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Montag, 18. März 2013

Die Stille 2/3

Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Aha, traurig. Ich war also nicht nur humorlos, sondern auch noch ein unübersehbarer Trauerkloß. Ein öffentliches Ärgernis. Eine Spaßbremse vor dem Herrn. Natürlich hatte ich allen Grund traurig zu sein. Meine Arbeit war anstrengend, unerfreulich und unterbezahlt. Meine Ehe so langweilig, wie man dies nach über zwanzig Ehejahren erwarten konnte. Meine Kinder waren verwöhnt und versnobt. Unser Hund nicht minder. Und mein Fußballverein steckte wie immer unten drin und kämpfte erfolglos gegen den dritten Abstieg in Folge. Das waren Gründe genug, um in Depressionen zu versinken und dem Friseur oder dem Arzt mit meinem Gejammer auf die Nerven zu gehen. Trotz allem war ich nicht traurig.
„Die Erderwärmung. Die Bevölkerungsexplosion. Und das Vorabendprogramm“, bot ich ihr trotzdem zur Auswahl an.
Sie lachte. Aus ihren Augen blitzte Fröhlichkeit und eine Leichtigkeit, um die ich sie beneidete, aus ihrem Mund blitzten zwei Goldplomben. „Gegen die Erderwärmung und die Bevölkerungsexplosion kann ich nichts tun“, sagte sie, „obwohl...“ Sie fing wieder an in ihrer Handtasche herumzukramen und ich wunderte mich, dass da immer noch etwas zum Vorschein kam, obwohl ich das Gefühl hatte, dass der gesamte Inhalt bereits ausgebreitet auf ihrem Nachbarsitz lag. „Hier“, sie drückte mir ein Päckchen in die Hand, „gegen die Bevölkerungsexplosion.“ Ich starrte auf die Kondome. Und weil ich beinahe eine Woche nicht in Übung war, was geistreiche Konversation betraf, fehlten mir die Worte. Zum Glück fiel das nicht weiter auf, da die Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern verkündete, dass wir in Kürze den nächsten Bahnhof erreichten und das Mädchen im Abteil aufsprang, ihren Rucksack schnappte und grußlos hinausstürmte.
Die Rothaarige und ich waren jetzt allein im Abteil, und wir hatten – Glück? Pech? Wie auch immer, es stieg niemand zu.
„Wo waren wir stehengeblieben?“ fragte sie. „Ah ja, beim Vorabendprogramm. Vielleicht kann ich ja etwas gegen Ihre Traurigkeit tun?“ Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, schob den Rock ein wenig höher und ließ die Knie auseinanderfallen. „Mögen Sie Rosen?“

Einen Beitrag im Kampf gegen die Erderwärmung leistete sie damit jedenfalls nicht. Mir wurde warm.
„Rosen. Ja. Selbstverständlich. Welcher Mann freut sich nicht über Rosen?“
Sie streichelte eine Rose auf ihrem Knie. „Die sind hübsch, nicht wahr? So rosig. Und so weich.“
Ich nickte. „Und gar nicht stachelig.“
„Eh nicht stachelig. Ich hab sie heute Morgen erst rasiert. Die Beine, nicht die Rosen.“
„Gut so. Rosen sollte man erst im Spätherbst rasieren.“
„Ich bin noch gar nicht im Herbst. Ich bin im Spätsommer, in der Zeit, wenn die Früchte reif sind.“ Sie kramte wieder in ihrer Handtasche. „Wollen Sie eine Zwetschge?“
Ich hielt ihr das Kondom hin. „Gern, tauschen wir. Bevor ich zur Zweigniederlassung Ihrer Handtasche werde.“
„Oh, das ist meine letzte. Dann teilen wir.“ Sie drückte die dunkelblaue Frucht am oberen Ende zusammen, bis sie ein wenig aufplatzte, zog die beiden Hälften auseinander und reichte mir mein Stück. Ihre Finger klebten ein bisschen an meinen, als sie mich berührte.
Dieses Vorabendprogramm fing an mir zu gefallen. War es die kulinarische und körperliche Enthaltsamkeit im Kloster, die jetzt dazu führte, dass eine simple Zwetschge
besser schmeckte als ein Menü im Haubenlokal und die kurze Berührung unserer Finger mir durch Mark und Knochen fuhr? Auch zu Hause hatte sich ein beinahe klösterlicher Umgang zwischen meiner Frau und mir eingeschlichen. Als ich der Rothaarigen in die Augen sah, traf mich ihr Blick, empfangend und warm. All die Oberflächlichkeit, die ich ihr vorhin zugeschrieben hatte, war aus diesem Blick verschwunden und ich erkannte etwas Tiefes, Verletzliches darin. Vielleicht sollte ich meine Vorurteile bei Gelegenheit überdenken. Jetzt hatte ich keine Gelegenheit zum Denken, denn sie leckte mit der Zunge ihre Oberlippe sauber, auf eine liebenswerte, natürliche Art, nicht so, als wollte sie mich provozieren.
Auch an meinen Händen hatte der Saft der Zwetschge seine Spur hinterlassen, genau genommen an meinem Mittelfinger. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn abzuschlecken, was ihr offensichtlich gefiel.
„Schön machen Sie das. Ich könnte Ihnen noch lange beim Schlecken zuschauen“, sagte sie zur Bestätigung, als ich fertig war.
„Wollen Sie auch mal?“ In einem Anflug von Übermut hielt ich ihr meinen sauber gelutschten Finger hin.
„Wo kämen wir denn hin, wenn Männer und Frauen in einem Zugabteil einfach machten, was sie wollten?“
Aber irgendwie machte sie trotzdem, was sie wollte, nur dass sie nicht meinen, sondern ihren eigenen Mittelfinger in den Mund steckte. Ganz langsam ließ sie ihn zwischen ihren frisch bemalten Lippen verschwinden, die wieder ein verführerisches „O“ geformt hatten, bewegte ihn ein bisschen hin und her und zog ihn dann ebenso langsam wieder heraus. Sie betrachtete den verschmierten Lippenstift darauf und glitt mit ihrer Zunge von unten nach oben daran entlang. Dann betrachtete sie ihren ausgestreckten Mittelfinger versonnen.
„So was, jetzt ist er ganz steif geworden“, raunte sie mir mit Augenaufschlag zu.
Sie hatte Recht, das war er. Ich spürte mein Erröten. Wie beiläufig nahm ich ein Buch (Die Entdeckung des Schweigens: Vom Glück der Stille in einer Welt, die den Mund nicht mehr hält) aus meiner Tasche, gab kurz vor, darin zu lesen und legte es so unauffällig wie möglich auf meinen Schoß.
„Entschuldigung“, sagte sie.
„Wofür?“
„Dass ich Ihre Stille und damit Ihr Glück gestört habe.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mein Glück wird durch ganz andere Dinge gestört.“
Am Morgen hatte ich mit dem festen Entschluss das Kloster verlassen, in meinem Leben Ordnung zu machen und mich zu finden. Jetzt wollte ich mich nicht finden, sondern verlieren. In den Armen dieser Rothaarigen, und nicht nur in ihren Armen. Ich wollte ihr Haar riechen, ihren Hals schmecken, ihre weichen Brüste fühlen. Für den Anfang. Später dann wollte ich ihr sanft die Beine auseinanderdrücken und die Innenseiten ihrer Oberschenkel streicheln. Meine Hand auf ihrer Scham ruhen lassen, ohne sie zu bewegen. Nur leicht dagegen drücken und genießen, wie sie langsam feucht wurde und zu beben begann. Irgendwann dann wollte ein Finger mutiger werden und in sie eindringen, nass und glitschig. Dabei wollte ich ihr in die Augen schauen und ihrem Blick standhalten. Vielleicht war es Feigheit, vielleicht Vernunft, auf jeden Fall ließ ich es beim letzten bewenden. Ich schaute ihr in die Augen.
„Glück wird sowieso überbewertet“, unterbrach sie mein Wollen, „zumindest das individuelle.“
Das kollektive Glück und philosophische Diskurse darüber waren mir im Moment ziemlich egal. Ich wollte diese Frau gerne glücklich machen. Und mich.

Fortsetzung folgt

Sonntag, 17. März 2013

Die Stille 1/3

Der dicke Glatzkopf hörte auf an seinem Ohr zu kratzen und erhob sich, griff nach seinem schwarzen Köfferchen und verließ das Abteil. Nun waren wir noch zu dritt und die Rothaarige hatte ihre Seite für sich allein. Sie kramte in der Tasche und holte nacheinander ein Buch, einen Laptop, eine Zeitung, eine Mineralwasserflasche, einen Taschenspiegel, ein Glas Marmelade, ein Handy und einen Lippenstift heraus, verteilte alles wahllos auf den Sitzen zu ihrer Rechten, betrachtete es mit prüfendem Blick und dachte offensichtlich nach. Die junge Frau neben mir seufzte zum soundsovielten Male und drückte auf ihrem MP3-Player herum.
Draußen zog die Landschaft an mir vorüber. Obwohl - in Wahrheit zog ich an der Landschaft vorüber, sie blieb, wo sie immer schon gewesen war. Der Mensch nimmt sich so wichtig, dass er glaubt, alles bewegt sich rund um ihn, obwohl nur er selbst es ist, der keine Ruhe findet. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als die Rothaarige sich erst die Lippen bemalte und aufeinanderpresste, das überschüssige Rot in einem Taschentuch abtupfte, einen Schluck aus der Flasche nahm, die Lippen abermals nachzog, den Laptop aufklappte und zur Zeitung griff.
Ich stellte sie mir in dem Kloster vor, aus dem ich gerade kam. Sie hätte die Schweigeexerzitien vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde durchgehalten. Schweigen im Kloster bedeutete nämlich nicht nur, nichts zu sprechen, sondern auch das Tun auf das Notwendige zu reduzieren. Ins Innen zu schauen anstatt in den Fernseher, nichts lesen, nichts schreiben.

Das Handy der Rothaarigen tat das, was es schon ein paar Mal getan hatte und offensichtlich immer wieder tun musste. Es läutete und spielte eine blecherne Melodie aus den Charts. Sie kramte in der Handtasche, obwohl das Handy immer noch auf dem Polster neben ihr lag, allerdings versteckt unter der Zeitung. Ich hätte ihr das natürlich sagen können, aber ich wollte nicht in ihre Welt eingreifen und das darin herrschende Chaos zerstören. Vor allem wollte ich nicht, dass sie schon wieder minutenlang telefonierte.
Meine Wünsche wurden erhört und Lady Gaga war mit dem Dudeln fertig, noch bevor die Rothaarige fündig geworden war.
Was hat dich bloß so zynisch werden lassen, Oliver?, fragte ich mich, obwohl ich die Antwort natürlich kannte. Mein Beruf war mir längst keine Berufung mehr, in meiner Ehe hatte Routine die Leidenschaft rechts überholt, ich ging auf die Fünfzig zu, und stellte mir die Frage nach dem Sinn. Im Kloster hatte ich zwar nicht die erhoffte Antwort, aber zumindest Ruhe gefunden.
Eine Woche lang hatten Stille, Leere und Gebete mein Leben bestimmt. Das und die bescheidene und gelassene Zufriedenheit der Mönche hatten mich in einen Kokon gehüllt.
Ich wollte diese Stille noch ein wenig genießen, bevor die Hektik des Alltags und die Erwartungen meiner Frau, meiner Kinder und meiner Kunden mich wieder in den Würgegriff nehmen würden. Ich mahnte mich zu mehr christlicher Toleranz und entschuldigte mich bei meinem hyperaktiven Gegenüber für meine gehässigen Gedanken mit einem freundlichen Lächeln.
Mein freundliches Lächeln wurde ebenso freundlich erwidert. Freundlich und ein bisschen überrascht, so als hätte sie mir ein freundliches Lächeln gar nicht zugetraut. Die einwöchige Askese hatte dazu geführt, dass meine Regungen und meine Mimik sich auf ein Minimum reduziert hatten. Bestimmt würde ich am nächsten Tag Muskelkater vom vorübergehenden Lächeln haben.

„Shit, ey, shit!“ Das Mädchen neben mir war unsanft aus ihren MP3-Träumen erwacht und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ein schriller Pfeifton war zu hören. „Boah, ey,
nee.“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf dem pinkfarbenen Kästchen herum und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Ich schwieg. Die Rothaarige natürlich nicht.
„Aber, aber, aber...“ murmelte sie, während sie ihren Kopf in der Handtasche vergrub und ein Kabel hervorzauberte. „Hier, das müsste eigentlich passen. Und hier“, sie klappte die Armlehne hoch, „ist eine Steckdose. Hab ich auch erst vor kurzem entdeckt.“ Sie trug anscheinend ihren halben Hausrat in der Tasche und ihr ganzes Herz auf der Zunge. Ungefragt, und wohl auch unerhört - denn die junge Dame hatte ihre Ohren wieder zugestöpselt - erklärte sie, dass sie immer wieder mal Handys und Ladekabel in Hotels vergesse und deshalb sicherheitshalber stets Reservehandys und -kabel bei sich hatte.

Ich war genervt. Ich war aber auch fasziniert. Ich hatte das Gefühl, in den letzten beiden Stunden mehr über diese Fremde erfahren zu haben als in den letzten dreißig Jahren über meine Frau. Doch dieses Wissen war nur oberflächlich, so oberflächlich wie ihr Geplapper. Was verbarg sich wohl hinter der Oberfläche? Welche Leere versuchte sie mit Lärm und Geschäftigkeit zu übertönen? Als sie in meine Richtung schaute, legte ich den Zeigefinger an meine Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Sie hielt mitten im Wort inne.

Ich senkte beschämt meinen Blick, der zufällig auf ihre Beine fiel, die in sehr ausgefallenen Strumpfhosen steckten. Die Frau schwieg zwar jetzt, aber ihre Strumpfhose erzählte mehr als genug. Von altrosafarbenen Blüten und Blütenträumen. Große Blüten und vermutlich auch große Träume. Auf die Darstellung der Dornen hatte der Strumpfhosenhersteller sicher bewusst verzichtet. Das Auge fühlt ja bekanntlich mit.
Offensichtlich aß die Rothaarige gern, wirkte aber auch ganz gut trainiert, denn sie hatte kräftige Beine, die die Strumpfhose prall ausfüllten. Kleine bräunliche Krümel und winzige Einrisse am rechten Knöchel ließen mich spekulieren, dass sie vor der Zugfahrt noch einen Waldspaziergang gemacht hatte. Danach hatte sie irgendwo einen Kaffee getrunken und ein Stück Erdbeertorte gegessen. Jedenfalls sprachen die Spuren am linken Oberschenkel dafür.
Die Erdbeeren passten nicht so recht zu dem Lippenstift, den sie sich jetzt auf das stumme „O“ malte. Dann grinste sie mich an und Sekunden später wusste ich warum. Während ich sie beobachtete, hatte ich in einem Anflug von unterbewusster Empathie meine eigenen Lippen ebenfalls zu einen „O“ geformt. Spiegelneuronen, fiel mir ein.
Sie hielt mir lachend den Lippenstift hin. „Möchten Sie auch?“
Hätte mir irgendjemand gesagt, dass meine ersten Worte nach den Schweigeexerzitien ausgerechnet „Danke, aber ich steh mehr auf Pastelltöne“ sein würden, ich hätte fassungslos den Kopf geschüttelt oder hemmungslos losgelacht. Das hemmungslose Lachen übernahm die Rothaarige für mich. „Dabei schauen Sie gar nicht so witzig aus“, stellte sie fest, als sie sich wieder beruhigt und einen bösen Blick der jungen Dame geerntet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Aussage als Kompliment werten sollte. Vielleicht hätte ich besser geschwiegen, denn sie veränderte ihre Körperhaltung und wandte sich mir zu. Die Beine hielt sie nun nicht mehr übereinandergeschlagen, sondern öffnete sie leicht. Oh je, dachte ich. Ah ja, dachte ich aber auch und war ein wenig irritiert. Offenbar interpretierte sie mein Danke-aber-ich-steh-mehr-auf-Pastelltöne als Einladung auf ein Gespräch. Ich wappnete mich innerlich, denn ich rechnete mit eine Fragenattacke nach Alter, Beruf, Urlaubsdestination und Lieblingsspeisen und überlegte, wie ich diese Fragen bestimmt, aber höflich – und witzig, denn ich muss zugeben, dass mich ihre Einschätzung, dass ich gar nicht so witzig aussähe, ein wenig kränkte - parieren könnte. Sie wollte nichts von alldem wissen. Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Fortsetzung folgt

Sonntag, 3. März 2013

und wartet

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Einen großen Teil unseres Lebens verbringen wir mit Warten. Moritz wartet auf den Zug, Maike wartet auf Moritz, Renate auf Rudi und Rudi auf die Rente. Jan wartet auf die große Liebe, Brigitte und Annabella auf Kundschaft, Karin auf Erfolg, Hannah aufs Leben und Gustl aufs Sterben.
Weil sie so beschäftigt sind mit Warten, verwechseln sie Schienen mit Abstellgleisen, erkennen nicht, dass die Weichen längst gestellt sind oder dass der Zug ohne sie abzufahren droht.

Eine tragisch-komische-lautleise-berührende-witzige Geschichte über Menschen, Leben und Warten. Von und mit den Toll3sten Weibern.

Kontakt: tolldreisteweiber@gmx.at

Montag, 18. Februar 2013

Adelheid

Ich war eine Schönheit damals, auch wenn man mir das nicht mehr ansieht.
Von fernen Stränden und aufregenden Städten hab ich geträumt. Ich wäre gern Reisebüroangestellte geworden. Aber das nächste Reisebüro war in Zwettl, und nach Zwettl waren es 38 Kilometer und am Abend ging kein Bus mehr nach Hause. Also hab ich Koch/Kellner gelernt, beim Kirchenwirt im Nachbardorf.
Die Lehre hab ich abgebrochen, nachdem der Kirchenwirt nicht aufgehört hat, mich zu begrabschen.
Am schlimmsten war’s, als die Chefin schwanger war, wahrscheinlich hat’s ihn dann nicht mehr ranlassen. Kaum hat sie ihren Hintern zur Wirtsstube hinausbewegt, hat er mir auf den Busen gegriffen, während ich die Gläser gespült hab. Oder zwischen die Beine. „Du willst das ja auch“, hat er gesagt, aber das war gelogen. Ich wollte den Franz. Erzählt hab ich die Sache mit dem Chef niemandem, nicht einmal dem Franz. Hätt mir sowieso keiner geglaubt, das war damals nicht anders als heute. Wahrscheinlich hätten sie gesagt, dass ich selber schuld bin, wenn ich in dem kurzen Dirndl servier.
Das wollte ich auch nicht, das hat der Chef so von mir verlangt. „Da trinken die Gäste mehr“, hat er gesagt, und dass ich nicht so zimperlich sein soll.
Als die Mutter draufgekommen ist, dass ich nicht mehr dort arbeit, hab ich Watschen gekriegt. Es waren nicht die ersten.
Dann hab ich nicht mehr Gläser gespült, sondern Gläser hergestellt, in der Glasfabrik. Bis der Franz gesagt hat: „Lass uns nach Griechenland abhauen.“ Lange braune Haare hat er gehabt und ein rotes Stirnbandl. Vor allem aber einen umgebauten VW-Bus, mit gebatikten Vorhängen, einer Stereoanlage und weichen Matratzen.

„Wennst jetzt gehst, brauchst gar nicht mehr heimkommen“, hat meine Mama gesagt. Ich wollt eh nicht mehr heim zur Mama und zur Oma. Meinen Papa hab ich nie kennengelernt, in der Geburtsurkunde steht keiner. Wenn ich gefragt hab, haben sie zu heulen begonnen, die Mama und die Oma. Es gab Gerüchte im Dorf, dass es ein russischer Besatzungssoldat war, aber Genaues weiß man nicht.

„Is this the way to Amarillo“, haben Franz und ich im Bus gegrölt und uns frei und mutig gefühlt. In Spielfeld hat der VW-Bus dann noch ein paar Mal geächzt, und das war es dann mit Griechenland. Der Franz ist allein weitergestoppt, und ich bin mit dem Zug nach Hause gefahren. Später dann hab ich erfahren, dass der Franz nicht in der weiten, sondern in der Buckligen Welt gelandet ist.
Als ich nach Hause kam, waren meine Sachen schon gepackt. Die Mama hat wirklich ernst gemacht.
Da kam der Gustl mir grad recht. Der war Stammgast beim Kirchenwirt und hat mich bei sich schlafen lassen. Wir haben gesoffen und geredet und eins ergab das andere. So schnell hab ich gar nicht schauen können, war ich schwanger. Am Anfang hat der Gustl auch noch Träume gehabt und vom Reisen geredet. Nach Amerika wollt er, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Pah, Amerika. Das weiteste, wo wir je waren, war der Klopeinersee.
Ich war total überfordert mit dem Gschrapp, und der Gustl hat sich auch nie wirklich um die Hannah gekümmert. Wenigstens gearbeitet und Geld heimgebracht hat er. Gern gehabt hab ich ihn nie wirklich. „Das kommt schon mit der Zeit“, hat die Oma gesagt, "die Liebe ist nicht das Wichtigste in einer Ehe". Aber es ist nie gekommen. Ich bin nur wegen der Hannah nicht gegangen. Ich wollt unbedingt, dass sie es einmal besser hat als ich. Dass sie eine richtige Familie hat, eine mit einem Mann im Haus, dass sie eine Ausbildung fertig macht und es ihr gut geht.
Und jetzt? Jetzt wirft sie mir vor, dass ich geblieben bin. Dass ich dadurch nicht nur mein, sondern auch ihr Leben kaputtgemacht hab. Undank ist der Welten Lohn. „Schau dich doch einmal an, Mama!“, sagt die Hannah. "Schau, was aus dir geworden ist."

Als hätt ich keinen Spiegel.

Freitag, 15. Februar 2013

Karin

Ich war die zweite von vier Töchtern. Meine Eltern hätten viel lieber einen Sohn bekommen. Ich wäre auch lieber der erste Bub gewesen als das zweite Mädchen.
Ich war eine gute Schülerin. In Englisch und Deutsch war ich Zweitbeste. „Deine Aufsätze sind immer so traurig“, hat die Deutschlehrerin gesagt, „schreib doch einmal was fröhliches, wie die Hanni.“ Ich hätte ihr erklären können, dass das Leben auch mit fröhlichen Aufsätzen nicht besser wird, aber es hätte nichts genützt.

Erst hab ich Blockflöte gelernt und dann Violine. Ich war richtig gut. Endlich einmal war ich in etwas richtig gut. Am liebsten mochte ich die Stücke von Mahler. Nach meinem Ellbogenbruch hab ich im Streichquartett nur noch die zweite Geige gespielt. Wie im Leben auch.

Und irgendwann kam Rudi. Schöne Augen hat er mir gemacht mit seinen schönen Augen, auf der Modellbaumesse. Er war aufmerksam und ein richtiger Gentleman, zwar wesentlich älter als ich, aber sehr attraktiv. Er hat mich hofiert, mir Komplimente gemacht und mich umschwirrt. Das hat so verdammt gut getan. Ehrlich gesagt, ich hab mich nicht für diese Miniaturlandschaften und -züge interessiert, ich hab mir halt während meines Germanistikstudiums auf diversen Messen Geld verdient. Auch auf der Briefmarken- und der Erotikmesse. Eine wie die andere. Sogar das Publikum war das gleiche.
Die halbe Nacht haben wir geredet. Sehr eloquent. Sehr klug. Sehr schön. Pointenreich.
„Du hast einen Vaterkomplex“, hat meine Freundin Brigitte gesagt, als ich sie angerufen und brühwarm von ihm erzählt hab. Brigitte ist Therapeutin.

„Wie schön, dass du nicht nur zu multiplen Sarkasmen fähig bist“, hat Rudi nach der anderen Hälfte der ersten Nacht gesagt und nicht mehr aufgehört, mich überall zu küssen.
In der zweiten Nacht hat er mir gestanden, dass er verheiratet ist. „Yeah, Zweite!“, hab ich gerufen und damit nicht nur die Reihenfolge unseres Kommens gemeint. Ich hab gelacht, dabei hätte ich heulen können. Aber ich wollte nicht, dass er geht.
Dass er sich sowieso gern scheiden lassen würde, hat er gesagt, sich aber Sorgen macht um die Renate, weil sie ja nichts gelernt hat und auf ihn angewiesen ist. „Sie braucht mich, verstehst du, mein Engel?“

Er hat mir versichert, dass er mit ihr nicht mehr schläft. Ich hab ihm das nicht geglaubt. Das erzählen die Männer ihren Geliebten doch alle, oder? Brigitte hat gesagt: „Das kannst du ihm schon glauben.“ Das hat sie bei ihrem Mann auch geglaubt, obwohl der jahrelang eine Affäre hatte. Alle haben sie es damals gewusst, nur die Brigitte nicht.

Einmal hab ich den Rudi nach dem Essen gefragt, warum er die Renate überhaupt geheiratet hat, wo er doch eh immer so schlecht über sie redet, dass sie nicht kochen kann und spießig ist und keinen Wert auf sexy Kleidung legt und so weiter.
„Wegen der Alliteration“, hat Rudi gesagt. „Ich habe gelesen, dass Ehen, in denen die Vornamen der Partner mit dem gleichen Buchstaben beginnen, glücklicher sind als andere. Da dachte ich, Rudolf und Renate Reinthaller, das wird die perfekte Ehe.“

Renate malt. „Volkshochschule, erstes Semester“, findet Rudi. Ich finde das nicht in Ordnung, aber das trau ich mich ihm nicht zu sagen. Rudi kann mit Kritik nicht gut umgehen. Von meinen Texten hält er auch nicht viel, das merk ich, auch wenn er mir dann übers Haar streicht und „das hast du schön geschrieben“ sagt.

Natürlich hab ich mir schon öfter überlegt, mich von ihm zu trennen. Zweitfrau zu sein ist nämlich nicht so aufregend wie es klingt. Zu Weihnachten immer allein. Im Urlaub immer allein. Keine Anrufe. Aber Rudi braucht mich. „Verlass mich nicht, mein Engel, meine Erfüllung, mein Leben“, sagt er oft. Dann küsst er mich und geht. Nach Hause zu seiner Frau.

Ich hab Angst, dass er sich etwas antut, wenn ich ihn verlasse, er wirkt oft so depressiv. Manchmal denke ich, es wäre schön, einmal im Leben Nummer Eins im Leben eines Menschen zu sein. „Fang bei dir selber an“, sagt Brigitte dann, „sei Nummer Eins in deinem Leben.“
Ausgerechnet sie sagt das.

Samstag, 9. Februar 2013

Jan

Wir saßen beim Italiener. Mama, meine zwei Schwestern, Mamas neuer Freund und ich. Meine Schwestern sind in Wahrheit nur meine Halbschwestern, wir haben drei unterschiedliche Väter. Eine Schwester einen New Yorker Maler mit jüdischen Wurzeln und die andere einen Geschäftsführer eines All-inclusive-Clubs in Djerba. Mein Vater war Arzt in Amsterdam. Irgendwie kann ich verstehen, dass keiner der drei es länger als zwei Jahre mit Mama ausgehalten hat.
Trotz der Entfernung sind sie alle ihre Freunde und unsere Väter geblieben. „Ich liebe sie immer noch“, sagte Mama oft, und jedes Mal, wenn sie das sagte, zuckte Klaus, ihr Neuer zusammen. „Vielleicht hätte ich sie nicht verlassen sollen“, sagte sie auch hin und wieder, dabei waren es immer die Männer gewesen, die gegangen waren. Mama war schön, bunt und schrill. Klaus war höflich und lieb, aber ein bisschen spießig. Er passte nicht zu uns.

Mama war Schauspielerin. Sie hatte zufällig gerade ein Engagement und daher Geld in der Tasche. Wie immer, wenn sie Geld in der Tasche hatte, lud sie uns zum Nobelitaliener ein. Wenn sie keines hatte, was viel häufiger vorkam, oder wenn der Unterhalt für uns Kinder nicht pünktlich eintraf, gab es Spaghetti in allen Variationen. Mit Tomatensoße, Aglio und Olio, mit Thunfisch, Carbonara, Bolognese. Oder Pizza aus dem Tiefkühlfach.

Es passierte zwischen Antipasti und Primo Piatto. Die erste, große Gier war gestillt, doch der Hunger noch lange nicht, die Vorfreude auf das, was noch kommen sollte, war groß. Es war einer dieser Momente, in dem alle Sinne und Poren aufnahmebereit sind. Ich schwöre, ich hatte es nicht geplant, irgendwann vielleicht, aber nicht für diesen Abend. Doch als Paolo Contes Max durch den Raum waberte, spürte ich, dass dieser Augenblick der richtige, ja, der einzig mögliche war.

Enrico, der schöne Oberkellner mit der Elvis-Tolle und dem verschmitzten Lächeln, hatte gerade die Vorspeisenteller abserviert, auf meiner Zunge lag noch der Geschmack von gerösteten Babycalamari auf Ruccola und gerösteten Pinienkernen. Ich verstand nicht, wovon Paolo Conte sang, aber das Lied erzeugte Gänsehaut auf meiner Seele. Nur ein paar Worte fing mein Geist auf, und unter diesen Worten waren vor allem zwei, die meine Aufmerksamkeit und mein Herz erregten. Max und segredo. Geheimnis.
Ich trank einen Schluck Sauvignon Blanc, obwohl mir Wein nicht schmeckte, und kratzte meinen Mut zusammen.

Im Kopf war ich diese Szene schon unzählige Male durchgegangen. „Ich bin draufgekommen, dass ich homosexuell bin“ klang zu steril. „Ich bin ein stolzer, schwuler Mann“ zu pathetisch und hätte wahrscheinlich Lachanfälle meiner Familie ausgelöst. „Ich hab mit einem Kerl gevögelt“ war zu ordinär und die Wahrheit - nämlich „ich habe mich in Max verliebt“ - zu romantisch.
„Ach ja, hab ich vergessen zu sagen“, sagte ich so beiläufig wie Ich hab eine Zwei minus in Mathe, „ich bin schwul.“
Enrico stellte die Linguine mit Parmesancreme mit Trüffel vor mich. Ich schwöre, er hat mich noch eine Spur verschmitzter als sonst angelächelt.
„Armer Kleiner“, sagte Jacoba, meine große Schwester und strubbelte mir durchs Haar. Sie wusste, dass ich beides nicht leiden konnte, das Strubbeln und das Kleiner. „Das gibt nur Probleme, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Du weißt, wovon du...?“
„Sicher. Ich steh schließlich auch auf Männer. Die sind so ungeheuer kompliziert.“ Sie rollte die Augen und wickelte die Nudeln auf die Gabel.
Meine kleine Schwester konzentrierte sich auf ihr Smartphone und ich dachte erst, sie suchte nach einer Taste, mit der sie sich aus dieser peinlichen Situation wegbeamen konnte. „Ich hab’s!“, rief sie plötzlich und las einen Spruch aus Facebook vor: „Niemand sucht sich Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aus. Aber jeder kann wählen, ob er ein Arschloch ist.“
„Jamaal!“, sagte Mama.
„Ich hab doch nur gemeint, dass Jan ganz bestimmt kein Arschloch ist. Er ist einer von den Guten.“
„Danke, Süße.“ Sie konnte es nicht leiden, wenn ich sie Süße nannte.

Mama leckte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel, schenkte allen Wein nach und sagte: „Danke, dass du es uns gesagt hast, Jan. Ich hab mir so etwas Ähnliches eh schon gedacht“. Sie sagte es im gleichen Tonfall wie sonst Reichst du mir bitte mal das Salz rüber? Was bitte war etwas Ähnliches wie schwul?, dachte ich und wollte fragen. Aber Mama lächelte mich an und sagte nur: „Reichst du mir bitte mal das Salz rüber?“

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Kein Erdbeben, keine Tränen und keine Vorwürfe, dazu war meine Familie viel zu durchgeknallt und tolerant – oder war es bloß Gleichgültigkeit, weil alle mit sich selbst beschäftigt waren? Dass mein Outing sie weniger überraschte als hätte ich soeben gestanden, bei den Pfadfindern zu sein, das verblüffte – und kränkte mich jedoch. Ich hätte mir mehr Aufmerksamkeit für diesen denkwürdigen Moment gewünscht, in dem ich mich vor mir und meiner Familie zu meiner Sexualität bekannte. Vor allem von Mama.
Es war nämlich so: Auch, wenn ich es mir vormachte – es war doch nicht normal, schwul zu sein! Es machte mir Angst, verwirrte mich, wirbelte mich durcheinander. Ich wollte mich erklären, kämpfen, reden, mich rechtfertigen. Aber Mamas Aufmerksamkeit galt der Kalbsleber nach Borgo Art mit Zwiebeln, Sellerie und Polenta. „Heute hat der Koch sich wieder selbst übertroffen“, sagte sie.

Einzig und allein Klaus, Mamas biederer, lieber Freund, erkannte meine Notsituation und versuchte mich zu retten. Er hörte auf zu essen und legte das Besteck zur Seite. „Aber Jan, das kann man in dem Alter doch noch gar nicht so genau wissen“, sagte er und zwinkerte mir aufmunternd zu, „das geht bestimmt vorbei. Spätestens, wenn die Richtige kommt.“

Samstag, 2. Februar 2013

Teilen

„Du kannst nicht schon wieder was vorlesen, Mama“, sagt sie. „ Du warst schon fünfmal da und hast jedesmal etwas vorgelesen. Teil halt einmal etwas anderes. Das, was du schreibst, interessiert die Leute nicht.“ Wahrscheinlich hat meine Tochter Recht, denn während ich zu lesen beginne, beginnen zwei Gäste eine angeregte Unterhaltung.

Es gibt viele hier, die besser schreiben können, witziger, sprachgewandter, pointierter. Aber was soll ich sonst teilen? Ich könnte über den Spaß am Theaterspielen und die Arbeit und das Vergnügen mit den Toll3sten erzählen, aber das wissen die meisten ohnehin. Oder wie sehr ich im Flow versinke, wenn ich Silberschmuck schmiede. Ich könnte etwas Selbstgekochtes mitnehmen, ich kann gut kochen. Aber das ist nichts besonderes, es gibt viele hier, die wesentlich besser kochen.
Was könnte ich teilen? Ich kann mir keinen Trüffel leisten und die vorletzte Flasche Hofer-Champagner hab ich getrunken, als Ernst Strasser verurteilt wurde. Die letzte brauch ich für Grasser, die kann ich nicht hergeben.
Ich reise nicht viel, also kann ich nicht mal mit preiswerten jemenitischen Ziegenaugen aufwarten. Das weiteste, wo ich je war, ist Lanzarote. Einen Lavastein von dort hab ich noch, aber was ist ein simpler Vulkanstein gegen das Sehorgan eines vorderasiatischen, widerkäuenden Paarhufers?
Wofür es sich zu leben lohnt? Na fürs Leben halt. Weil es einfach da ist, und wo es schon einmal da ist, ist es doch besser, es so zu leben, dass es sich lohnt, als ständig darunter zu leiden, oder? O.k., an mir ist keine grandiose Philosophin verloren gegangen.
Für meinen Beruf lohnt es sich zu leben - aber abgebaute, einbeinige Alkoholiker, die ihrer Familie mit dem Umbringen drohen, demente Damen, unter deren versifften Matratzen ich nach Sparbüchern suche oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, deren Intelligenz immerhin ausreicht, jede Woche einen neuen Handyvertrag abzuschließen und mir immer einen Schritt voraus sind, sind für andere nur bedingt spannend.
Für meine Kinder lohnt es sich zu leben, aber mit Kindern ist es wie mit Katzen, man mag sie, man hasst sie oder man ist allergisch. Wenn man sie mag, dann hauptsächlich die eigenen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass alles in meinem Leben entsetzlich banal ist und alle anderen im Gegensatz zu mir ein richtig aufregendes Leben führen. Sie sind Musiker, Filmschaffende, Schriftsteller, Philosophen, Lebemenschen und Lebensmenschen. Oder wenigstens so richtig cool.
Ich arbeite und ernähre meine Familie, gehe dreimal die Woche ins Fitness-Studio, schaue am Wochenende gern Schirennen oder Fußball, je nach Jahreszeit und – ja, ich gestehe - lästere jeden Donnerstag bei Austrias next Topmodel ab. Ich schäme mich dafür, dass ich mich nicht einmal schäme dafür.

Ich habe das Gefühl, überhaupt nichts so richtig gut zu können. Ich weiß, darum geht es nicht, nicht im Leben und schon gar nicht im Salon. Man muss da nichts beweisen, sondern nur etwas teilen. Aber mein Gefühl schert sich einen Dreck darum, ob es darum geht, sondern drängt sich deppert dazwischen und macht sich wichtig. A propos: deppert sein kann ich ziemlich gut, aber sogar dabei werde ich von den meisten hier locker überrundet.
Teilen soll ich und würde ich auch gern, aber ich weiß nicht, was, wo doch die ganze Welt ohnehin alles per Facebook teilt, vor allem Katzen, Kinder und Kochen. Katzen kochen wäre vielleicht noch was. "Die hundert besten Katzenrezepte des Weinviertels" oder "Kinder kochen Katzen".

Zum Glück gibt es Menschen in meinem Leben, eine Handvoll vielleicht oder zwei, mit denen kann ich teilen, wie es sich anfühlt, sich nicht gut genug zu fühlen. Wie es ist, wenn das Leben und die Bank einem manchmal richtig Angst einjagen. Zum Glück gibt es Freundinnen, die ich um drei Uhr früh anrufen kann, weil ich geträumt habe, dass mir die Buchteln verbrannt sind, weil die Bremsen bei meinem Auto versagt haben. Und welche, die verstehen, dass es bei uns reinregnet, weil ich mir letztens in Linz lieber das Kleid gekauft hab als neue Dachziegel. Acht Quadratmeter Dachziegel hätte ich für dieses Kleid gekriegt.
Meine Freude teile ich mit diesen Freunden, meine Gedanken und meine idiotischen Selbstzweifel. Das teile ich auch hier. Weil ich tief drin weiß, dass hier auch andere Menschen mit einem Dachschaden sind. Da riskiere ich sogar, dass jemand sich beim nächsten Mal über weibliche Betroffenheitsliteratur lustig macht.

Samstag, 5. Januar 2013

Annabella

Sie war wahnsinnig schön, als sie im Sarg lag. Schöner als je zuvor. Ich schwöre, sie hat mich angelächelt, mit ihren roten Lippen. Sie sah aus wie Schneewittchen. Als Papa sich zu ihr hinunterbeugte, war ich überzeugt davon, dass sie die Augen aufschlägt, wenn er sie küsst. Er hat sie nicht geküsst, sondern nur die Haare aus ihrem schönen Gesicht gestrichen. Außerdem war der Sarg nicht aus Glas und Schneewittchen nicht Dornröschen.

Ich war 14, als meine Mutter starb. Ich war hin- und hergewürfelt zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Märchen und Michael Jackson. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, Mama möge nach dem schrecklichen Unfall wieder lebendig sein und der Gewissheit, dass nichts je wieder so sein würde, wie es war.
Papa wollte mir den Anblick meiner toten Mutter ersparen. Ich sollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Zwei Tage lang aß ich nichts und sperrte mich in mein Zimmer ein. Ich hörte Mozarts Requiem in Endlosschleife. Nie wieder wollte ich herauskommen, nicht aus meiner Daunendecke und nicht aus der Musik, die mich umspülte.
Erst, als Papa an die Tür klopfte und sagte: „Zieh dich an, wir fahren zu Mama“, beendete ich meinen Hungerstreik und meine freiwillige Gefangenschaft. Die Kinder- und Jugendpsychologin, an die Papa sich in seiner Verzweiflung gewandt hatte, fand, dass es wichtig für mich wäre, meine Mutter noch einmal zu sehen, wenn ich mich von ihr verabschiedete.

Als ich an Mamas Sarg stand und über das glatte Ahornholz strich, fühlte ich mich auf eine eigenartige Weise getröstet. Sie lächelte mich an. Die Traurigkeit über ihren Verlust war zwar enorm, aber mit einem Mal hatte der Tod seinen Schrecken für mich verloren. Er hatte nicht die Macht, dem Leben seine Schönheit zu nehmen; das beruhigte mich. Friedlich und zufrieden sah Mama aus. Vielleicht sogar zufriedener als am Tag ihres Unfalls, da hat sie sich in der Früh über mich geärgert, weil ich verschlafen hatte und sie mich zur Schule bringen musste.
Sie war wunderschön in ihrem Sargbett, ein wenig blass, doch das Rouge brachte ihre Wangenknochen gut zur Geltung.
Noch am selben Abend beschloss ich Bestatterin zu werden.

Mein Papa litt sehr unter dem Tod meiner Mama. Ich natürlich auch, aber mindestens genauso litt ich darunter, dass seine Fröhlichkeit und sein Humor mit ihr gestorben war. Während meine Freundinnen herumzickten und sich von zu Hause abnabelten, bemühte ich mich, ein liebes, fröhliches Mädchen zu sein. Ich setzte alles daran, meinen Papa wieder zum Lachen zu bringen und war glücklich, wenn es funktionierte. Die glückliche, junge Frau zu spielen, die andere mit ihrem Lachen ansteckte, ging mir so sehr in Fleisch und Blut über, dass ich es irgendwann tatsächlich war. Es ist nachgewiesen, dass man sich besser fühlt, wenn man lacht, auch wenn einem eigentlich nicht zum Lachen zumute ist. Versuchen Sie mal, einen Hampelmann zu machen und dazu zu schreien: „Ich bin traurig!“ Das klappt einfach nicht. So lernte ich, das Positive und Schöne im Leben und in den Menschen zu sehen und nicht das Traurige und ihre Defizite.

„Was du nicht besiegen kannst, mach dir zum Freund“ hatte Mama immer gesagt. Mit Mathe und meinem Mathelehrer war mir das nicht gelungen, vielleicht gelang es mir ja mit dem Tod.

Der Bestatter staunte nicht schlecht, als ich ein paar Wochen später vor seiner Tür stand und darum bat, bei ihm arbeiten zu dürfen. „Du werd’ erst mal erwachsen!“, sagte er und lachte, „so ein junges Mädel sollte sich mit schöneren Dingen als dem Tod beschäftigen“.
Ich kam am nächsten Tag wieder. Und am übernächsten und überübernächsten Tag auch. „Der Tod schert sich auch nicht darum, ob jemand erwachsen ist oder nicht“, sagte ich. Irgendwann wurde er weich und ich kam jeden Samstag. Am Anfang ließ er mich noch nicht an die Leichen, sondern teilte mich für Büroarbeit ein. Bald wusste ich alles über Särge und ihre Preise, über Grabsteingravuren und Friedhofsgebühren. Aber ich blieb hartnäckig, und nach und nach bemerkte er, dass ich auch gut mit Menschen umgehen konnte, mit Trauernden und mit Toten. Die Angehörigen fühlten sich mit ihren Ängsten und Schuldgefühlen von mir verstanden und angenommen, obwohl ich noch so jung war.

Nach der Matura hab ich nicht nur am Samstag in der Bestattung ausgeholfen, sondern wurde fix dort angestellt. Mein Papa hätte mich zwar lieber als Flugbegleiterin gesehen, aber auch er war machtlos. Er spürte, dass mein Beruf mich glücklich machte und so, wie ich wollte, dass Papa glücklich war, wollte auch er, dass ich es war und akzeptierte meine Berufswahl.

Vor allem die Thanatopraxie ist meine Leidenschaft, ich hab etliche Seminare zu dem Thema besucht. Dort lernte ich die Vorbereitung der Leichen für die Beisetzung. Am liebsten mag ich die optische Wiederherstellung von Unfallopfern.

Vor ein paar Tagen hatten wir eine Frau da, die beim Bergsteigen abgestürzt ist. War ganz schön viel Arbeit. „Bringen Sie das Kind mit“, sagte ich zum skeptischen Vater, „es ist wichtig.“
„Glauben Sie wirklich?“
„Ja“.

Sie sieht aus wie Schneewittchen, dachte ich, als ich mein Werk vollendet hatte. Ich wischte mir eine Träne aus den Augenwinkeln und lächelte zufrieden.
„Sie können sich jetzt von ihr verabschieden“, sagte ich zum Ehemann, der seine kleine Tochter an der Hand hatte, und begleitete die beiden zum Sarg.
„Papa, schau mal, wie schön Mama wieder ist! Sie sieht aus wie Katy Perry.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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