niemand hat mich je gefragt, ob ich das will. Ich hasse Kerzen. Ich leide unter einer chronischen Tannenbaumallergie. Und ich bekomme Ausschläge in der Nierengegend, wenn meine Mama singt. Der Supergau, also der größte anzunehmende Unglücksfall ist, wenn sie bei Kerzenlicht unter dem Tannenbaum singt.
Meine Mama hat aber nicht mal den Anstand, mit ihrer dämlichen Singerei zu warten, bis die Kerzen am Baum brennen. Sie singt bereits Wochen vorher. Eigentlich singt sie das ganze Jahr über. Aber in der Vorweihnachtszeit begleitet sie Julio Iglesias bei seinen eigenwilligen Interpretationsversuchen deutscher Weihnachtslieder. Dieser iberische Schleimpfropfen tut so, als hätte es nie ein H in der abendländischen Kultur gegeben, singt von ’immlischen ’eeren und von ’irten. ’alleluhjah.
Ich war drei, als Oma Rotz und Wasser geheult hat, weil ich am Heiligenabend vier Stunden auf dem Klo verbracht habe. Nein, ich hatte nicht Durchfall, es war nur wegen Mama und Julio Iglesias und dem Scheiß-Baum und dem Scheiß-Weihnachten.
Ganz ein garstiges Mädchen wäre ich, schluchzte Oma, ein unflätiges undankbares Kind. Ich würde allen die Freude verderben mit meiner Destruktivität. So, als ob es konstruktiv wäre, zerbrechliche Kugeln auf einen Baum zu hängen, einander Geschenke zu überreichen und einen frierenden Säugling in einer Krippe zu bewundern, der inzwischen längst tot war.
Nicht, dass Sie mich missverstehen, ich liebe meine Eltern. Ich liebe sogar Oma. Ich hasse nur Weihnachten.
Es muss in der zweiten oder dritten Stunde auf dem Klo gewesen sein, als ich den unabänderlichen Entschluss fasste, mich fortan der transzendentalen Meditation zuzuwenden und peruanische Literatur des frühen siebzehnten Jahrhunderts zu studieren und ins Polnische zu übersetzen.
Der Kinderpsychiater hatte Verständnis für mich. Glaubte ich jedenfalls. Aber als er mir riet, Freude zu heucheln und mit meiner Familie Schlittenfahren zu gehen, feuerte ich ihn.
Ein paar Jahre später kappte ich die Stromversorgung in unserem Dorf. Die Auswirkungen waren fatal. Unerfreulich fatal einerseits, denn die Lichterketten gingen zwar aus, dafür aber noch mehr Kerzen an. Erfreulich fatal andererseits, denn Julio verstummte.
Doch Mama kompensierte das locker. Sie sang lauter und falscher als je zuvor. Oh du fröhliche ging mir durch Mark und Bein. Ihr Kinderlein kommet infiltrierte meine Großhirnrinde. Alle Jahre wieder erschütterte meinen Magen-Darm-Trakt und löste dort heftige Konvulsionen aus. Ich kotzte unter den Weihnachtsbaum. Ich kotzte auf die Geschenke. Ich kotzte in die Krippe.
Noch am selben Abend unterzeichneten meine Eltern und ich in einen Vertrag. Einen siebenseitigen Weihnachtsvertrag, mit Klauseln, mit jeder Menge Kleingedrucktem und - notariell beglaubigt. In unserer Familie wurde Weihnachten abgesagt. Das war der Teil des Deals, den ich ohne Murren akzeptierte. Aber – und jetzt kommt der andere Teil – ich musste versprechen, mich wenigstens nach außen hin in der Advents- und Weihnachtszeit wie ein halbwegs normales Kind zu benehmen. Das war auch der Grund, weshalb ich für Sie im Deutschunterricht sogar jedes Jahr wunderschöne Weihnachtsgeschichten geschrieben habe, liebe Frau Lehrerin. Geschichten, bei denen ich Tränen der Rührung in Ihren Augen gesehen hab, während Sie sie der Klasse vorgelesen haben.
Doch jetzt ist Schluss mit lustig.
Ich habe Mama erwischt, wie sie heimlich Weihnachten gefeiert hat. Nachts. In der Garage. Im August. Ganz leise sang Julio Iglesias. Mama bewegte dazu andächtig ihre Lippen. Am Baum glitzerte geschmacklos Lametta. Und in der Krippe lag ein Jesukind, das sorgfältig von jedem Kotzbröckelchen gereinigt worden war.
Deshalb fühle auch ich mich nicht verpflichtet, meinen Teil der Vereinbarung einzuhalten. Meine Mutter ist vertragsbrüchig geworden. Ich habe mit Unterstützung eines renommierten Anwaltes bereits Klage beim zuständigen Bezirksgericht eingebracht. Wie schon erwähnt, ich liebe meine Mutter. Aber Vertrag ist nun mal Vertrag.
Ich weiß, Frau Lehrerin, dass Sie jetzt – wie bei all meinen anderen Geschichten – auf eine überraschende Wendung hoffen. Eine geniale Pointe. Vielleicht darauf, dass die Protagonistin erfunden ist und in Wahrheit glänzende Augen bekommt, wenn sie Mama im Duett mit Iglesias hört. Aber so sehr ich Sie mag, ich muss Sie enttäuschen. Ich bin die Protagonistin. Es gibt weder Wendung noch Pointe. Alles ist wahr.
Und aus.
testsiegerin - 9. Dez, 14:00
„Guten Tag Frau Kroupka!“ Emma Rogner nahm auf dem Stuhl gegenüber ihrer Klientin Platz. Zwei Pflegebetten standen im kahlen Zimmer, daneben zwei Nachtkästchen. Keine Bilder an den Wänden, nichts, das etwas über die beiden Bewohnerinnen des Zimmers verriet. Es roch nach Urin und Desinfektionsmittel. „Schön schauen Sie heute aus. Ihre Wangen sind ganz rosig und ihre Augen strahlen heute irgendwie. So möchte ich mit 85 auch gern ausschauen. Verraten Sie mir das Geheimnis, wie man das schafft?“
Gerda Kroupka lockte sie mit dem Zeigefinger zu sich und Emma beugte sich nach vorne.
„Es sind die Erinnerungen“, flüsterte Gerda ihr ins Ohr. „Erinnerungen an ein schönes Leben und die Liebe. Davon zehrt man ein Leben lang. Haben Sie auch schöne Erinnerungen, Frau... Frau...“
„Rogner“, half Emma ihr. „Ja, ein paar solche Erinnerungen hab ich schon. Aber ich bin noch am Sammeln. Mein Album ist noch nicht voll. Zum Glück.“
Gerda Kroupka griff ihre Hand und tätschelte sie liebevoll. „Wissen Sie, wenn man anständig lebt und liebt, kann man beruhigt alt werden, Kind.“
Emma Rogner biss sich auf die Lippen. Hm. Ihre Chancen auf ein beruhigendes Altern waren soeben rapide gesunken.
„Wer waren Sie noch mal?", fuhr Gerda fort. „Ich glaub, wir zwei kennen uns irgendwoher.“
Emma Rogner nickte. Frau Kroupka hatte sie schon oft gesehen, aber meistens konnte sie sich nicht daran erinnern. „Sie schauen meiner Großmutter ähnlich, Kindchen.“
Es hatte keinen Sinn, ihrer Klientin zu erklären, welche Funktion sie hatte und warum sie hier war. Ganz konnte sie es aber nicht vermeiden, auch übers Geld zu reden, und heute schien Gerda Kroupka im Vergleich zu den letzten Besuchen im Heim wach und aufgeräumt. Emma mochte Gerda sehr, sie hatte so etwas Feines und Liebenswertes. Aus ihren Augen blitzte Humor, aus ihrer Seele Herzlichkeit. Am liebsten hätte Emma die alte Frau in den Arm genommen und an sich gedrückt, aber das wäre unprofessionell gewesen. Ein Fallen aus der Rolle, eine Grenzüberschreitung. Voller Wehmut dachte Emma an ihre Lieblingsoma, die vor mehr als dreißig Jahren gestorben war. Emma hatte sie ein paar Tage vor ihrem Tod noch besuchen wollen, aber dann war etwas dazwischengekommen. Irgendetwas Banales. Das schlechte Gewissen nagte immer noch an ihr.
„Frau Kroupka, Sie haben ganz viel Geld von Ihrem Mann geerbt. Sie können aus dem Pflegeheim ausziehen und wieder nach Hause zurückkehren. Ich organisiere das für Sie, wenn Sie möchten. Mit einer 24-Stunden-Pflege, einem Besuchsdienst, lieben Menschen, die sich um sie kümmern und ihnen alle Wünsche erfüllen... alles ist möglich.“
„Papperlapapp. Ich hab mein ganzes Leben gearbeitet und mich ums Haus gekümmert. Ich mag nimmer. Ich will nur noch meine Ruhe haben. Ich bleib hier, hier hab ich alles, was ich brauche, und basta.“
„Basta“, wiederholte Emma Rogner. „Gibt es wenigstens irgendetwas, das ich für Sie tun kann? Etwas, dass Sie sich wünschen? Noch einmal das Meer sehen, hübsche Kleider, eine gute Matratze, gutes Essen, bequeme Schuhe, Schmuck, junge Männer...“ Emma Rogner fielen viele Dinge ein, die sie gerne gehabt hätte, aber sie hatte keine halbe Million Euro auf Sparbüchern, sondern ein dickes Minus am Konto.
„Papperlapapp.“ Gerda Kroupka lachte. „Ich brauch so ein Zeugs nicht.“
„Na gut. Aber wenn Ihnen etwas einfällt, dann sagen Sie das bitte der Schwester, die ruft mich dann an.“
„Welche Schwester denn? Ich hab gar keine Schwester. Nur eine Mutter und eine Großmutter. Ich muss dann noch zu ihr, die Hühner füttern." Ihr Blick schlich aus dem Fenster. „Mit den Eiern macht sie einen wunderbaren Guglhupf. Mögen Sie ein Stück, Kind?" Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie wandte den Blick vom Fenster ab und Emma zu. „Grüß Gott. Was wollen Sie überhaupt von mir?“
Jetzt war Gerda Kroupka wieder in eine andere Zeit und eine andere Welt eingetaucht. Eine, in der sie wichtig war und geliebt wurde. Emma strich ihr zärtlich über die Stirn. „Ich muss los. Auf Wiedersehen. Bis bald.“
Sie war schon bei der Tür, als ihre Klientin ganz leise sagte: „Ja, da gibt es etwas, das ich mir wünsche.“
Emma kehrte um, ging in die Knie und schaute Gerda in die Augen. „Ja?“
Tränen liefen über die Wangen der alten Frau. Emma wischte sie behutsam mit dem Zeigefinger weg. „Möchten Sie mir sagen, was Sie sich wünschen?“
„Ich hätte so gern ein Packerl
Manner Schnitten .“ Sie weinte.
Jetzt liefen auch über Emmas Wangen Tränen. Emmas Oma hatte ihr immer Manner Schnitten mitgebracht, wenn sie auf Besuch kam. Manner Schnitten und gezuckerte Kondensmilch aus der Tube. Emma warf ihre Professionalität über Bord und drückte die zarte, alte Frau an sich. „Ich bring Ihnen welche mit, Frau Kroupka. Die schmecken nach Geborgenheit, oder?“
testsiegerin - 28. Nov, 22:56
Das war die allererste Geschichte, die ich geschrieben hab. Mit der mein Schreiben den Anfang genommen hat.
Gestern hat eine Frau sie bei einer Veranstaltung gelesen. Ganz leise wurde es im Saal. Und für mich war es aufregend, mal eine Geschichte von mir zu hören, die nicht ich lese.
„She walks softly and carries a big gun...“ tönte es aus dem Autoradio.
Da war sie wieder, die Grenze. Wie jeden ersten Freitag im Monat machte der Schlagbaum ihr die eigenen Grenzen bewusst. Da war die Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten. Gleichzeitig die Angst davor.
Sie stand im Stau. Es staute sich vor ihr. Hinter ihr. In ihr.
Auch die Mittagssonne ließ das nicht kalt. Mit voller Wucht durchdrang sie die Windschutzscheibe und prallte ungebremst aufs Lenkrad, auf dem zwei Hände den Rhythmus der Musik mittrommelten.
Vorne bei der Passkontrolle marschierte eine Zollwachbeamtin allein im Gleichschritt auf und ab. Ihr Anblick hatte etwas Einsames. „She walks softly and carries a big gun.“
Bald würde sie fallen, die Grenze. Die Grenze, die nicht nur Angst machte, sondern auch Schutz bot.
Sie kramte in ihrer Handtasche. Suchte den Lippenstift. Der ihre blassen Lippen schützte und Sicherheit und Stolz vortäuschte. Der ihre Angst blutrot übermalte.
Die Tasche war ein Spiegel ihrer Seele. Sie dachte an die Sonntagsbeilage der Zeitung, die sie sowieso nur sonntags las. Prominente zeichneten ihren Tascheninhalt und gaben so ihr Leben der Leserschaft preis. Lieferten die Innenwelt der Außenwelt aus. Oder bewahrten ihr Innerstes vor der Auslieferung, indem sie zum Schein Erfrischungstücher, Feuerzeuge und Organspenderausweise herausholten.
Sie täuschte in erster Linie sich selbst. In ihrer Tasche war nichts, das andere Menschen spannend finden können hätten. Mit o.b., Slipeinlagen, Nagelfeile, Parkscheinen, Handy, dem Kalender und den Schlüsseln würde es ihr vermutlich nicht gelingen, jemanden zu beeindrucken. Ein paar Kugelschreiber, ein Bleistiftspitzer, aber kein Bleistift. Ein Bild, das ihre Tochter für sie gemalt hatte. Sie selbst in roten Stiefeln, mit Leopardenstrumpfhose und Lippen im selben knallrot wie die Stiefeln. So sah ihre Tochter sie also. Zwei Taschenbücher, obwohl sie nie las, wenn sie ihre „Ausflüge“ über die Grenze machte. Taschenbücher und Taschentücher. Für überschüssige Lippenstiftspuren. Für die Tränen, die sich später ihren Weg über ihre Wangen bahnen würde.
Aber wen interessierte das schon? Sie war nicht prominent. Sie war eine ganz normale Frau, ständig auf der Suche nach ihren Grenzen. Ständig konfrontiert mit ihren Ängsten. Ihren Unzulänglichkeiten. Ihrem Mangel an Makellosigkeit.
Endlich. Mit einem Blick in den Rückspiegel zog sie die Lippen nach und presste sie auf das Taschentuch mit den Herzen. Das hatte Stil.
Sie trat auf die Bremse. Der Mann im BMW vor ihr tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn. Sie antwortete mit dem Mittelfinger. „He, du alter Wichser, reg dich ab. Uns trennen drei Zentimeter.“ Das Gefühl der Befreiung währte nur kurz. Was sind schon drei Zentimeter gegen die Ewigkeit? Was waren schon drei Zentimeter gegen fünfundsechzig Kilo Angst?
Sie kramte weiter. Suchte, ohne zu wissen, wonach. Nach dem Sinn vielleicht, doch der war da nicht. Ein paar CDs. Die Knef. Aber es regnete keine roten Rosen. Es regnete nicht einmal ein paar Gewittertropfen, die das flaue Gefühl in ihr wegwaschen könnten.
Plötzlich kamen die Zweifel.
Zweifle an denen, die sagen, sie kennen keine Angst. Aber hab Angst vor denen, die sagen, sie kennen keine Zweifel. Erich Fried. Es musste demnach keiner Angst vor ihr haben, und niemand an ihr zweifeln.
Er würde ihr weh tun. Er tat ihr immer weh. Seit Monaten tat er ihr weh. Jeden Monat. Jeden ersten Freitag. Und trotzdem stand sie immer wieder hier. An der Grenze, die es bald nicht mehr geben würde. Bald würde sie neue Grenzen suchen müssen.
Sie betrachtete ihr Foto im Reisepass und erinnerte sich an den Tag, an dem es entstanden war. Draußen war es kalt gewesen und in ihr warm, satt und zufrieden. Es schien Ewigkeiten her zu sein. Damals hatte sie sich nichts beweisen müssen. Heute war es draußen heiß und in ihr kalt.
Der Schmerz würde sich in sie bohren und sie sich in ihm spüren. Wie sagte William Faulkner?
Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz.
Lust und Schmerz waren Nachbarn, die war versuchten, sich aus dem Weg zu gehen, aber doch immer wieder aufeinander prallten. Mitten in ihrem Körper. Mitten in ihrer Seele.
Sie mochte ihn nicht. Trotzdem. Er war gut. Er tat, was unausweichlich war. Sie fuhr freiwillig zu ihm, und doch musste sie sich jedes Mal dazu zwingen. Sie dachte an das Danach. Danach würde sie sich besser fühlen. Leichter. Schöner. Begehrenswerter. Hoffentlich.
Seine Gesichtszüge waren ernst, beinahe streng. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals lächeln gesehen zu haben. Es war nicht seine Aufgabe, zu lächeln.
Er war Mitte Vierzig, sein Körper athletisch, seine Hände kräftig. Hände, die ihr weh tun würden. Grob waren und eindrangen in sie. Die ihre Grenzen überschritten und sie bluten ließen.
Hier war sie wieder, die Grenze. Die Angst drückte sich ihr in den Bauch, nahm ihr die Luft zum Atmen.
„Was führen Sie ein“?
Nichts. Jedenfalls nichts, was sie vorzeigen konnte. Sie führte Verwundbarkeit ein. Angst. Aber auch Mut. Überwindung. Und Lust. Er würde auch etwas einführen. Gegen ihren Willen. Und doch auch wieder nicht.
Er stopfte Dinge in ihren Körper. Harte und weiche. Ihr Schreien würde ihn auch heute nicht abschrecken. Das Unbehagen kroch ihr den Nacken hoch und setzte sich im Kopf fest. Sie klammerte sich an das Lenkrad und die Hoffnung auf Erleichterung, die sie empfinden würde, wenn es vorbei war. Wenn der Schmerz langsam nachließ und ihr Körper sich entspannte.
Was er wohl heute mit ihr vorhatte? Sie ertappte sich bei dem Gedanken umzukehren. Nein, das war feige. Sie würde sich dafür verachten. Was, wenn sie sich wehrte? Wenn sie sich aus seinem Griff löste und ihm zornig ins Gesicht spuckte, wenn er sich ihr näherte. Was, wenn sie einfach zubiss oder ihm ihre Knie in seinen Unterleib rammte?
In Wahrheit wusste sie, dass sie alles mit sich machen lassen würde. Nicht nur aus Angst, weil Gegenwehr ihn wütend machen und er ihr dann noch mehr Schmerz zufügen würde. Besser sich ausliefern. Bewegungslos dort liegen und geschehen lassen. Benutzt werden. Nur noch Objekt sein. Die Augen ängstlich aufgerissen im grellen Schein der Lampe. Oder fest geschlossen.
Nur noch wenige Kilometer. Die Grenze war überschritten. Es gab kein Zurück mehr. Die Entscheidung war längst gefallen.
Sie parkte vor der ehemals prachtvollen, jetzt heruntergekommenen Villa. Bemühte sich, das Unbehagen zu verdrängen, und versagte dabei kläglich. Durch einen Blick in den Rückspiegel versicherte sie sich, dass sie schön war. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Zupfte an ihrem schwarzen Top, damit ihre vollen Brüste besser zur Geltung kamen.
Bis in die Fingerspitzen klopfte ihr Herz, als sie die Klingel drückte. Mutig stieß sie die Tür zur Hölle auf, als sie das gequälte Summen des Türöffners hörte. Er stand schon im Flur. Er hatte auf sie gewartet.
„Sie kommen spät, meine Liebe“, sagte er streng und schlüpfte in die Latex-Handschuhe.
„Ich weiß. Es tut mir Leid.“
„Nehmen Sie Platz.“ Der Tonfall war befehlend, nicht einladend. Sie gehorchte. Wie sie diesen Stuhl hasste. Wie sie ihn hasste.
Sie legte sich hin und wartete. Eine große, dunkelhaarige Frau betrat den Raum. Vom Flur hörte sie seine Stimme: „Heute machen wir den Dreier“, sagte er mit ungarischem Akzent. „Rechts unten. Eine Krone.“
testsiegerin - 9. Okt, 11:34
Ich hab ihn nicht umgebracht. Wirklich nicht.
Der Hermann ist… war… kein schlechter Mensch. Er hat sich immer um alles gekümmert. Ums Haus, um unsere vier Kinder, um die Geldangelegenheiten, um den Urlaub, früher halt… Um mich auch, manchmal. So gut er eben konnte.
Verstanden hat er mich nie. Verstanden hat mich in meinem ganzen Leben nur meine Mutter. Und der Herr Pfarrer. „Gerti“, hat der Herr Pfarrer öfter gesagt, „Gerti, Sie schauen heute so traurig aus“. Das hat der Hermann gar nie gemerkt, wenn er müde von der Arbeit gekommen ist.
Einmal hat der Herr Pfarrer gesagt: „Gerti, Sie sind heute so richtig hübsch.“ Dem Hermann ist es gar nicht aufgefallen, dass ich an dem Tag Lippenstift getragen hab. Trag ich ja sonst nie, wozu auch?
Den Lippenstift hab ich von der Katharina bekommen. Die hat sich nie etwas gesch… nie gekümmert um das Gerede, der war egal, was die Leute im Dorf über sie gequatscht haben. Sie hat es ja auch nicht gehört, weil sie nur zum Schlafen nach Hause gekommen ist. Aber ich, ich hab’s gehört. „Dorfmatratze“ haben sie gesagt. Vor allem die, die sie nicht gekriegt haben. Die Katharina hat zwei Kinder, von zwei unterschiedlichen Vätern, aber sie hat trotz der Kinder immer ihr Ding durchgezogen. Ihr ist egal, ob die Fenster geputzt sind oder die Wäsche der Kinder gebügelt ist. Die ist trotzdem mit Sekt in der Badewanne gesessen und hat gelesen. „Vom Boden kann man nicht essen bei dir, Katharina“, hab ich einmal gesagt. Sie hat gelacht und gesagt: „Ich hab eh einen Tisch.“ So eine ist das nämlich. Na, die hat leicht reden. Aber gern hab ich sie trotzdem. Oder grad deshalb. Sie strahlt meistens so, von innen heraus, verstehen Sie?
Die Katharina ist eine von meinen drei Freundinnen. Die Katharina, die Dorina und die Elena. „Die passen ja gar nicht zu dir“, hat der Hermann immer gesagt, und er hat recht gehabt. Die sind ganz anders als ich, viel aufregender. Das hat der Hermann nicht gesagt, aber er hat es sich bestimmt immer gedacht. Ich hab doch gesehen, wie er sie angeschaut hat.
Warum sind das überhaupt deine Freundinnen, hat die Mama vom Hermann mich einmal gefragt, warum nicht die Herta, die Frau vom Josef, die ist viel mehr wie du. Sie sind meine Freundinnen, weil sie eben so ganz anders sind als ich. Durch sie fühl ich mich auch manchmal ein bisschen leicht und lebendig, verstehen Sie? Ich nasche von ihren Abenteuern, ihrem Glück und ihren aufregenden Geschichten. Manchmal träume ich, ich würde auch ein wenig so sein wie sie. Aber dazu ist es jetzt eh zu spät.
Die Elena halten sie eh alle für völlig verrückt, aber das ist ihr auch egal. Ach, hätte ich nur ein bisschen was von ihr. Die Freiheit ist in deinem Kopf, singt sie, wenn ich ihr von der Verantwortung als Mutter und für die Pfarrgemeinde und Hermanns Mutter erzähle. Aber das stimmt nicht. In meinem Kopf ist keine Freiheit, da ist Pflichtgefühl. Auf meinem Kopf die Lockenwickler. Das gehört sich so, sagt die Mutter vom Hermann. „Scheiß drauf, was sich so gehört“, sagt die Elena. Die hat leicht reden. Zweimal war sie verheiratet, einmal sogar mit einem Schwarzen, der hat sich aber irgendwann aufgehängt. Die Freiheit ist in deinem Kopf, Gerti, sagt sie. Nur dort.
Was das Schönste in meinem Leben war, wollen Sie wissen? Was für eine Frage. Natürlich die Geburt meiner vier Kinder.
Was heißt das, ich soll endlich einmal ehrlich sein? … Na gut... Das schönste in meinem Leben war das Jahr in Wien. Als ich studiert hab und manchmal mit dem Hermann am Abend ins Theater gegangen bin. Das war richtig schön. Hin und wieder waren wir auch im Musical. Aber dann ist die Mutter vom Hermann krank geworden und wir haben wieder zurück aufs Land müssen. Sie lebt immer noch, und sie tut immer noch so, als wäre sie sterbenskrank. Dafür ist meine Mutter gestorben, obwohl die immer gut zu mir war und sie gar nicht krank war. Herzinfarkt. Das Leben ist manchmal nicht gerecht.
Einmal waren die Katharina, die Dorina und die Elena bei uns zum Grillen. „Die Huren brauchst nimmer einladen“, hat die Mama vom Hermann gesagt, als sie uns den Erdäpfelsalat in den Garten gebracht hat. „Wie die ausgeschaut haben. Ausg’schamte Weibsbilder. Net amal an BH hat’s angehabt, die Dunkle.“
Ich war immer eine gute Mutter. Ich bin immer noch eine gute Mutter. Auch wenn sie ein wenig undankbar sind, zumindest die Mädchen, die lassen sich kaum noch blicken. Nur zum Muttertag und zu Weihnachten. Der Bastian bringt mir wenigstens noch die Wäsche.
Die Dorina versteht das nicht. „Verwöhn ihn doch nicht immer so“, sagt sie. Die hat leicht reden. Sie hat nie Kinder kriegen können, sie hat nur ihren Schoßhund. „Kinder sind ein schlechter Hundeersatz“, hat sie gesagt, als ich ihr geraten hab, doch welche zu adoptieren, aus Afrika. Die Dorina können sie hier noch weniger leiden als die Kathi und die Elena, ich glaub, die haben Angst, dass sie ihnen ihre Männer wegschnappt. Dabei würde sie so etwas nie tun. Ich mag sie, ich hab nämlich das Gefühl, sie ist irgendwie genauso einsam wie ich. Sie sehnt sich nach einer Beziehung und ich mich nach Freiheit. Und beide haben wir Angst vor dem, was wir uns so sehr wünschen.
Wonach ich mich noch gesehnt hab? Nach ein paar zärtlichen Worten manchmal. Also vom Hermann und vom Herrn Pfarrer. Vom Herrn Pfarrer hab ich sie eh manchmal gekriegt. Der Hermann hat höchstens gesagt, dass ich eine gute Mutter und tüchtige Hausfrau bin. Ja, und einmal ein paar Tage Urlaub mit dem Hermann allein, danach hätte ich mich auch gesehnt. Nach Mariazell oder an den Neusiedlersee. Aber der Hermann hat gesagt, wir können die Mama nicht allein lassen.
Wie der Sex war? Mein Gott, wie soll er denn gewesen sein, der Sex? Normal halt. Am Schluss hab ich’s halt über mich ergehen lassen, wenn’s der Hermann gebraucht hat. Aber er hat’s in letzter Zeit eh immer weniger oft gebraucht. Ja, natürlich hab ich manchmal masturbiert. Aber nie mit dem elektrischen Gummiding, das mir die Katharina geschenkt hat, immer nur mit den Fingern. An wen ich dabei gedacht hab? Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ja. Woher wissen Sie, dass ich an den Herrn Pfarrer gedacht hab dabei?
Ja, versucht hat er es schon einmal bei mir. „Du willst das doch auch, Gerti“, hat er gesagt, und dass es keine Sünde ist, wenn man es wirklich will. Fast wie die Kathi, die immer sagt: „Wie kann etwas falsch sein, das sich so richtig anfühlt?“ Aber ich hätte das nicht können, verstehen Sie? Ich bin da nicht so. Ich hätte dem Hermann nicht mehr in die Augen schauen können. Dem Herrn Pfarrer auch nicht. Und in den Spiegel schon gar nicht. Da hab ich lieber die Tabletten genommen, gegen die Depressionen.
Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergeht. Jetzt, wo ich eingesperrt werde und der Hermann tot ist. Wer sich um die Kinder kümmert und ums Pfarrcafé. Nein, ich war es nicht, aber die Strafe ist schon gerecht, ich hab mir ja manchmal gewünscht, dass er tot ist und ich frei bin. So was wünscht man sich nicht. Jetzt ist er tot und ich bin ganz und gar nicht frei.
Warum ich mich nicht einfach scheiden lassen hab? Ha, das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Sie haben leicht reden.
Weil sich das nicht gehört. Auch wegen der Kinder. Und wegen der Mama. Nein, nicht wegen der Mama vom Hermann, wegen meiner Mama. Ich hab's ihr versprochen, am Sterbebett. "Der Hermann ist ein guter Kerl", hat sie gesagt, "der wird auf dich aufpassen. Versprich mir, dass du bei ihm bleibst, in guten wie in bösen Zeiten."
Ja, gehen Sie nur, ich warte. Klar warte ich, was soll ich hier auch sonst tun?
Was sagen Sie? Ich kann gehen? Aber grad haben Sie doch noch gesagt, Sie halten mich für schuldig.
So, ein Geständnis haben Sie? Von wem denn? Der Hermann hat doch niemandem was getan. Wer außer mir hätte einen Grund haben sollen, ihn umzubringen? Und überhaupt – nicht mal mir hat er wirklich was getan. Er ist nicht schuld daran, dass mein Leben sich anfühlt wie ein Gefängnis. Die Freiheit ist in deinem Kopf, würde Elena jetzt sagen, und das Gefängnis auch.
Die Dorina war es? Nein, das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Die Dorina hat was mit dem Hermann gehabt? Niemals. Höchstens mit ihrem Hund. Seit wann? So, seit drei Jahren schon. Und warum hat sie ihn umgebracht?... Weil er sich nicht von mir trennen wollte, wegen der Depressionen. Aha. Angst hat er gehabt, dass ich mir was antue, ich verstehe. Nein, ich verstehe gar nichts. Wahrscheinlich lügt die Schlampe und will sich nur wichtig machen. Ich war’s. Ich ganz allein. Gebeichtet hab ich’s schon. Und jetzt werde ich es auch büßen. So gehört sich das nämlich.
testsiegerin - 27. Mai, 12:04
Aus der Seire "Alt, aber gut", especially for B.
Waren Sie schon mal Millionärin? Ich schon. Drei Wochen lang. Drei ganze lange Wochen war ich Millionärin.
Es begann an einem Donnerstag. „Herzlichen Glückwunsch, Sie sind Kandidatin in der Millionenshow.“
Das Telefoncasting hab ich bravourös bestanden, ich wusste die Hauptstadt von Albanien, den Schlagzeuger der Beatles und den Autor der Buddenbrooks. Nur bei der Matheaufgabe hat es mich geschleudert. Das Ergebnis einer Division wollte sie wissen, die Dame am anderen Ende der Leitung und ich hab gesagt, von welcher Division und drauf gewartet, dass sie mich fragt, wie viel 32 durch 8 ist. Hat sie aber nicht. Eh haben später alle meine Freunde gewusst, dass das Ergebnis einer Division der Quotient ist. Und eh haben alle gewusst, wie viele Kilometer es von Kapstadt nach Peking sind. Und das in fünf Sekunden.
Dann musste ich über meine Vorlieben erzählen und über ein schönes Ereignis in meinem Leben, und ich war etwas enttäuscht, dass die nette Frau damit nicht meine sexuellen Vorlieben gemeint hat. Also hab ich ihr halt von der Frankfurter Buchmesse erzählt und dass ich dort gelesen hab. Dass Konstantin Wecker mich berührt hat. Irgendwann hört Bescheidenheit auf, eine Tugend zu sein.
Wie würden Sie einem Blinden ihr Äußeres beschreiben, fragt sie mich. Ähm. Nun ja. Warm und weich. Die Füße reichen bis zum Boden. Beide. Sie lacht, aber sie nimmt mich nicht ernst. Warum nimmt niemand mich ernst? Ich glaube, einem Blinden ist mein Aussehen völlig egal, sage ich dann.
Ich lerne. Nein, ich strebere. Wie noch nie in meinem Leben. Nicht mal für die Matura hab ich so viel gelernt, da hatte ich andere Sorgen (Sie hießen Bernd, meine Sorgen).
Nach drei Wochen kenne ich alle EU-Kommissare, wenn auch nicht persönlich, und die meisten Hauptstädte der Welt und ich weiß, an welche Länder das Kaspische Meer grenzt.
Nun gut, Freunde hab ich keine mehr, aber wer braucht schon Freunde, wenn er fast alles weiß?
Wenn die Sekretärin im Büro wissen will, was mein Genuschel auf dem Diktiergerät bedeutet, sage ich: Die vier Auswahlmöglichkeiten, bitte.
Auf meiner Schreibtischunterlage steht ganz groß: Delete A B C D Enter und beim Telefonieren tippe ich wild BCDA Enter. Oder CABD, je nachdem, wer anruft. Und ärgere mich, wenn ich auf die Enter-Taste vergesse.
Mein Kollege regt die Bestellung eines Sachwalters an. Wahrscheinlich ist er auf meine Millionen aus. Nächste Woche hab ich einen Termin beim psychiatrischen Sachverständigen. DABC. Enter.
Nur eine Kollegin ist glücklich. Ich hab sie als Telefonjokerin auserkoren. Für die Bereiche Klatsch & Tratsch, Film und Fernsehen. Sie sitzt mit ruhigem Gewissen im Besprechungszimmer und schmökert in der Gala. Sie weiß, ob Demi Moore schwanger ist oder nicht. Kennt die Namen von Becks Kindern. Weiß Bescheid über Beckers Samenraub. Wenn ich gewinne, dann hätte sie gern ein Bunte-Abo.
Ich habe eine Ahnung davon, was Paruresis ist, welche Berufe die vier Evangelisten hatten und wie Natalie Wood wirklich hieß. Ich büffle Nobelpreisträger, kenne Modeschöpfer und ihre Parfums und frage mich, wie ich je ohne dieses Wissen überleben konnte.
Ich lerne natürlich nicht ständig. Ich überlege auch, was ich mit einer Million mache. Schulden zurückzahlen, beschließe ich. Und um den Rest kauf ich mir eine Flasche Wein. Aber dann entscheide ich mich anders. Mein Sohn bekommt einen Traktor. Einen richtigen diesmal, ohne Maßstab. Und weil ein Traktor ohne Acker wenig Sinn hat, kauf ich ihm das Feld gleich gegenüber. So ist er zum Essen schneller daheim. Meine Tochter wünscht sich ein Klavier, Klavierunterricht und eine Reise mit mir nach Oia. Dort spielt nämlich der Roman, den sie grad liest. Vielleicht treffen wir die Mädels aus dem Buch da. Oia ist übrigens die zweitgrößte Stadt auf Santorin.
Ich selbst will nach West-Samoa. Hauptstadt? Apia. Was ich dort mache? Mein Browser steht dort. Deshalb endet meine Homepage auch auf dot ws. Ich werde meinen Browser besuchen. Vielleicht für immer. Ich liege dann in der Hängematte, schreibe Bücher, telefoniere hin und wieder mit meinem Verleger und lasse mir von einem Boy eisgekühlte Drinks servieren.
Wenn Assinger dich duzt, dann duze ihn auch, gibt mir meine Kollegin (die ohne Bunte-Abo) noch mit auf den Weg. Wegen des Machtgefälles. Also übe ich im Bett. „Ja Armin?“, säusle ich mit kokettem Augenaufschlag und mein Mann schüttelt den Kopf. Er heißt nicht Armin.
Meine zweite Telefonjokerin hätte gern Armani-Jeans, und Ramazzotti. Eine Frau hätte sie auch gern, doch die kann man nicht kaufen. Nicht mal mit viel Geld.
Aber ich werde sie bei der Millionenfrage, die ich sowieso locker weiß, anrufen und ihr sagen, dass sie dreißig Sekunden Zeit hat, eine Annonce für die Richtige aufzugeben.
Meine Tochter darf mich begleiten. Das freut sie, weil sie
A) nicht in die Schule muss
B) Armin Assingers strahlende Zähne live sieht
C) in einem teuren Hotel mit Schokolade auf dem Kopfpolster schlafen darf oder
D) oft und lang im Bild ist, wenn die Mama in die Mitte kommt, wovon wir selbstverständlich alle ausgehen.
DACB Enter.
Also erstmal coole Klamotten kaufen, fernsehtaugliche. Nix Schwarzes, nix Weißes, nix Kleinkariertes, steht in den Anweisungen. Boahh, glauben die wirklich, bei uns zu Hause wäre irgendetwas kleinkariert?
Ich brauche neue Schuhe. Und eine neue Frisur. Unbedingt.
Was, wenn ich mich blamiere? Wenn mir nicht mal mehr mein Name einfällt? Wenn ich auf den viel zu hohen Schuhen umkippe und in Assingers Arme falle? Wenn ich an der 300-Euro-Frage scheitere?
Der Bachblüten-Online-Test beschert mir Tropfen gegen Lampenfieber und Prüfungsangst. Hilft’s nix, schadt’s nix, sage ich mir und schlucke.
Wir fliegen nach Köln.
Irgendwann sind wir im Studio. Ich bin müde, ich stehe sonst auch nie um fünf Uhr früh auf. Briefing von Endemol. Briefing vom ORF. Was darf man sagen, was nicht. Wenn ich in die Mitte komme, sage ich sowieso, was ich will. Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten. So viele Millionen können die mir gar nicht nachschmeißen, dass sie mich zum Schweigen verdammen können. Keine Werbung, sagen sie. Auf Teufel komm raus werde ich werben. Für den Stinki, den meine Tochter auf dem Schoß haben wird. Meine Tochter begleitet mich, werde ich sagen, und der Stinki. Der Stinki ist mein schlechtes Gewissen. Also nicht meins, sondern das vom Jakob. So schaut’s nämlich aus. Und ganz Österreich wird das hören und sehen und am nächsten Tag die Buchhandlungen überfallen und das Buch der Neo-Millionärin wollen.
Die Frau vom Kostüm trägt Jeans und findet unsere Kleidung geeignet. Das wäre ja auch noch schöner gewesen! In die Maske, bitte. Mama, du wirst maskiert? Meine Tochter ist entsetzt. Nehmen Sie ruhig reichlich Lippenstift, säusle ich und stelle erfreut fest, dass das Fernsehen hier nicht spart. Jetzt ins Studio, zur Probe. Staffel 358 bitte, die Kandidaten. Ein bisschen erinnert mich das alles an Massentierhaltung. Werden wir jetzt vor den Schlächter geführt? Ich muss aufs Klo. Ich habe Angst vor öffentlichen Toiletten. Paruresis. Ich gehe trotzdem jede Viertelstunde. Es wäre blöd, wenn Assinger mir die 300.000 Euro Frage stellt und ich sage: Tut mir leid, Armin, ich muss schnell mal pinkeln.
Ich versuche ein paar Witze. Sie scheitern kläglich, die anderen Kandidaten finden mich nicht lustig. Ich mich auch nicht, aber ich finde, mit Lachen wäre alles ein bisschen leichter. Habt ihr was gelernt, frage ich neugierig. Natürlich ist die Millionenshow nur ein Spiel und natürlich hat niemand, der dort sitzt, auch nur irgendwas gelernt. Darauf kann man sich nicht wirklich vorbereiten, sagt der Buchhalter und ich sehe, wie der Taschenatlas aus seiner Aktenmappe lugt.
Also ich schon, verkünde ich stolz. Ich hab total viel gelernt.
Meine Tochter findet mich peinlich.
Eine ältere Frau kaut an den Nägeln und eine Tussi geht nervös auf und ab. Ich biete ihnen mein Fläschchen mit den Bachblüten an. Der Numismatiker schaut streng.
„Wir könnten wenigstens etwas singen!“, schlage ich vor.
Sie schweigen betreten. Ob sie wohl wissen, dass ich nicht singen kann?
Eine Proberunde mit einem Ersatz-Assinger. Man sagt uns, in welche Kamera wir lächeln müssen. Wir lächeln. Tamtaramtammmm. Die Auswahlrunde. Ordnen sie folgende Elemente alphabetisch nach ihren chemischen Zeichen.
A Sauerstoff
B Kohlenstoff
C Gold
D Wasserstoff
CBDA Enter.
Und die Testsiegerin heißt .... tamtaramtammmm ...
Ich lächle überheblich. Schade, dass es nur ein Test war. Meine Tochter findet mich plötzlich gar nicht mehr peinlich.
Dann beginnt das große Warten. Ich esse etwas, weil sie mich bestimmt wieder peinlich finden würde, wenn Armin Assinger meinen Magen knurren hört.
Im Fernsehen sehen wir die Aufzeichnung, die jetzt grad läuft. Natürlich hätten wir alles gewusst, die sieben Todsünden und die Sakramente und die Weltumseglerin und überhaupt alles.
Ja. und irgendwann schubst uns jemand in die Arena. Das Spiel ist kein Spiel mehr, sondern Ernst. Das Publikum tobt. Wahrscheinlich wegen meiner neuen Schuhe. Vielleicht aber auch, weil der Animateur eine Tafel mit „Applaus“ in die Höhe hält. Assinger reicht uns allen die Hand. Er ist riesengroß, auch ohne Schi, und seine Zähne sind weißer als der Schnee im Zielhang der Streif. Sein Händedruck ist fest. Die Hand von Konstantin Wecker auf meiner Schulter war trotzdem schöner. Wärmer.
Tamtaramtaaaaam. Wir werden vorgestellt und lächeln in die richtige Kamera. Eine Sekunde lang. Die Auswahlaufgabe. Ordnen Sie diese kirchlichen Feiertage chronologisch. Und das mir. Die können doch eine bekennende Sozialdemokratin nicht einfach kirchliche Feiertage sortieren lassen. Ich weiß aber, dass der Gründonnerstag nicht unmittelbar nach dem Aschermittwoch kommt. In der Aufregung vertippe ich mich, drücke die Delete-Taste und gebe die Lösung neu ein. Enter. Natürlich bin ich mit zehn Sekunden nicht mehr die Flinkeste. Zweitschnellste. Verdammt.
Bei der zweiten Chance scheitere ich am Schneewittchen. Zur allgemeinen Überraschung scheitern auch alle anderen am Schneewittchen. Also eine neue Aufgabe. Natürlich eine ganz eine leichte. Ich bin schnell. Sauschnell. Drei Sekunden sechzehn. Aber es gibt Momente im Leben, da ist sauschnell zu langsam. Und die Zweite ist immer die erste Verliererin.
Die Seifenblase schwebt an mir vorbei und zerplatzt. Heraus fallen Träume. Ich fürchte, ich muss mir die erste Million erarbeiten. Mein Sohn wird den Traktor kriegen. Den kleinen von Siku, den neunundzwanzigsten. Meine Tochter bekommt statt dem Klavier ein Metronom. Damit sie nicht so taktlos ist in Zukunft. Vielleicht leiht sie es mir manchmal. Und den Sommer verbringe ich im Waldbad, wie die letzten sieben Sommer auch.
Wieder am Flughafen. Um die Spesen, die der ORF mir bezahlt, kaufe ich eine Flasche Ramazzotti. Duty free. Und die Bunte. Das lass ich mir nicht nehmen.
Meine Schulden auch nicht.
testsiegerin - 7. Feb, 20:22
„Elisabeth Kleist“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Hallo? Verdammt noch mal, wer ist da? Schon wieder irgendein dreckiger Stalker?“
Jetzt konnte sie ihn lächeln hören.
„Belästigen sie dich so oft, die Stalker? Na kein Wunder. Schön, deine Stimme zu hören, Elisabeth. Du weißt, ich liebe es, wenn du fluchst.“
„Paul.“
„Ja?“
„Nichts. Einfach Paul.“
„Ja.“
Ihr wurde warm. Sehr warm. Sie wusste nicht, wie er aussah. Wollte es auch gar nicht wissen. Sie wusste kaum etwas über sein Leben, seinen Alltag, und er nichts über ihren. Auch das war gut so, denn es wäre Elisabeth peinlich gewesen, wenn er wüsste, wie und wo sie lebte.
Sie waren einander nicht Alltag, sondern Luxus. Aber diese Stimme, die war ihr mittlerweile vertraut. Sehr vertraut. Und meistens sehr versaut.
„Wo waren wir bei unserem letzten Telefonat stehen geblieben?“, fragte sie unschuldig, dabei wusste sie es genau. In ihren Fantasien waren sie stehengeblieben, immer und immer wieder, in ihren verschwitzten Begierden, in dreckigen Gedanken, die sie mit niemandem sonst so teilen konnte wie mit ihm. Elisabeth schämte sich manchmal für diese Fantasien. Ein bisschen wenigstens.
„Ich nehme an, wir haben über Weltpolitik diskutiert und die Theorien der Vertreter des deutschen Idealismus erläutert“, sagte Paul.
„Ich nehme an, wir haben übers Ficken geredet.“ Elisabeth errötete und schluckte die letzten Reste ihrer Hemmungen hinunter, „darüber, wie du dich erst sanftzart an mir reibst und mich dann hart von hinten nimmst. Und mir dabei total dreckige Sachen ins Ohr flüsterst.“
„Das liebe ich an dir, Elisabeth. Du kommst immer gleich zur Sache. Aber du weißt schon, ich kann mit jemandem so richtig versaut nur reden, mit dem ich auch über die Verbriefungen zweiter Stufe der Subprime-Kredite und über Hegel reden kann.“
„Hegel war ein Arschloch. Er wähnte den Staat in Gefahr, wenn Frauen an der Spitze der Regierung stehen, weil diese seiner Ansicht nach nur nach zufälliger Neigung handelten und nicht im Sinne der Allgemeinheit.“
„Und? Hatte er nicht Recht? Ist unser Staat denn nicht in Gefahr?“ Er liebte es, sie zu provozieren. Er wusste, dass sie sich nach solchen Diskursen wie Wachs in seinen Händen formen ließ.
„Arschloch“, zischte sie in den Hörer.
„Wer? Hegel?“
„Du auch.“
„Immerhin eignen sich Hegels Meinung nach Frauen besonders zum Klavierspielen. Egal, für mich ist er der Philosoph, der seine Zeit in Gedanken fasst. Spannend an Hegel ist ja, dass das nach ihm niemals mehr so gelingen kann - danach, nach diesem ungeheuren Systementwurf, entlarvt sich alles als pure Ideologie. Insofern ist der Mann für mich zumindest ein notwendiges Arschloch.
„Ich muss dir etwas sagen, Paul.“
„Ja?“
„Ich kann gar nicht Klavierspielen.“
„Ich weiß. Du beherrscht das Blasen sicher besser. Ich hätte gern, dass du diese Kenntnisse endlich mal bei mir anwendest. Ich stell mir grad vor, wie du vor mir kniest, mich demütigst anschaust und ich dich an den Haaren näher zu mir ziehe.“
Sie kicherte. Sie seufzte. Sie stöhnte.
„Wo ist deine Hand denn gerade?“, wollte er wissen.
„Da, wo sie hingehört, wenn ich mit dir rede. Unter der Decke.“
„Brav. Stell dir einfach vor, es wäre meine.“
„Red weiter“, raunte sie jetzt. „Von mir aus über die Phänomenologie des Geistes. Hör jetzt bitte einfach nicht auf zu reden.“
*
„Schnell“, rief die Stationsschwester der geriatrischen Abteilung Sonnenblume, „ein entsetzlicher Schrei aus Zimmer 31. Die alte Kleist. Wahrscheinlich ist sie aus dem Bett gestürzt.“
„Ach was“, grinste der Pfleger, „die hat bestimmt wieder mit Herrn Paul vom Zimmer 23 telefoniert.“
testsiegerin - 30. Dez, 12:27
„Komm schon, das brauchen wir nicht.“
„Ja, Mama.“
Artig, aber traurig legte Paul die Marzipankartoffeln zurück ins Regal. Ebenso die Zimtsterne und die Lebkuchenherzen.
„Ach Paul“, seine Mutter ging in die Knie und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Wir feiern Weihnachten wie immer. Wir hängen selbst gemachte Leckerbissen an den Baum und heute Abend basteln wir eine Krippe, ja? Das hat dir doch auch sonst immer Spaß gemacht.“
„Es ist halt nur, weil am Feiertag Besuch kommt. Das hatten wir sonst nie.“
„Du hast dir den Besuch doch gewünscht und Nilüfer und ihre Eltern eingeladen. Freust du dich nicht darauf?“
„Ja, schon. Aber ich mag nicht, dass die denken, wir feiern gar nicht gescheit Weihnachten.“
„Das sind doch eh Türken, Paul. Ich glaube, die interessieren sich gar nicht dafür. Und jetzt lass uns Schnitzelsterne backen.“
Nilüfer war erst seit ein paar Wochen in seiner Klasse. Er wusste nicht, ob ihr Weihnachten egal war. Aber er wusste, dass es ihr überhaupt nicht egal war, wenn die anderen Kinder Nil-Ufer zu ihr sagten. Dann blitzten ihre dunklen Augen gefährlich.
Während die Sterne in der Pfanne brutzelten, rollten Paul und seine Mutter kleine Kugeln aus Faschiertem.
„Die schauen doch aus wie Marzipankartoffeln, oder? Nur schöner.“
Paul seufzte. Nur zu gern hätte er ein paar Süßigkeiten genascht. Was konnte er denn dafür, dass sein Vater Fleischhauer war und seine Eltern den Ehrgeiz hatten, alles selbst herzustellen?
„Hier kommt der Baumschmuck.“ Mit einer großen Metallschüssel betrat Fleischermeister Braunschweiger die Küche.
Frankfurter Würstel waren da drin, Cabanossi, die Fleischbällchen und Salamischeiben auf silbernen Schnüren. „Hmm“, sagte Pauls Vater und steckte sich einen Christbaumbehang in den Mund. „Soll die Currywurst auch auf den Baum?“
„Nein, die essen wir heute zu Abend“, sagte Pauls Mutter. „Wenn wir fertig sind mit der Krippe.“
Den Stall und die Krippe stellte Papa aus langen dünnen Salamis her, die von Zahnstochern zusammengehalten wurden. Während dessen formte Mama jede Menge Köpfe, Arme, Beine und Körper aus Leberpastete. Paul durfte das Jesuskind erschaffen. Dazu hatte er sich Zwiebelstreichwurst ausgesucht. Er legte es in die Salamikrippe und deckte es mit einer Scheibe luftgetrocknetem Schinken zu.
„Und nicht wieder was aufessen“, ermahnte seine Mutter ihn und sie lachten. Vor zwei Jahren, da war Paul nach dem Eislaufen so hungrig gewesen, dass er den Josef auf eine Schnitte Brot geschmiert hatte.
Weil Paul den ganzen Tag weder Engel, Hirten, oder Könige noch den Josef oder die Maria angerührt hatte, knurrte ihm am Heilgen Abend der Magen. Er verdrückte drei Currywürste, bevor er sich über seine Geschenke hermachte.
Als erstes packte er ein Kinderbuch aus: „Zwei Krakauer auf Wanderschaft.“ Ein Computerspiel lag auch unter dem Christbaum, „Fred, der Fleischer“ hieß es und man musste Würstel zählen und sortieren und ans richtige Geschäft ausliefern.
Das schönste aber war ein richtiger Verkaufsstand mit Wursttheke und Grill. Dazu gehörte eine Schürze mit der Aufschrift „Pauls Brathendl“ und eine weiße Mütze. Den ganzen Abend verkaufte Paul seinen Eltern die selbst gemachten Köstlichkeiten und langte selbst auch ordentlich zu.
Ein richtig schönes Weihnachtsfest war das.
In der Nacht darauf jedoch bekam Paul Bauchweh. Nicht wegen der Currywürste, die waren von bester Qualität, sondern weil er sich auf Nilüfer freute. Und sein Bauch zwickte noch ein wenig fester, als ihm einfiel, dass sie die einzige in der Klasse war, die nie von seinen Leberkässemmeln abbeißen wollte.
*
„Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“ Der Fleischermeister stand fassungslos im Wohnzimmer und betrachtete kopfschüttelnd den Weihnachtsbaum. „Hildegard? Warst du das?“
„War ich was? Warum soll ich immer alles gewesen sein? Worum geht‘s denn überhaupt? Du machst immer ein Geschrei wegen jedem...“ Die Fleischermeisterfrau verstummte. Schnaufte. Holte tief Luft.
Zwischen all den wunderbaren Würsteln und Salamis baumelten Karotten, Salatblätter und Fisolen. Unter den Ästen stand sogar eine Schüssel mit Äpfeln und Bananen. Pauls Mutter brach in Tränen aus. So laut heulte sie, dass sie Paul mit ihrem Schluchzen weckte.
„Aber Mama!“, erklärte Paul. „Das ist doch nur, weil Nilüfer und ihre Familie Vegaterrianer sind.“
Jetzt konnten sich Pauls Eltern ein Lachen nicht verkneifen. „Vegetarier heißt das“, erklärte Papa.
Plötzlich wurde Mama wieder ernst. „Willst du damit etwa sagen, die essen kein Fleisch?“
„Nein. Das essen sie nicht. Nilüfer beißt nicht mal in eine Wurstsemmel.“
Pauls Papa kratzte sich am Kinn. Knetete sein Ohrläppchen. Runzelte die Stirn. Er dachte nach. „Vielleicht essen sie ja nur kein Schweinefleisch“, hoffte er. „Wegen ihrer Religion. Die Schnitzel sind ja aus Kalbfleisch und im Kühlhaus hab ich noch Lamm. Türken mögen Lamm. Das braten sie doch in jedem Hinterhof, soviel ich weiß.“
„Ja, Nilüfer mag Lamm. Aber nur zum Streicheln. Wir waren letzte Woche mit der Schule bei einem Schäfer. Ich werde übrigens auch mal Schäfer. Das ist total lässig.“
„Wo bitte ist das lässig? Bei jedem Sauwetter im Regen stehen und Schäferhunde dressieren. Du übernimmst natürlich das Geschäft.“
*
Pünktlich um zwölf klingelte es. Familie Gümüs stand vor der Tür. Vollbepackt mit Schüsseln, Pfannen und Töpfen.
„Danke für den Einladung“, sagte Herr Gümüs. „Wir haben uns sehr gefreut.“
Paul bekam Herzklopfen und feuchte Hände, als er Nilüfer sah. „Komm, ich zeig dir meine Geschenke!“, rief er und zog sie in sein Zimmer.
„Ich hab auch ein Geschenk für dich“, säuselte sie, als er ihr den Hendlstand und das Computerspiel gezeigt hatte. Paul bekam einen roten Kopf. An ein Geschenk für Nilüfer hatte er gar nicht gedacht vor lauter Aufregung.
„Ich muss mal schnell aufs Klo“, log er deshalb, rannte aus dem Zimmer und schloss sich im Badezimmer ein. Wo sollte er jetzt so schnell ein Geschenk herbekommen? Eins das für Nilüfer taugte. Und eins, das auch noch aussah wie ein Weihnachtsgeschenk. Paul öffnete das kleine Schränkchen mit Mamas Schätzen.
Nein, Augenmalfarbe und Lippenstift brauchte Nilüfer nicht. Eine glitzernde Haarspange fand er, die könnte ihr gefallen. Paul lief in die Küche, wo Frau Gümüs seiner Mama die türkischen Speisen erklärte. Paul zupfte an Mamas Kleid und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und gab ihm sogar ein eine kleine leere Schachtel aus der Schublade.
„Jetzt hätte ich doch fast mein Geschenk für dich vergessen.“ Paul hielt ihr das Schächtelchen hin und Nilüfer strahlte.
„Mann, ist die cool! So eine hab ich mir schon immer gewünscht. Danke!“ Sie drückte Paul ganz fest. „Und jetzt mach deins mal auf.“
„Ach ja.“ Paul fasste sich an den Kopf. Er war so durcheinander, dass er sein eigenes Geschenk ganz vergessen hatte.
Hastig rupfte er das Goldband ab und riss das bunte Papier auf.
„Oah… boah…“, verschlug es ihm die Sprache.
„Kinder, Essen ist fertig!“ tönte es aus der Küche. Aber Paul saß mit seligem Gesichtsausdruck da, die Dose in der Hand. Es war nicht irgendeine Dose, sondern eine mit Spongebob Schwammkopf drauf. Und in der Dose war ein Schwamm. Natürlich nicht irgendein Schwamm, sondern einer mit Händen, Hose und dem Gesicht von Spongebob.
„Mama? Darf ich heute noch baden?“
„Ooooh, ist das schön.“ Nilüfers Augen glänzten. Auf dem großen runden Esstisch brannten ungefähr fünfzig Kerzen und Teelichter. Nilüfer und Paul saßen zwischen ihren Mamas. Auf der Seite der Eltern Gümüs standen die vegetarischen Speisen und bei den Braunschweigers die fleischigen.
„Guten Appetit!“
„Afiyet olsun!“
Pauls Papa schaufelte Schweinsbraten mit Kraut und Knödel auf seinen Teller, seine Mama nahm sich Rosmarinlamm mit Speckbohnen. Frau Gümüs schöpfte Kichererbsensuppe in ihre Suppentasse und ihr Mann bediente sich am Zucchini-Auflauf.
Nilüfer schaute. Erst auf die vielen verschiedenen Speisen und dann fragend zu ihrer Mutter.
„Ja, Nilüfer?“
„Darf ich einen Schnitzelstern haben?“
„Kein Schweinefleisch“, beeilte sich Herr Braunschweiger zu sagen. „Das sind Kalbsschnitzerl.“
Frau Gümüs blickte zu Herrn Gümüs. Der nickte.
„Du Mama. Von der Gans kann ich ja die nächsten Tage noch was haben. Du bist eh nicht böse, wenn ich das türkische Essen koste?“
„Aber nein, Pauli. Iss nur!“
Paul zwinkerte Nilüfer zu und kostete als erstes ein gefülltes Weinblatt.
„Reis, Pinienkerne und Rosinen sind da drin“, erklärte Frau Gümüs.
„Hmmm.“ Mehr traute er sich mit vollem Mund nicht zu sagen. „Und was ist das?“
„Imambayildi.“
Und schon stopfte er sich ein großes Stück davon in den Mund.
„Aber Vorsicht“, sagte Nilüfer. „Das bedeutet: Der Imam fiel in Ohnmacht.“
„Wer ist Imam“, fragte Paul. „Dein Bruder?“
Nilüfer lachte. „Das ist ein Vorbeter.“
Paul fiel nicht in Ohnmacht. Die gefüllten Melanzani schmeckten nämlich köstlich.
„Entschuldigung, dass wir kein Fleisch essen“, sagte jetzt Herr Gümüs, als schien er es zu bedauern. „Aber darf ich bitte probieren von die Knödel und Sauerkraut?“
Papa Braunschweiger wandte sich von der Waldviertler Weihnachtsgans ab und ließ seinen Blick über die türkisch-vegetarische Tischhälfte schweifen. „Sind das da Palatschinken?“
„Gözleme heißen die. Gefüllt mit Schafkäse und Spinat.“ Frau Gümüs lud ihm drei davon auf den Teller.
Er schnitt ein Stück ab und biss zögerlich hinein, nickte kurz und verspeiste dann den Rest in Nullkommanix.
„Können Sie meiner Frau bitte das Rezept geben, Frau Gümüs? Das schmeckt ja hervorragend.“
Die beiden Kinder schlichen sich davon. „Ich glaub, die brauchen uns nicht mehr“, sagte Paul. „Weißt du, Erwachsene tun sich manchmal ein bisschen schwer mit neuen Freunden und fremden Sitten.“
testsiegerin - 22. Dez, 12:16
Auf besonderen Wunsch noch einmal:
„Vielleicht die hier?“ Die Verkäuferin nimmt den nächsten Hautballen aus dem Regal. „Die schützt vor Verletzungen und Kritik. Fühlen Sie mal, absolut undurchlässig, wie Regenhaut. Vor allem bei Politikern sehr beliebt.“
Ich streiche darüber und schüttle den Kopf. „Nein, die ist mir zu dick. Ich fürchte, durch die spüre ich das Leben nicht mehr. Und um Kritik geht’s nicht. Die halte ich ja aus. Es geht um ...“ Ach, wie soll ich erklären, was ich selbst nicht verstehe?
Ich will eine Haut, die weich ist und warm. Wie meine eigene. Wenn möglich, ohne Cellulite. Aber das wichtigste: eine, an der abprallt, was mir nicht gehört. Eine, die alles aufnimmt, Berührungen, Gerüche, Wärme, Kälte, aber eine, die von selbst die Poren verschließt, wenn sie aufgrund ihrer Sensoren merkt, jemand beleidigt mich nur, um mir weh zu tun. Oder um selbst besser dazustehen.
„Die Haut heißt Haut, weil man drauf haut, hat mein Onkel immer gesagt.“ Die Verkäuferin greift unter den Ladentisch. „Hier, das habe ich ganz neu hereinbekommen, eigentlich nur für meine Stammkunden, aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen. Semipermeabel. Halbdurchlässig. Mit einer hauchzarten Teflonschicht überzogen. Aber die ist teuer, das sag ich Ihnen gleich.“
Meine Finger gleiten darüber. Sie fühlt sich perfekt an. Hauchdünn, aber doch stark und schützend. Zu perfekt, sie passt nicht zu mir.
„Nein, das ist es auch nicht. Ich fürchte, Sie haben nicht, was ich brauche.“
Mürrisch räumt die Verkäuferin auch diesen Ballen weg. „Ich glaub, Sie wissen gar nicht, was Sie wollen“, grantelt sie. „In Ihrer Haut möcht ich nicht stecken."
"Ich ja auch nicht."
"Hören Sie mir mal gut zu: Viele Leute kommen zu mir, weil Sie sich nicht wohl fühlen in ihrer Haut und mal in eine andere schlüpfen wollen und noch alle haben hier was gefunden. Dann schauen Sie halt woanders hin.“
Sie sieht meine Tränen und legt ihre Hand auf meinen Unterarm. "Tschuldigung", murmelt sie, "ich kann ja auch nicht aus meiner Haut heraus."
Mit den Fingern berühre ich vorsichtig ihre Hand. Die Haut ist zerfurcht und ledrig, an manchen Stellen schimmern die Adern durch, und sie ist voller Einschnitte und Narben. Ich streiche darüber, immer wieder, und werde langsam ruhiger. Sie schweigt, aber sie zieht die Hand nicht weg.
„Und die, die Sie selbst haben?“, sage ich voller Hoffnung. „Die wirkt verletzlich und stark. Die weiß sich zu wehren, denke ich. Sie ist zwar nicht so schön und neu wie die aus dem Lager, aber sie fühlt sich irgendwie so richtig an. So lebendig. So eine hätte ich gern.“
Sie antwortet, was ich ohnehin erwartet habe. „Die gibt es nicht zu kaufen. Die hat mir das Leben gegerbt.“
„Danke“, sage ich leise und verlasse den Laden. „Sie haben mir sehr geholfen.“
Es hat zu regnen begonnen. Aber ich klappe den Schirm nicht auf. Nachdenklich bin ich, und entschlossen. Ich werde mich dem Regen stellen. Und dem Leben.
testsiegerin - 17. Aug, 11:43