Geschichten
Frank Frodor hatte vergessen, es in die Liste einzutragen. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.
Seit Jahren trug Frank alles in Listen ein. Seine Bücher, Cds und DVDs, Fußballergebnisse von der Premiere League bis zur Regionalliga Ost, sein Wohnungsinventar; er führte Listen über die Häuser und Autos seiner Nachbarn - die blauäugige Jennifer zum Beispiel fuhr einen VW Beetle in Toffeebraun metallic, der Hautarzt gegenüber hatte sich vor kurzem einen Audi Roadster, Baujahr 2011, in Ibisweiß gegönnt.
Frank bespitzelte die Menschen nicht, um seine Listen zu füllen, er trug nur ein, was er zufällig erfuhr, was ihm sozusagen über den Weg lief, die Informationen dienten keinem speziellen Zweck. Er hatte nicht vor, jemanden mit seinem Wissen zu erpressen oder eine Doktorarbeit über das Wohn- und Autokaufverhalten der Menschen in seiner Straße zu verfassen. In Wahrheit interessierten die Menschen Frank Fodor nämlich überhaupt nicht.
Frank führte sogar eine Liste über seine Socken. In eine Spalte füllte er das Datum des Einkaufs, in eine andere die Farbe (also dunkelbraun, dunkelgrau oder schwarz), in die dritte die empfohlene Waschanleitung und in die vierte das Ablaufdatum.
Nun könnte man meinen, dass Frank sein Sockenwasch und -einkaufsverhalten auf diese Listen stützte und bei der Firma kaufte, welche die langlebigsten Socken herstellte, aber dem war nicht so. Frank kaufte Socken, wenn er welche brauchte und dort, wo er zufällig gerade war. Er wusch seine gesamte Wäsche mit 40 Grad. Er legte keinen besonderen Wert auf Qualität.
Franks Einkaufszettel waren nicht wie die anderer Menschen mit krakeliger Schrift auf leere Briefumschläge, unbenötigte Visitenkarten oder alte Einkaufsbelege gekritzelt, sondern sorgsam mit Excel-Listen erstellt, in der Reihenfolge, in welcher sie im Einkaufsladen angerichtet waren. Wenn er wollte, konnte er sie auch aufsteigend nach dem Listenverkaufspreis oder der Kategorie (Obst, Milchwaren, Gebäck, Fleisch, Sonstiges...) sortieren lassen. Wollte er aber nicht.
Frank druckte sich die Einkaufsliste nicht aus, das war nicht notwendig, denn er kaufte meistens das Gleiche ein. Zu essen bedeutete für ihn keinen Lustgewinn, sondern lediglich Nahrungsaufnahme, das Ausgleichen der Energiebilanz.
„Ihr müsst wissen, Frank freut sich an Listen“, hatte seine Mutter vor Jahren ihren drei Freundinnen erzählt und ihm dabei abschätzig über den Kopf gestrichen. Zum Glück hieß Frank nicht Liam oder Linhart, oder gar Liam-Linhart, denn seine Mutter hatte eine Schwäche für Alliterationen und hätte sonst womöglich überall hinausposaunt: „Mein Liebling Liam –Linhart liebt Listen.“
In Wahrheit liebte Frank keine Listen, er hegte ihnen gegenüber keine Emotionen, er führte sie einfach. Der Seelenklempner, zu dem seine Kurzzeitexfreundin Gisela ihn geschleppt hatte, und der zu seinem Langzeittherapeuten geworden ist, bezeichnete Frank als affektflach. Gerade so, als wäre es eine Leistung zu toben, zu heulen und vor Freude in die Luft zu springen.
Susanne, eine andere Kurzzeitexfreundin hatte schluchzend ihren Koffer gepackt und ihn verlassen, nachdem er gesagt hatte: „Ich kann dich nicht riechen.“ Was Susanne nicht wusste war, dass Frank im Alter von zwölf Jahren aufgrund einer Virusinfektion seinen Geruchssinn verloren hatte und seither an Anosmie litt. Aber weg war weg, sowohl der Geruchsinn als auch Susanne. Wozu sich noch erklären?
Das alles lag lang zurück. Damals war Franks Welt – für seine Verhältnisse - noch in Ordnung gewesen. Hätte er nur nicht vergessen, „es“ in die Liste einzutragen.
Fortsetzung folgt
testsiegerin - 8. Sep, 09:18
Viele Geschichten enden damit, dass alles nur ein Alptraum war.
Der Protagonist erwacht und stellt fest, dass das Leben in Wahrheit total nett ist. Diese Geschichte endet nicht mit einem Alptraum, sie beginnt damit.
Ich habe geträumt, dass Release 19.84 des neuen Klienteninformations- und -dokumentationssystems endlich online und ab sofort auch das Sexualverhalten unserer Klienten einzutragen ist. Diese Neuerung dient der Arbeitserleichterung, schreibt die Geschäftsführung. Einzutragen sind die wöchentliche Anzahl und Dauer des Geschlechtsaktes und die bevorzugte Stellung (zur Auswahl stehen: Oral, anal, Missionarsstellung, Sonstiges).
Sonstiges? Was bitte denn sonst noch, überlege ich verzweifelt, ist so eine Missionarsstellung nicht pervers genug? Ich rufe in der Zentrale an und werde mit einem Mitarbeiter, der sonst nichts zu tun hat, verbunden. „Komm einfach rüber, Barbara“, säuselt er schleimig, „dann besprechen wir das persönlich.“
Ich lege schnell auf und recherchiere lieber im Internet.
In meiner Aufregung trage ich versehentlich bei der 89jährigen Elaria Pozlacek eine der gegoogelten, versauten Praktiken ein. Delete. Ein neues Fenster öffnet sich. Sie sind nicht berechtigt, den Datensatz zu löschen, heißt es. Wenig später erhalte ich einen Anruf aus dem Pflegeheim. Meine Klientin bestünde darauf, den Anweisungen ihrer Sachwalterin Folge zu leisten.
So kann es nicht weitergehen. Es ist ein Alarmsignal, wenn mein Arbeitsalltag nicht mehr ausschließlich meinen Arbeitsalltag, sondern auch meine Träume dominiert.
Ich schüttle den Traum ab, quäle mich aus dem Bett und logge mich in den Tag ein. Es dauert zwei Tassen Kaffee lang, bis er endlich aus dem Ruhezustand hochfährt. Passwort entspricht nicht den Sicherheitsanforderungen, sagt der Tag, als ich Orson Wells eingebe. 0.Orson_We11s funktioniert zum Glück.
Ich rufe im Büro an und melde mich krank.
„Mach langsam“, sagt die Sekretärin, „ich muss das jetzt in den Computer eingeben. Nur krank genügt nicht mehr.“ Ich höre sie tippen. „Also... Grippaler Infekt, Magen-Darm-Grippe, Menstruationsbeschwerden, Übergenuss von Alkohol, Migrä…“
„Sonstiges“, unterbreche ich sie ungeduldig. „Burnout. Ich gehe heute in Burnout. Morgen bin ich wieder da. Vielleicht.“
Raus, ich muss dringend hier raus. Ich ziehe mich an und verlasse das Haus.
Die Verkäuferin beim Bäcker bitte ich um drei Salzstangerl und ihr Geburtsdatum. Seit kurzem bin ich ständig auf der Suche nach neuen Daten und Fakten.
„15. Juli, Krebs, Aszendent Wassermann“ sagt sie und lacht. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich nicht vergessen möchte, ihr zu gratulieren. „Haben Sie ansteckende Krank...“ Ich schlucke den Rest des Satzes hinunter. Eigentlich möchte ich das von der Frau, die mir Lebensmittel verkauft, nicht wirklich wissen. Aber es gibt mir so ein leeres, schlechtes Gefühl, wenn einzelne Felder nicht ausgefüllt sind.
Die Angestellte an der Wursttheke ist noch halbwegs freundlich, als ich sie nach ihrem Religionsbekenntnis frage und danach, ob sie ledig ist. Als ich „seit wann genau ledig?“ wissen will, wird sie ungehalten und gibt mir die Wurst mit den ausgetrockneten Rändern. Beim Anblick der Leberwurst in der Vitrine überlege ich kurz, ob ich nach der Beschaffenheit ihres Stuhls fragen soll. Lieber nicht.
Jahrelang hatte ich Angst, verrückt zu werden. Man liest ja gelegentlich, dass man in jedem Job irgendwann die Eigenschaften seiner Klientel übernimmt. Ich bin weder verrückt noch kognitiv beeinträchtigt. Oder doch? Ich fühle mich wie in den unsichtbaren Krallen von Dr. Mabuse.
„Warum wollen sie wissen, wo mein Zweitschlüssel deponiert ist?“, fragt mich der Mechaniker in der Werkstatt.
„Nur so“, sage ich und erröte. „Wegen der Arbeitserleichterung.“
„Wie bitte?“
„Nichts, nichts. Alles in Ordnung.“
Ruhe, ich brauche Ruhe. Ich gehe nach Hause, lege mich in die Hängematte und denke nach. Aber es drängen sich immer wieder Masken in meine Gedanken. Hässliche Fratzen, die von mir gefüttert werden wollen.
Ich werde meine Freundin anrufen und mich bei ihr ausheulen.
Keine Verbindung. Sie haben den Kontakt nicht ins Umfeld eingetragen. „Doch, das hab ich!", brülle ich mein Handy an. Sie haben vergessen, auf Übernehmen und Speichern zu klicken, antwortet es wie ein Burgschauspieler auf Drogen.
Ich weine. Ich habe keine Facebook-Freunde, weil ich kein Facebook habe. Jetzt hab ich nicht einmal mehr echte Freunde, weil ich vergessen habe, sie ins Soziale Umfeld einzutragen. Vielleicht ist wenigstens mein Psychiater in der Liste. Standardisierter Kontakt. Postleitzahl beginnt mit der Zwei. Klick.
Er ist nicht zu Hause.
Ich hyperventiliere. Atme. Ich muss wieder runterkommen von dem Trip. Ooooooommmm.
Der Fortschritt in der Gesellschaft und in meinem Job ist nicht aufzuhalten. Wir schreiten fort vom Wesentlichen in unserer Arbeit, den Menschen.
Ich muss es mir eingestehen, ich brauche professionelle Hilfe. Weil es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten, wenn man Hilfe braucht (das erzähle ich zumindest meinen Klienten immer), wende ich mich an den Helpdesk First Level.
Warum geht in meinem Leben alles schief?, tippe ich und hänge einen Screenshot meines schiefen Lebens an.
„Es liegt nicht am Leben“, sagt die Dame vom Helpdesk liebenswert. „Es liegt an dir. Wenn du alles falsch machst, hilft das beste System nicht. “
Ein paar Stunden später versuche ich es noch einmal. Diesmal mit der Frage nach einem Leben nach dem Tod.
„Da gibt es noch Entwicklungsbedarf“, sagt der Helpdesksecondlevelmitarbeiter, „wenn du mit dem Sterben bitte noch auf Release 20.45 warten würdest?“
„Passt sage ich, „um 20:45 muss ich sowieso Fußball schauen.“
Irgendwann werden Außerirdische den Elektroschrott finden und sich wundern, warum jemand festgehalten hat, dass Elaria Pozlacek am 23. Februar ihre Medikamente nicht genommen, seltsame sexuelle Wünsche an den Tag gelegt und einen Weltempfänger bestellt hat. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, welche Informationen sie einmal über mich finden werden. Unser Jahrhundert wird als Zeitalter der unsinnigen Dokumentation in die Geschichte eingehen.
Ich hake den Tag ab. Schlafe. Koche. Sortiere im Kopf die Lebensmittel in die verschiedenen Listen und trage die Kalorien ein. Zur Arbeitserleichterung. Ich schüttle den Kopf, fassungslos darüber, dass ich dieses Argument schon selber glaube.
Irgendwann schlafe ich vor Erschöpfung und dem Gefühl, überhaupt nichts Sinnvolles gemacht zu haben, ein.
Die Nacht verläuft ruhig und traumlos.
Als ich ins Büro komme, sitzen bereits alle Kollegen an ihren Thin Clients und geben Daten ein. Nichts mit Frühstück. Sie würden sonst mit den Eingaben nicht fertig, sagen sie. Noch immer habe ich die Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum ist. „Aufwachen!“ schreie ich hysterisch, und mein Appell gilt mir und ihnen. „Wir müssen endlich aufwachen!“
Sie reagieren nicht, sondern arbeiten weiter, wie ferngesteuert.
Nein, ich bin nicht verrückt, denke ich. Ich öffne die elektronische Akte von Elaria Pozlacek. Ich bin nicht verrückt. Ich drucke sie aus, lege den dicken Stapel aufs Fensterbrett und öffne das Fenster. Ich bin nicht verrückt, murmle ich. Ich starre in die Weite und warte. Lange warte ich. Sehr lange.
Ich kann es hören, noch bevor ich es erkennen kann. Ein silbrigglänzendes Raumschiff landet auf dem Feld.
testsiegerin - 1. Jul, 11:37
„Oh mein Gott“, flüstert Jan Josef Liefers mir ins Ohr, „ich will mit Ihnen schlafen. Oh, wie gern ich das will.“ In seiner Stimme liegt alles, was eine Frau braucht. Sanftheit, Sicherheit, maskuline Stärke, Intellekt, Witz, Erotik.
Meine Hand wandert unter meinen Rock. „Jan Josef, ich will das auch!“, stöhne ich. Eine Spur zu laut, wie ich merke, als meine Mitpassagiere in der Abflughalle in lautes Gelächter ausbrechen.
Ich laufe rot an. Jan Josef hat nicht zu mir gesprochen, sondern seine Stimme Mick Stranahan geliehen, der wiederum nur deshalb mit Joey schlafen will, weil der Autor des Hörbuchs es so möchte. Gut für die Spannung. Joey, die totgeglaubt ist, weil ihr Scheißmann sie über die Reling eines Kreuzfahrtschiffes geworfen hat, was Joey allerdings überlebt hat, weil Mick Stranahan, der Kerl, der jetzt so dringend mit ihr schlafen will, ihr das Leben gerettet hat, was wiederum ihr Mann nicht weiß, der Joey noch immer tot glaubt.
Joey erstellt in Gedanken eine Liste mit den Gründen, nicht mit Mick zu schlafen. Bei Punkt vier gibt sie auf und schläft mit ihm. Mir fällt nicht mal ein Grund ein, nicht mit Jan Josef zu schlafen. Höchstens vielleicht der, dass er mich nicht gefragt hat.
Ich lächle die Menschen, die mich auslachen, liebenswert an. Kennt mich ja keiner, denke ich, spule zurück, weil ich in meiner Aufregung nicht mitgekriegt hab, ob Joey ebenfalls – so wie ich - „Ich will das auch!“ gestöhnt hat. Ich konzentriere mich auf die Handlung und nicht darauf, dass es mein Lieblingsschauspieler Jan Josef Liefers ist, der mir die Geschichte vorliest. Bitte lies mir irgendwann ein Telefonbuch vor, flehe ich ihn an. Bitte das von Tokio.
Es gelingt mir nicht, mich auf das Geschehen in Florida zu konzentrieren, weil einer der 132 anwesenden Frankfurter Wichtigtuer in ihrer Uniform aus grauem Anzug, schwarzen Schuhen, schwarzem Koffer und dunkelgrauer Ignoranz, und zwar nicht irgendeiner, sondern ausgerechnet der neben mir, ein wichtiges Telefonat führen muss. Sein Tonfall hört sich an, als ginge es um Leben und Tod.
Die Performance ist ausgezeichnet, sagt er und atmet tief. Erst denke ich: Oh, auch ein Künstler, ein etwas untypischer Künstler halt, aber ich hänge zum Glück nicht an Klischees. Ich will ihm ebenfalls von meiner Performance am Vorabend erzählen. 150 Leute im Publikum, ich im kleinen Schwarzen mit den Leseschuhen, mit denen ich nur lesen und ficken, aber nicht gehen kann, auf der Bühne. Headset auf dem Kopf. Wichtig. Ein verführerisches Lächeln auf den Lippen. 300 Augen an meinen Lippen. Aber das scheint den Kerl neben mir nicht zu interessieren, er blufft weiter mit seinen Imponiervokabeln wie Cashflow, Blue Chips und Volatilität.
Ich drehe meinen Ipod lauter, aber Jan Josef hat keine Chance gegen ihn. Impertinenz schlägt Intellekt. Ich drücke resigniert auf Stopp. Versuche, dem Geschwätz neben mir zu folgen, aber es will mir nicht gelingen. Das unbeabsichtigte und ungewollte Verfolgen von Handy-Telefonaten ist nicht nur unsäglich und unerträglich, es macht dem Gehirn vor allem deshalb Stress, hab ich mal gelesen, weil dieses ständig damit beschäftigt ist, sich potentielle, plausible Antworten des Gegenübers auszudenken, um die Puzzleteile richtig zusammenzusetzen. Keine halben Sachen.
Mir fallen beim besten Willen keine plausiblen Antworten auf Stop-Loss-Order und Fundamentalitätsanalyse ein.
Der Kerl neben mir redet laut und wichtig, die Menschen neben ihm ignoriert er, weil er sie gar nicht wahrnimmt. Wahrscheinlich verdient er das Zehnfache von dem, was ich verdiene, obwohl er noch nie in seinem Leben etwas Richtiges gearbeitet hat. Noch nie einer alten Frau den Hintern ausgewischt, am Bau Ziegel geschupft oder beim Billa die Regale betreut. Na gut, auch ich habe das alles noch nicht gemacht, aber trotzdem.
Ich denke an die Menschen, die ich am Vortag besucht habe. Die schlanke Blondine, zehn Jahre jünger als ich. Sechs Kinder, die drei minderjährigen, alle geistig schwer behindert, leben bei ihr, und sie sorgt gut für sie. Die ältere Frau, die seit Jahren ihren Mann pflegt. Alkoholiker. Leberzirrhose. Vor zwei Wochen ein Bein amputiert. Nekrosen am ganzen Körper. „Vielleicht muss der zweite Hax’n auch dran glauben“, hat sie gesagt, „beinahe wäre er bei der OP gestorben, aber mein Mann ist hartnäckig“.
Das sind für mich Heldinnen, denke ich, nicht diese Bankenfuzzis, die sich nur ums Geld sorgen und nicht um die Menschen. Geld ist offensichtlich in dieser Gesellschaft mehr wert. Ich frage mich, was die beiden Frauen, die mit den Jungen und die mit dem Alten, von so einem Typen denken würden. Aber diese Frauen fliegen ja nicht von Frankfurt nach Wien. Die fahren höchstens in die Apotheke und in die Sonderschule.
Ey, sei ein bisschen toleranter, ermahne ich mich. Wird bestimmt wahnsinnig wichtig sein, sein Job. Ich komme aber nicht drauf, für wen und warum.
Je länger der Kerl neben mir brabbelt und prahlt, desto wütender werde ich. Nicht nur, weil er mich von Jan Josef abhält. Ich beobachte die anderen Menschen in der Halle. Da, an der Tür. Drei gut gekleidete Araber. Vielleicht ist zufällig einer von ihnen ein Selbstmordattentäter, der die Maschine in die Luft jagt, denke ich, als mir einfällt, dass ich Klischees hasse und außerdem in diesem unwahrscheinlichen Fall auch tot und es um mich ziemlich schade wäre.
„Schluss jetzt mit dem Quatsch!“, brodelt meine ganze Wut an die Oberfläche und kocht über. „Rufen Sie wenigstens Ihre Freundin an und fragen Sie, was es zum Abendessen gibt. Aber wahrscheinlich haben sie gar keine Freundin, weil mit so einem Schleimer keine Frau etwas zu tun haben will. Oder noch besser: Denken Sie einmal über Ihr verkorkstes Leben nach. Konzentrieren Sie sich verdammt noch mal auf den bevorstehenden Flug und machen Sie Ihre Atemübungen. Wenn wir abstürzen, können Sie mit Ihren Aktien scheißen gehen. Halten Sie endlich Ihre verdammte Klappe, Sie präpotenter Arbeitsverweigerer. Solche wie Sie haben uns schon tief genug in den Ruin geritten. Und wenn Sie schon telefonieren müssen, dann bitte heimlich auf dem Klo, nicht in aller Öffentlichkeit. Dieser Schwachsinn interessiert ja keinen!“
Tosender - beinahe möchte man sagen frenetischer - Applaus brandet in der Abflughalle auf. Ja, die haben nur auf so jemanden wie mich gewartet. Auf jemanden, der es einem von denen einmal richtig hineinsagt.
Ich werde kostenlos upgegradet, die Cabin Crew bringt mir Martini, mit Zitrone und Eis. Gerührt. Ein nasses, kühles Tuch für die Stirn. "Entspannen Sie sich ein bisschen, Frau Lehner."
Ich darf mir aus dem Boardkatalog zwei Parfums, vier Lippenstifte und drei Uhren aussuchen, der Pilot lädt mich in das Cockpit ein und erklärt mir die vielen bunten Lämpchen, man serviert mir rosa geschmorten Kalbsrücken mit Frühlingsgemüse-Melange. Der schwule Flugbegleiter massiert meine Füße und für wenige Stunden bin ich Heldin des Alltags, Rächerin der Enteigneten. Ich bin stolz auf mich, und froh, dass ich mich endlich gewehrt habe. Mein ganz persönliches Blockupy in Frankfurt.
„Frau Lehner, aufwachen!“, tätschelt mir die Flugbegleiterin die Wangen. Oh, schon da? Ich schlage die Augen auf. Sie trägt einen blau-weißen Kittel und ein weißes Mützchen. Mein Business-Class-Liegesitz stellt sich als Pflegebett heraus. „Nicht bewegen, Frau Lehner, Ihr Körper ist von Hämatomen übersät. Offenbar sind Sie mit Aktenkoffern traktiert worden und man hat Zigaretten auf Ihren Oberschenkeln ausgedämpft. Auf ihrem Rücken hat jemand die Dax-Börsenkurve eingeritzt. Sie müssen ja etwas Schlimmes angestellt haben, dass die führenden Börsegurus Frankfurts derart über Sie hergefallen sind.“
Tränen kullern über meine Wangen. Ich habe Schmerzen, innen und außen. „Die Infusion wird gleich wirken, Frau Lehner“, sagt die liebenswerte Schwester. „Sollen wir jemanden von Ihren Angehörigen verständigen, oder eine Freundin?“
Ich schüttle den Kopf. „Danke nein. Sagen Sie bitte nur Jan Josef Liefers, dass er kommen und mir vorlesen soll.“
testsiegerin - 26. Mai, 17:46
„Verlieben Sie sich bloß nicht in mich.“ Er zog sie mit seinen Armen an sich und schob sie mit Worten von sich weg.
„Niemals!“ Sie spreizte die Beine und er kam in sie. In ihr.
Sie wussten es beide. Das, was da zwischen ihnen war, hatte keine Zukunft. Sie spürten aber auch: Das, was da ist, hat Gegenwart.
Ich pass auf mich auf, log sie und legte nach und nach ihren papierenen Panzer ab. Wenigstens der sollte nicht zerreißen, wenn es sie zerriss. Dann lieferte sie sich schutzlos aus, ihrem Hunger, seinem Körper, ihren Gefühlen. Sie wollte sich nicht anstecken, nicht mit den drei schlimmsten Krankheiten der Menschheit: Furcht, Zweifel und Zögern.
Nur Leichtigkeit, Genuss und Lust. Gimme five.
Keine Versprechungen. Doch fast unbemerkt schlich sich Nähe zwischen die nassen Küsse. Vertrauen zwischen schwitzende Leiber. Freundschaft zwischen klammernde Schenkel. Hoffnung zwischen dreckige Fantasien.
„Ich kann nicht mehr.“
Es ist nicht wichtig, von wem diese Worte kommen. Es war klar, irgendwann würden sie fallen. Jetzt liegen sie zwischen ihnen, neben der Hoffnung, winden sich vor Schmerzen auf dem samtroten Teppichboden des kitschigen Hotels. Ihr Selbstwert kriecht durch eine Ritze in der Holzleiste unter den Teppich. Nicht schön genug, schluchzt er. Nicht schlau genug. Nicht witzig genug. Nicht sexy genug. Nicht frei genug.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragt sie leise.
„Wie bisher, nur ohne Ficken.“
„Gut. Also dann. Auf den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Sie schaut ihn nicht an. Ihr Blick ist auf den Teppich gerichtet. Die Hoffnung löst sich aus den verzweifelten Umklammerungen der Traurigkeit und zwinkert ihr zu.
Lachen. Weinen. Halten. Loslassen. Lieben.
„Wie gut“, denkt sie, „dass ich mich nicht verliebt habe.“
Vergiss es nicht...
...
vergiss es nicht mein wildes Herz,
und liebe sehnlich jede Lust
und liebe auch den bittren Schmerz
eh Du für immer ruhen musst.
(H. Hesse)
testsiegerin - 19. Mai, 11:59
„Hallo Mama!“ Dorina schließt leise die Tür hinter sich. Jeden Samstag besucht sie ihre Mutter im Pflegeheim. Aus Pflichtgefühl einerseits, aber auch aus Hoffnung.
Als ihre Blicke aufeinandertreffen, fällt die Hoffnung zu Boden und zerbricht leise. Es ist ein vertrautes Geräusch, für beide Frauen.
Dorina küsst ihre Mutter auf die Stirn.
„Kind, wie schaust du denn schon wieder aus?“, zupft diese an ihrem kurzen Kleid. „Ist denen in der Fabrik der Stoff ausgegangen?“
„Hauptsache, dir geht die Boshaftigkeit auch im Alter nicht aus, Mama.“ Dorina öffnet den Schrank und schaut die Unterwäsche ihrer Mutter durch. Wenigstens das Pflichtgefühl ist noch da. Sie faltet die Kombinesch sorgfältig und gibt sie in das andere Fach, eine zerfledderte Unterhose stopft sie in ihre Tasche. Ihre Mutter würde nicht zulassen, wenn sie die vor ihren Augen in den Mistkübel werfen würde. „Brauchst du irgendwas, Mama?“
Ihre Mutter blickt demonstrativ aus dem Fenster, hinaus in den Park. Dort schiebt ein junger Pfleger eine alte Dame im Rollstuhl. „Was ich brauche, kannst du mir sowieso nicht geben“.
„Du konntest mir auch nicht geben, was ich gebraucht hätte“, murmelt Dorina. Pflichtgefühl, lass mich bitte jetzt nicht im Stich, denkt sie und sagt: „Komm, ich mach dir die Haare.“
Die beiden Frauen halten sich am Ritual fest. Schweigend kämmt Dorina ihr das feuchte Haar, schweigend reicht ihr die Mutter einen Lockenwickler nach dem anderen und zuckt vorwurfsvoll zusammen, wenn Dorina zu fest rollt oder den Wickler mit der Nadel unsanft fixiert.
Auch das Schweigen sticht fest zu und schmerzt. Als Dorina den Stielkamm auf die Kommode legt, fällt das gerahmte Sepia-Bild mit dem Soldaten in Uniform um. Dorina lässt es liegen.
„Ach, wenn er doch nur noch am Leben wäre.“ Ihre Mutter schlägt ein Kreuzzeichen. „Aber der Herrgott hat ihn zu sich geholt.“
„Der Herrgott sicher nicht. Eher der Teufel.“ Dorina wickelt fester. Halt dich im Zaum, denkt sie, es hat keinen Sinn mehr. Zu spät, wir werden das nicht mehr ausräumen. Mach nicht das bisschen Nähe auch noch kaputt. Es ist nicht klar, ob die Gedanken ihr selbst oder ihrer Mutter gelten.
„Ich hätt mich auch umbringen sollen, als er da in der Garage gehängt ist. Das wäre besser gewesen.“ Der Körper der alten Frau vibriert, nur ein wenig erst, doch nach und nach wird das Schütteln stärker.
„Du sollst dich nicht aufregen, Mama. Dein Blutdruck ist ohnehin viel zu hoch. Was hat es denn heute zu essen gegeben?“ Dorina wendet sich ab, gießt zwei Gläser Wasser ein und reicht eines ihrer Mutter. Ihr eigenes schmeckt nach einem Cocktail aus Pflichtgefühl, Bitterkeit und Hilflosigkeit.
„Er hat sich so gekränkt, dass du ihn so geschnitten hast. Du hast ihm das Herz gebrochen, Dorina-Schätzchen!“
Stille.
„Er hat meine Seele zerbrochen, Mama. Aber das hat dich nie interessiert. Wenn du deine Tage vorgetäuscht hast, ist er zu mir gekommen!“ Dorina kann weder die Erinnerungen noch die Tränen zurückhalten.
Ihre Mutter hält sich die Ohren zu und schreit: „Das ist nicht wahr. Das hast du dir alles nur eingebildet! Du hast immer schon eine lebhafte Fantasie gehabt.“
„Du hättest mich beschützen müssen, Mama, nicht ihn!“
Das Gesicht ihrer Mutter verfärbt sich bläulich. Sie ringt um Fassung, Luft und Worte.
„Nicht aufregen Mama!“ Dorina drückt die Klingel um die Schwester zu rufen. Dann rennt sie mit dem Waschlappen zum Waschbecken, hält ihn kurz unter das kalte Wasser und legt ihn ihrer Mutter auf die Stirn. Sie streicht ihr zärtlich über die Wange.
Angst, da ist nur noch Angst. Angst und etwas, das sich anfühlt wie Liebe. „Du musst atmen, Mama, komm... einatmen... und ausatmen... alles wird gut, Mama!“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Bitte nicht sterben... Ich hab doch nur dich!“
testsiegerin - 17. Mai, 21:15
Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrem Nadelstreifkostüm, ein letztes Mal aus ihrer weißen Bluse, ein letztes Mal aus dem BH, der sie einengte. Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrer Rolle, die sie viele Jahre mit Befriedigung erfüllt hatte.
„Ich hab’s immer geahnt: Du hast sie wohl nicht mehr alle“, murrte Albert, ihr Mann, als sie packte. Erika antwortete nicht und schmiss anstatt der schwarzen Röcke, gestärkten Blusen und Stöckelschuhe Shirts, Jeansröcke und Sandalen in den Koffer.
„Überleg dir doch mal, was du hier alles aufgibst“, versuchte Albert sie abzuhalten, doch das hatte Erika längst getan. Sie gab das wunderbare Haus am Land und die kleine Wohnung in der Stadt auf, ihren schönen Beruf, das Kapitalsparbuch und den Bausparvertrag. Sie gab Sicherheiten und Sicherheit auf.
„Ich seh schon, wie du reuig zurückkommen wirst“, sagte Albert mit einer Mischung aus Hohn und Verzweiflung.
„Ich will mich selbst finden“, hatte sie ihren Bekannten und ihrer Familie gesagt und alle hatten verständnisvoll genickt. „Erika leidet an Prämenopause“, erklärte ihre Freundin und Ärztin Susanne deren Tochter, „das ist eine sehr schwere Erkrankung und hat ähnliche Auswirkungen wie die Pubertät – nur viel schlimmer.“
Erika hatte nur in sich hineingegrinst. Sich selbst finden, so ein Quatsch, das konnte man überall und nirgends, dafür musste man nicht nach Thailand reisen.
Genau drei Menschen kannten Erikas wahre Beweggründe und Pläne. Ihre Mutter, die immer zu ihr stand, sie an ihre Mutterbrust drückte und sagte: „Du musst tun, was du tun musst.“ Selbstverständlich würde sie sich um den Hund kümmern. Ihre Freundin Hannah meinte nur: „Scheiß dich nicht an, geh!“ Und natürlich wusste ihre Freundin Emma Bescheid. Die war gesetzliche Betreuerin und hatte sie erst auf diese Idee gebracht.
*
„Schon wieder neue Bestellung aus Deutschland, Chefin“, sagte Somchai, der Geschäftsführer, Sekretär und Vertriebsleiter in einer Person war. Er strahlte sie glücklich an und das lag nur zum Teil daran, dass der FC Chonburi das gestrige Spiel gewonnen hatte. Erika lag auf der Veranda in der Hängematte und las in ihrem Krimi. Früher hatte sie Menschen in Führungspositionen gelehrt, wie man richtig führt und kommunziert und sich als Unternehmensberaterin auf Strategieentwicklung, -planung und Umsetzung spezialisiert. Ihre Strategien kosteten vielen Menschen den Job, das hatte sie zu spät bemerkt.
Jetzt leitete sie Slam Clog, eine kleine Pantoffelfabrik in der Provinz Chonburi, die sie einem chinesischen Unternehmer abgekauft hatte. Anstatt wie bisher billige Plastikschuhe mit Giftstoffen wurden nun schwere Holzpantoffel hergestellt. Aus Gummibaumholz von der eigenen Plantage, selbstverständlich FSC-zertifiziert.
Ihre einzige Strategie als Unternehmerin bestand darin, alles zu unternehmen, damit es ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und ihr selbst gut ging und die Kunden zufrieden waren. Das Team von Slam Clog war bunt gemischt. Buddhisten, Muslime, Christen, Hindus, Junge, Alte, Behinderte, Intellektuelle, sogar ein schwuler Priester war darunter... sie waren alle anders und wurden alle gleich wertschätzend behandelt und bezahlt.
Erika schaukelte sanft und erinnerte sich an die Verwunderung, die sie mit ihrem Projekt hier anfangs ausgelöst hatte. Es war nicht wichtig, dass jeweils ein rechter und ein linker Schuh ein Paar bildeten. Es war nicht von Bedeutung, ob die Schuhe passten oder zwei davon jeweils die gleiche Größe hatten. Schön sollten sie sein und gut in der Hand liegen. „Gut in der Hand liegen?“ hatte Thanawat erstaunt gefragt und überlegt, ob er vielleicht etwas falsch verstanden hatte. Ein paar Tage später hatte er den ersten Schuh mit Griff präsentiert.
Bei der Gründungsversammlung hatte Erika ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erzählt, wofür die Schuhe dienen sollten. Nämlich zur Abwehr von Übergriffen, Freiheitsbeschränkung und respektlosem Verhalten vom Pflegepersonal in Alters- und Pflegeheimen.
„Was ist das, ein Altersheim?“, fragte Nermina und schüttelte über Erikas Erklärung fassungslos den Kopf. „Man verstößt in deinem Land die weisen Menschen von der Familie und steckt sie in ein Lager?“
Erika lächelte betroffen über Nerminas Sicht der Dinge. „Nicht nur in meinem Land. In fast allen sogenannten zivilisierten Ländern der Welt.“
Damrong und Nayton, die beiden jüngsten Arbeiter, wurden in den Pausen durch unzählige Versuche zu Ballistikern und entwickelten die geeignete Schuhform für die perfekte Wurfbahn. Nermina und Joy bemalten die Schuhe mit thailändischen Ornamenten, die alte Malee brannte mit einem Brenneisen weise Sprüche in die Holzpantoffel. In der Ruhe liegt die Kraft, oder Der Weg ist das Ziel, Wer sich nicht wehrt, wird nicht geehrt oder Man muss lange leben, um ein Mensch zu werden.
Die Schuhe gingen weg wie die warmen Semmeln. Nicht einmal die holländischen Klompen waren eine Konkurrenz, die wurden vorwiegend für die Touristen hergestellt und ließen sich schlecht werfen.
Erika gründete weitere Niederlassungen, mehr Menschen fanden bei ihr Arbeit, vor allem im Landesinneren. Die Arbeitsbedingungen blieben die gleichen wie im Hauptwerk, Erika sorgte dafür, dass die Leute in dem Ausmaß und in dem Tempo arbeiteten, wie sie wollten, dafür, dass sie das machten, was sie gut konnten oder das lernten, was sie lernen wollten. Niemand sollte ausbrennen, die Arbeit hatte den Menschen und nicht die Menschen der Arbeit zu dienen. Ihre Arbeiter sollten nicht nur ihren Lebensunterhalt mit ihrem Job verdienen, sondern die Arbeit sollte Sinn stiften und Freude machen. Deshalb wurde in den Werken viel gelacht, gut gegessen und Freundschaften geknüpft.
„Es geht mir nicht darum, reich zu werden“, sagte Erika zu dem Journalisten, der extra aus Deutschland angereist kam, um sie für die Sonntagsbeilage zu interviewen, „sondern darum, die Philosophie der Wertschätzung auch für die, die angeblich nicht mehr funktionieren weiterzugeben.“
*
Hannah, Emma, Erika und Erikas Mutter saßen in Bang Saen am Strand und tranken Thai Watermelon Cocktails. Am Nachmittag hatten sie den buddhistischen Tempel Wat Yansangwararam und andere Sehenswürdigkeiten der Gegend besucht. Vor allem aber hatten sie geredet, geredet und geredet.
„Bist du glücklich?“, wollte Hannah wissen.
„Ich glaub schon“, sagte Erika. „Es ist schön zu sehen, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Aber, wenn ich Nachrichten höre, zweifle ich manchmal daran, dass ich mit meinem Projekt tatsächlich etwas bewegen kann.“
„Täusch dich da nicht“. Emma zog die Zeitung aus ihrer Tasche und entfaltete sie.
DIE ALTEN SETZEN SICH ZUR WEHR!, lautete die Schlagzeile. SLAMCLOGS gründen eigene Partei
Erika musste lächeln, als sie ein Bild von sich im bunten Pareo in der Zeitung sah. „Wisst ihr, ich kam mit so viel Wut im Bauch hierher. Aber Gewalt ist doch in Wahrheit auch keine Lösung, oder? Ich hab Angst, dass es irgendwann die ersten toten Pflegerinnen gibt, und ich bin schuld daran. Das will ich nicht.“
„Lies weiter“, sagte Emma.
„Wir Slammies werfen aus Prinzip daneben“, so die 91-jährige Trude Stadler, Listenerste der SLAMCLOGS im Interview. Das ist Teil unseres Parteiprogramms. Viele von uns hängen die Holzschlapfen an die Wand, weil sie mit so viel Liebe gearbeitet und viel zu schön und schade zum Werfen sind. Sie sind ein Symbol geworden. Die Schuhe sind ein Symbol geworden. Ein Symbol dafür, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen. Ein Symbol für Menschenrechte und Freiheit im Alter.“
„Ich soll dich von Albert schön grüßen lassen“, sagte Erikas Mutter später am Abend, als die anderen schon ins Bett gegangen waren. „Er möchte wissen, ob du wiederkommst. Er ist einsam in dem großen Haus und überlegt sich, Susanne zu heiraten, damit eine Frau im Haus ist. Es sei denn, du überlegst es dir noch und kommst zurück.“
Erika schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie leise und überreichte ihrer Mutter ein Paket, „nimm ihm bitte diese Clogs mit. Als Symbol für Menschenwürde und Freiheit im Alter. Mit persönlichen Widmung.“
Leck mich am Arsch, stand drauf.
testsiegerin - 22. Apr, 17:59
„Ich schluck das Zeug bestimmt nicht!“ spuckt Grete Stocker die Tabletten in die Monstera Deliciosa. „Ich war fünfunddreißig Jahre lang Krankenschwester und weiß, was da drin ist. Den Scheiß könnt ihr selber fressen. Und die Grippeschutzimpfung könnt ihr euch ins Knie schießen, wenn ihr wollt!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, greift sie nach dem Hausschuh aus Plüsch und wirft ihn knapp an Schwester Ingrids Ohren vorbei.
Emma Rogner, gesetzliche Vertreterin von Grete Stocker, braucht ihre ganze Konzentration, um nicht zu lachen, als Oberfeldwebel Ingrid ihr empört über diesen Vorfall berichtet und dabei zu hyperventilieren droht.
„Wir müssen die Medikation erhöhen, weil Frau Stocker immer aggressiver wird“, schnappt Schwester Ingrid nach Luft.
„Vielleicht wird sie ja immer aggressiver, weil Sie die Medikation erhöhen wollen“, mutmaßt Emma. „Sie kommt ja jetzt schon kaum noch mit dem Ausspucken nach.“
„Deshalb mischen wir ihr die Medizin manchmal ins Essen“, bekennt die Schwester. „Sonst geistert sie ganze Nacht auf der Station herum und wäre noch unruhiger.“
„Sie tun was?“ Emma Rogner starrt sie fassungslos an. „Das ist medikamentöse Freiheitsbeschränkung und meldepflichtig, verdammt noch mal.“ Ihre Stimme ist leise, während die Wut in ihr aus vollem Hals brüllt.
„Ich will meine Zigaretten!“, schreit jetzt auch Grete Stocker aus dem Hintergrund. „Die haben sie mir schon wieder geklaut.“
Emma Rogner war mit dem guten Vorsatz, sachlich und freundlich zu bleiben, gekommen, aber es will ihr nur schwer gelingen. Sie ist zornig. Sie ist auch müde. Es hat keinen Sinn, mit Schwester Ingrid zu diskutieren. Argumente prallen an ihr ab wie Squashbälle an der Wand.
Emma weiß, dass es auch anders geht. Am Vormittag war sie in der Wohngemeinschaft Vergissmeinnicht, die sie mit Jahresende schließen würden. Aus budgetären Gründen, wie die Leiterin ihr erzählt und eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Als Emma in den Aufenthaltsraum kam, stand Alois Czermak in Gummistiefeln auf dem Esstisch und hielt eine Kampfrede. Er war früher Angestellter der Bezirksbauernkammer gewesen. Anstatt an ihm herumzuzerren und ihn zum Aufgeben zu bewegen, kletterte die junge Schwester Carmen zu ihm auf den Tisch. „Sie wollen heute aber hoch hinaus, Herr Czermak“, lächelte sie ihn an. Sie hörte ihm geduldig zu, als er die Landwirte zum Zusammenschluss und zur Gründung der Vereinigung Österreichischer Rübenbauern aufforderte.
„Tolle Rede!“, applaudierte sie, als er geendet hatte, „sehr eloquent, Herr Czermak.“ Sie stieg vorsichtig vom Tisch und der alte Herr folgte ihr ohne Widerspruch. „Die Erdäpfelsuppe wird kalt“.
Emma Rogner schaudert, wenn sie daran denkt, dass Alois Czermak demnächst unter Oberfeldwebel Ingrid dienen muss.
„Warum hat Frau Stocker schon wieder keine Zigaretten? Ich hab doch erst eine Stange vorbeigebracht.“
Schwester Ingrid betrachtet Emma mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Mitleid. „Wir teilen ihr die Zigaretten jetzt ein. Jede Stunde bekommt sie eine. Meistens steht sie aber ohnehin schon zwanzig Minuten vorher vor dem Dienstzimmer, quält uns und schreit völlig grundlos herum."
„Kein Verhalten ist grundlos", sagt Emma leise. „Wir können den Grund nur manchmal nicht sehen."
Schwester Ingrid hört den Einwand nicht und fährt ungerührt fort: „Außerdem ist ihre Lunge angegriffen. Rauchen ist halt nicht gesund.“
„Ach so. Gut zu wissen. Da hat Frau Stocker ja Glück gehabt, dass sie trotzdem 95 geworden ist.“ Emma sehnt sich nach ihrer Lucky Strike. Deine Dummheit ist auch nicht gesund, denkt sie, verschluckt ihre Gedanken aber.
„Wie würde es Ihnen gehen“, fragt sie die Stationsschwester stattdessen, „wenn man Ihnen das Wenige, das Sie noch haben, wegnimmt und Sie Aufmerksamkeit nur dann bekommen, wenn sie lästig sind? Wenn sie um ihre Zigaretten betteln, Tabletten in den Blumentopf spucken, vor das Bett scheißen oder mit Schlapfen um sich werfen müssen, damit man Sie wahrnimmt? Wie würde es Ihnen gehen, liebe Schwester Ingrid, wenn Sie liebevolle, nicht leistungsorientierte Zuwendung überhaupt nicht mehr kriegen, nur weil sie dement und anstrengend sind?“
Schwester Ingrid blickt auf die Uhr. Es ist halb vier. Dienstschluss. „Schwester Ivana wird sich um Sie kümmern. Auf Wiedersehen.“ Sie knallt die Tür vor Emma zu.
„Vergiss mich“, zischt Emma.
Ich werde Frau Stocker schwere Holzpantoffeln kaufen, denkt sie auf dem Weg zu ihrem Wagen und inhaliert gierig den Rauch der Zigarette. Fünf Paar.
testsiegerin - 14. Apr, 22:33
Das war eine meiner allerersten Geschichten:
Es stank nach Fisch. Sie stank nach Fisch. Er stank nach Fisch. Sie drehte den Kopf zur Seite, als er seine Zunge in ihren Mund stecken wollte und schloss die Augen, als er sich in der Garderobe in sie bohrte. Sie schloss die Augen und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
„Wo warst du?“ brüllte Ana ihr durch den Maschinenlärm zu, als sie wieder in der Halle stand und die toten Fische abspritzte.
„Mir war schlecht“, antwortete sie tonlos. Das war noch nicht mal gelogen.
„Sei froh, dass der alte Moura nicht gekommen ist“, meinte Ana. „Sonst hätten wir uns wieder was anhören können!“
Maria verschwieg, dass Joao Moura soeben gekommen war. Er kam fast jeden Tag. In ihrem Körper. In dem Körper, der ihr einmal lieb und vertraut und der ihr jetzt so fremd war.
„Dir ist schlecht? Schon wieder? Sag bloß du bist schwanger?“ Ihre Freundin schaute sie mitfühlend an. Maria schüttelte den Kopf und arbeitete weiter.
So gern hätte sie mit ihrem Mann ein Kind gehabt. Aber es hatte nicht sein sollen. Um abzuklären, warum es nicht klappen wollte, waren sie in der Klinik gewesen. Die Untersuchungsergebnisse hatte sie nie aus dem Labor abgeholt. Nach seinem Tod war es egal. Und jetzt war ohnehin alles egal.
„Weißt du, was mich wundert, Maria?“ fragte Ana in der Pause und packte ihr Brot aus. „Dass die da...“ sie deutete mit dem Kopf zum Nebentisch, an dem die anderen Frauen saßen und durcheinander redeten, „...dass die da dem Alten noch nicht gesteckt haben, dass du hin und wieder für mich stempelst. Dabei können die uns nicht ausstehen und behandeln uns, als hätten wir eine ansteckende Krankheit.“ Sie biss in ihr Käsebrot. „Na ja, lass uns froh sein, dass sie die Klappe halten. Sonst wären wir den Job schon los.“
Maria zuckte mit den Schultern, schwieg und wunderte sich nicht. Ihre Arbeit war ihr mittlerweile egal. Aber Ana war ihr nicht egal. Und Anas kleine Tochter Laura auch nicht. Deshalb hatte sie ihr ohne zu zögern angeboten, auch ihre Karte in die Stechuhr zu schieben, wenn sie Frühschicht hatten, damit Laura nicht eine halbe Stunde allein vor dem Kindergarten stehen und warten musste.
„Maria, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“ Sie hielt ihre Hand.
„Schon gut, Ana. Du würdest das an meiner Stelle auch tun.“
Ana lebte seit fünf Jahren in dem Fischerdorf im Alentejo. Am Anfang hatte Maria sie nicht leiden können. Ihre Sorglosigkeit. Ihre Schönheit, mit der sie alle Männerblicke auf sich zog. Ihr Lachen, das viel zu laut war. Und später das Glück, das ihr aus den Augen sprang, wenn sie mit ihrer Tochter spielte oder von ihr erzählte.
Dann war der Unfall passiert. Der Sturm hatte die Fischer draußen von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen und die beiden Frauen zu Witwen gemacht. Der Sturm hatte sie schließlich auch Freundinnen werden lassen.
Verstohlen und durch einen Schleier von Tüll und Tränen hatte Maria sie auf dem Friedhof von der Seite beobachtet. Und plötzlich eine andere Ana gesehen als die, die sie kannte. Eine Zerbrechliche. Eine Leise. Aber gleichzeitig eine unheimlich Starke, die dem Leben ins Gesicht spuckte. Die dem Tod die Stirn bot und ihn zornig anbrüllte: „Mich kriegst du nicht klein!“ Doch das Glück in Anas Augen sprang seitdem nicht mehr. Es machte nur noch ganz kleine zaghafte Schritte und drohte in lauter kleine Scherben zu zerbersten.
Trotz oder wegen ihres Schmerzes war Ana nach der Beerdigung mit ihrer kleinen Tochter am Arm geradewegs auf Maria zugekommen. „Wir sollten jetzt zusammenhalten. Das Leben geht weiter. Deins auch, Maria. Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst.“
Sogar in ihrer Trauer war sie stark und stolz gewesen. Selbst in ihrer Einsamkeit hatte Ana gespürt, dass da jemand war, der noch einsamer war als sie. Der sie brauchte.
Maria hatte es nicht geschafft, an Anas Tür zu klopfen. Wieder war es Ana gewesen, die zu ihr kam, mit einer Flasche Wein in der einen und ihrer Tochter an der anderen Hand.
Von diesem Tag an saßen sie oft zusammen, hörten Fado und schwiegen. Bei Ana flossen die Tränen, die ein wenig von der Traurigkeit wegschwemmten. Bei Maria floss nur der Wein. Sie konnte noch immer nicht weinen.
Mit der Zeit hatte das Glück erneut Tritt gefasst in Anas Leben und vorsichtig wieder Sprünge versucht. Das von Maria war Hand in Hand mit dem Leben aus ihrem Körper gekrochen und hatte sich aus dem Staub gemacht. Und sie versuchte nicht einmal, es einzuholen.
Es war eine stille und zärtliche Nähe, die zwischen den beiden Frauen entstand. Sie redeten nicht viel, wenn sie zusammen saßen. Ein warmes tröstendes Band war zwischen ihnen, und die Schwere fühlte sich nicht mehr ganz so schwer an, wenn die andere da war. Ana hatte erleichtert gewirkt, als sich zögernd kleine Flammen von Fröhlichkeit in Marias Augen schlichen. Aber in den letzten Wochen waren auch die wieder erloschen.
Maria hatte Ana nichts davon erzählt, dass die Frauen sie bei Moura angeschwärzt hatten und der über die Sache mit der Stempelkarte informiert war. Ana hatte nicht den blassesten Schimmer davon, dass er Maria zu sich ins Büro geholt, sie angebrüllt und ihr gedroht hatte, sie beide auf der Stelle zu entlassen. Es sei denn, und bei diesen Worten hatte er dreckig gegrinst, es sei denn, Maria käme ihm ein bisschen entgegen.
Maria blieb stehen. Es war Moura , der ihr entgegenkam.
Es war nicht die Angst vor Moura, die Maria davon abhielt, sich zur Wehr zu setzten, als er ihr an die Brust fasste. Es war die Liebe zu ihrer Freundin Ana, die sie beugte. Es war die Sorge um Anas Tochter Laura, die sie in die Knie zwang. Ana war auf den Job in der Fabrik angewiesen. Es gab keine andere Arbeit hier in der Gegend. Nicht im Winter, wenn keine Touristen da waren. Und schon gar nicht für eine Witwe mit einer kleinen Tochter.
Nachdem Moura über ihr und in ihr gekommen war, verschwand Maria aufs Klo und kotzte seine Macht wieder heraus.
Seit Dienstag kotzt Maria nicht mehr. Seit Dienstag ist Moura verschwunden. Seit Dienstag kein Gebrüll mehr über zu langsame Arbeit. Keine Abzüge für zu lange Pausen. Kein in die Knie gehen. Seit vier Tagen.
Maria schneidet sich ein Stück Brot vom Laib und öffnet eine Dose Makrelen. Als sie zur Gabel greift, legt Ana ihr hastig die Hand auf den Arm.
Am Freitag hat Ana durch den Türspalt gesehen, wie Moura seinen stinkenden Fischkörper an Maria gerieben hat. Am Samstag hat sie den Entschluss gefasst. Am Sonntag alles geplant. Am Montag den Plan ausgeführt.
„Nicht essen, Maria!“ sagt sie und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Wer weiß, was da drin ist.“
testsiegerin - 1. Apr, 17:16
Er presste ihn mit den Knien gegen die Wand. Drückte mit beiden Händen so lange zu, bis die letzte Luft aus ihm gewichen war.
Sie stand an den Kühlschrank gelehnt und schaute fasziniert zu. Beobachtete das Muskelspiel an den Oberarmen ihres neuen Freundes, der in diesem Moment so unendlich stark und männlich wirkte.
„Die Paketschnur, bitte“, sagte er zu ihr. Bitte. Er hatte bitte gesagt. Dieses Wort war ihrem Exmann so gut wie nie über die Lippen gekommen. Mit sicheren Handgriffen umwickelte er ihn, schnürte noch einmal fest zu und machte einen doppelten Knoten. „Sicher ist sicher“, grinste er sie an.
Sie lehnte sich wieder an den Kühlschrank. Leckte sich über die Lippen. „Ficken?“ fragte sie.
Er sah sie erstaunt an. „Jetzt? Kannst es schon wieder nicht erwarten?" Sie nickte.
„Ich bin gleich wieder da. Ich schaff ihn noch schnell weg, ja?“
„Aber es ist schon dunkel“, warf sie ein.
„Umso besser. Sieht mich wenigstens keiner.“
„Sicher, dass ich dir nicht helfen soll? Er ist schwer.“
Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. „Sicher, Liebes. Ganz sicher. Ich bin schon groß.“
Als er endlich wieder hoch kam, wartete sie im Türrahmen. Sie trug das kleine Schwarze, hatte Lippenstift aufgelegt und bewegte lasziv ihr Becken.
„Ich wasch mir nur schnell die Hände, dann bin ich für dich da.“
„Mach schnell, ich bin scharf auf dich.“ Sie küsste ihn auf den Mund. „Danke“, flüsterte sie dann, „mich hat schon so vor ihm geekelt.“
„Ist doch selbstverständlich“, murmelte er zwischen zwei nassen Küssen.
Sie strahlte ihn glücklich an. Glücklich und erregt. Nichts ist geiler, dachte sie, als ein Mann, der den Müll runterbringt.
testsiegerin - 1. Mär, 07:46
„Jeden, dva, tři, čtyři, pet, šest, sedm, osm, devět, deset.“ Bei jedem Wort tippt Johanna Sebesta konzentriert auf einen Finger ihrer ausgestreckten Hand vor sich. Sie ist einundneunzig.
„Ich verstehe leider nicht Russisch, Frau Sebesta“, sagt Emma Rogner. „Was möchten Sie mir sagen?“
„Das ist nicht russiche Sprache, sondern tschechische“, erklärt die Betreuerin, legt ein Stück Holz in den Küchenofen und kämmte der alten Frau behutsam das Haar. Es herrscht eine entspannte, ruhige Stimmung in der Wohnküche.
„Jeden, dva, tři, čtyři, pet, šest, sedm, osm, devět, deset.“ Hartnäckig tippt Johanna auch auf die Finger der anderen Hand.
„Ich kann leider auch kein Tschechisch, Frau Sebesta.“ Emma schaut hilfesuchend zur Betreuerin.
„Sie zählt.“
„Ah, haben Sie ihr ein paar Worte Tschechisch beigebracht?“
Jetzt mischt sich auch Franz Sebesta ein. „Hanni und ich sind aus Nikolsburg in Südmähren. 1946 sind wir vertrieben worden. Red halt Deutsch, Mutti!“, fordert er seine Frau auf.
„Zwei, vier, sechs, acht, zehn!“, beweist Johanna störrisch, dass sie auch auf Deutsch zählen kann. Sie tippt weiterhin auf die Finger. „Dvacet, třicet, padesát.“
„Sie hat immer gern Karten gespielt“, erzählt Franz und gießt mit zittriger Hand Tee auf. Er ist jünger als seine Frau, erst neunundachtzig. „Sie müssen wissen, ihre Finger sind für sie Spielkarten.“
„Und was soll ich jetzt mit dem Blatt?“
Emma zuckt die Schultern. Ob das Schicksal Johanna schlechte Karten ausgeteilt hat? Wie sie da so saß im Rollstuhl, die Augen abwechselnd in die Ferne und auf ihre Hände gerichtet, wirkte sie ganz zufrieden.
„Schmeiß es weg, das Blatt, Mutti!“, sagt Franz.
Johanna fasst in ihren Mund, schält das Gebiss heraus und knallt es auf den Tisch. „Oder nein. Ich dreh zu!“ Sie lächelt zahnlos. Emma kann sich das Lachen kaum verkneifen, aber sie möchte nicht, dass die beiden alten Leute das Gefühl haben, ausgelacht zu werden. Die slowakische Betreuerin hält die Dritten unter den Wasserhahn und schiebt sie Johanna wieder in den Mund. „Jetzt gibt es Knedlíky, da brauchen Sie die Zähne.“
Während die Betreuerin Johanna mit den böhmischen Knödeln mit Saft füttert, beantwortet Franz Emmas Fragen. Wie hoch das Einkommen sei? Wie hoch das Pflegegeld? Wer bezahlt die Rechnungen für die 24-Stunden-Betreuung? Wem gehört das Haus? Gibt es Schulden? Versicherungen? Kinder? „Meine Güte“, sagt er und rührt im Tee um, „Sie sind aber neugierig. Und reden tun Sie wie ein Wasserfall. Lassen Sie sich ruhig Zeit, wir rennen Ihnen eh nicht mehr davon“, und nach einer kleinen Pause, „wir sterben Ihnen höchstens weg.“ Emma beißt sich auf die Lippen.
„Entschuldigung, Herr Sebesta.“ Emma bemüht sich, ganz langsam zu sprechen. Wie es ihm damit geht, sich um seine verwirrte Frau zu kümmern. Ob er sich damit nicht manchmal überfordert fühle?
Franz lacht. „Nur von ihren Fragen“, sagt er, „sonst nicht. Das haben wir einander ja versprochen. In guten wie in schlechten Zeiten.“
„Was will die eigentlich von dir?“ keift Johanna zwischen zwei Bissen Knödel in ihre Richtung.
„Nix Mutti, nix. Iss weiter.“
„Ist sehr gute Mann“, lobt die Pflegerin. „Kümmert gut um Frau und zahlt pünktlich.“
Was will man mehr von einem Mann, denkt Emma und verabschiedet sich von Franz. Dann geht sie zu Johanna, ergreift ihre schlaffe Hand mit der beinahe durchsichtigen Haut und drückt sie sanft. „Auf Wiedersehen, Frau Sebesta. Ich wünsch Ihnen was.“
Johanna schaut sie an. Jetzt wirkt sie ein bisschen verstört. „Ich kenn mich grad nicht aus“, sagt sie. „Wer hat jetzt noch mal gewonnen?“
„Sie haben gewonnen, Frau Sebesta, wie immer. Herzlichen Glückwunsch.“
testsiegerin - 12. Jan, 23:35