Kiloweise Kirschenkerne
aß Kurt-Konrad, liebend gerne
und hockte hinterm kahlen Strauch
Ob ein Kirschbaum wächst im Bauch
wollt’ der kleine Knabe wissen
Die Kerne hat er ausgeschissen
Käthe Kurz aus Kotezicken
die Kröte mit den kecken Blicken
hat die Kerne nicht geschluckt
sondern über’n Zaun gespuckt
Ein besonders dickes Stück
traf Konrads Kopf – was für ein Glück!
Es war nicht Zwetschke und nicht Nuss
wo’s Jahre später kam zum Kuss
auch nicht am Kaktus mit den Feigen
Sie küssten unter Kirschbaumzweigen
und Käthes kecke Backen glühten
während Kirschbaumblüten blühten
Kurt Konrad backte Kirschenkuchen
man hörte Käthchen keifend fluchen:
„Ich hab auf einen Kern gebissen!“
(Der kranke Zahn ward’ ausgerissen.)
Die Käthe rief: „Ein Kirschkomplott!“
weigert seitdem sogar Kompott
Kurt Konrad schmerzt das Kreuz, das Knie
er kränkelt, keucht, und krächzt wie nie
Sein Körper, der wird krumm und krummer
das macht der Käthe großen Kummer
Drum pflückt sie Kirschen, Tag für Tag
Obwohl sie Kirschen nicht mehr mag
Sie lutscht die Kerne, und für ihren Manne
spuckt kraftlos sie die in die Kupferkanne
Vorm Kirchgang näht mit dicken Bäckchen
sie lauter kleine Kirschkernsäckchen
So kommt’s, in kühler Vollmondnacht
zur heißen Kirschkernkissenschlacht
testsiegerin - 18. Mai, 17:44
Die Himbeere rot und süß
hat nichts mit dir zu tun
das Gras zwischen meinen Zehen
auch nicht
schon gar nicht der Wind
der heimlich mit der Sonne
unter meinen Rock schlüpft
So viel Macht hast du nicht
über mein Leben
Ich schaue dem Schmetterling nach
der deinen Namen in die schwüle Luft malt
meine Hand folgt dem Wind
und die Himbeere
fällt auf meinen Bauch
Mein Lächeln hat nichts
aber auch gar nichts
mit dir zu tun
testsiegerin - 29. Apr, 11:21
Luzia erschrak, als sie den Briefumschlag mit dem Trauerrand aus dem Postkasten nahm. Erst als sie die Sonnenbrille abnahm, erkannte sie, dass der Rand nicht schwarz, sondern weinrot war. Was hatte das zu bedeuten?
Mit dem Zeigefinger riss sie noch im Stiegenhaus das Kuvert auf. Sie setzte sich auf die Stufen und strich das Blatt Papier glatt.
Ein Partezettel, ebenfalls mit dunkelroter Umrahmung und mit dem Namen ihrer Freundin drauf. Beate Schwimmer. Nein, bitte nicht. Lieber Gott,wenn es dich gibt, lass das nicht wahr sein. Das ging ja gar nicht, fiel ihr ein, ich hab doch heute Vormittag noch mit ihr telefoniert. Hatte sich jemand einen bösen Scherz erlaubt?
Anstatt des Kreuzes eine Sonnenblume. Rechts oben, wo für gewöhnlich die tröstlichen Worte standen, die die Angehören aus der Vorlagenmappe des Beerdigungsinstituts ausgewählt hatten, stand:
Non, je ne regrette rien. Rien de rien. (Edith Piaf).
Und für die, die kein französisch verstanden, die Übersetzung: Nein, ich bereue nichts.
Luzia zitterte und las. Atmete tief ein und erleichtert aus. Beate selbst lud zum Abschiedsfest. Am Samstag in zwei Wochen. Im Schlosspark. Abschied? Hatte sie vor, länger zu verreisen?
Liebe Freunde, liebe Verwandte, schrieb Beate,
ich hoffe, ich habe euch nicht erschreckt. Wenn doch, dann tut es mir leid. Es geht um folgendes: Ich werde sterben. Ich weiß, ihr werdet alle zu meinem Begräbnis kommen, um euch von mir zu verabschieden. Sogar du, Onkel Jeff, wirst aus Irland anreisen. Und du, Peter, aus Heidelberg. Es ist nur so: Ihr werdet einander dann zwar sehen, um mich weinen und euch über mich unterhalten, aber ich werde nicht dabei sein. Also dabei sein werde ich schon, aber ich werde nicht mitweinen können, nicht mitlachen. Nicht mitsaufen, obwohl Jeff diesen fantastischen irischen Whiskey mitgebracht haben wird.
Ich werde die salbungsvollen Worte des Pfarrers nicht hören, sondern ein paar Meter (six feet, oder?) unter der Erde anfangen zu vermodern.
Um die Worte des Pfarrers tut es mir nicht leid, der kennt mich ohnehin nicht, weil ich nie in der Kirche war. Aber ihr seid mir wichtig. Ich hätte euch so gern noch einmal alle hier bei mir. In meinen Armen, an meinem Tisch, in meiner Nähe. Zu meinem nächsten runden Geburtstag wärt ihr vielleicht auch alle gekommen, um ein halbes Jahrhundert Beate mit mir zu feiern, aber bis dahin sind es noch neun Jahre.
Ja, ich will, dass ihr mir die Blumen schenkt, so lange ich noch lebe. Ich will, dass ihr euch zu meinen Lebzeiten für mich schön macht.
Darf ich mir etwas wünschen von euch?
Also passt gut auf: Von dir Michaela und von dir Elisabeth, meine lieben Schwestern, wünsche ich mir, dass ihr euch spätestens bei meinem Abschiedsfest versöhnt. Legt endlich eure Sturheit ab und tut das, wonach ihr euch sehnt, dass es die andere tut. Schließt euch in die Arme und verzeiht einander.
Mit dir, Susanne, möchte ich zu Gloria von Patti Smith tanzen, vor dem Schlossbrunnen. Und du, Brigitte, kriegst du das bis zum übernächsten Samstag hin, es zu singen? Jesus died for somebody else, not for me ...
Das will ich so sehr.
Den Wein besorg ich selber, Uwe, sonst kommst du wieder mit diesem billigen, grausigen Fusel angetanzt. Tante Ingeborg, du bring bitte Nusstrudel mit, mit ganz viel Fülle und ganz wenig Teig. Du weißt ohnehin, wie ich ihn gern habe.
Von allen, die gerne möchten, besonders aber von dir, Luzia und von dir, Hermann, wünsche ich mir einen Nachruf. Einen richtig schön-schaurigen, witzigen, schwarzen, ehrlichen Nachruf. Einen, wo alle anderen zu heulen anfangen. Heißt ein Nachruf zu Lebzeiten überhaupt Nachruf? Na gut, eine Laudatio halt. Aber wer weder den Pulizter-Preis noch den Oscar verliehen bekommt, der kriegt halt normalerweise keine Laudatio.
Ach ja, noch eine letzte Bitte. Kein Wort über den Tod und meine Krankheit. Weder zu mir noch untereinander. (Ich weiß, das wird schwer für dich, Elli.) Ihr wisst, wie sehr ich es hasse, übers Kranksein zu reden.
Ich freu mich auf euch, meine Lieben.
Eure Beate
Luzia schluckte. Puh. War Beate übergeschnappt? War sie tatsächlich todkrank, obwohl sie aussah wie das blühende Leben? Warum wusste sie das als beste Freundin dann nicht? War etwa alles ein Scherz, und das mitten im Sommer? Man scherzte nicht mit dem Tod, dachte Luzia und hörte Beates unausgesprochene Antwort: Man vielleicht nicht, ich schon. Luzia griff nach ihrem Handy, legte es aber gleich wieder zur Seite. Wenn Beate betonte, sie wolle nicht über die Krankheit, welche auch immer, sprechen, dann meinte sie es auch so. Beate war die hartnäckigste Frau, die sie kannte. Und die konsequenteste. Dass sie einen schweren Hang zum Morbiden hatte, überraschte Luzia nicht wirklich.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Nachbar, der sich an ihr vorbeischwindelte.
„Keine Ahnung.“
War es nicht eigentlich egal, warum Beate sich dieses Fest wünschte? Zählte nicht allein die Tatsache, dass sie das tat? Und hatte sie, Luzia ihr nicht ewige Freundschaft und Treue geschworen, damals, als sie am Waldbach einen Stausee gebaut hatten, vor tausend Jahren?
„Ich möchte einen Kranz bestellen“, sagte Luzia ein paar Tage später zum Blumendealer ihres Vertrauens.
„Mein Beileid“,kam es wie aus der Pistole geschossen, „wer ist denn gestorben?“
„Noch niemand.“ Mit verschränkten Armen signalisierte Luzia, dass sie keine Lust auf ein Schwätzchen hatte.
„Was darf es denn sein? Rosen? Lilien? Gerbera?“
„Sonnenblumen. Dazwischen Rosmarin, Salbei und Minze.“
„Ähm...“ Als er Luzias bestimmten und unnachgiebigen Blick sah (den hatte Beate ihr beigebracht) nickte er. „Marokkanische Minze oder Apfelminze?"
„Marokkanisch klingt gut. Und ein bisschen Gras.“ Er schaute sie fragend an und sie flüsterte verschwörerisch: „Marihuana, Sie wissen schon.“ Er lächelte und wusste.
Der Nachruf war beinahe fertig. Mehr als eine Woche lang hatte sie jede freie Minute daran herumgestrichen, hinzugefügt, ausgebessert, gefeilt. Und trotzdem würde er nicht gut genug sein. Nicht gut genug für Beate.
Was sollte sie anziehen? Bei einer Hochzeit durften die Gäste nicht schöner sein als die Braut. Galt das bei einer Trauerfeier auch? Aber Beate hatte ausdrücklich darum gebeten, sich schön zu machen. War schwarz angebracht? Oder gar weiß? Luzia entschied sich für ein knielanges, türkisfarbenes Sommerkleid. Das passte auch wunderbar zum Kranz, denn ihn zierte eine Schleife aus Seide, ebenfalls in türkis. Ich bereue auch nichts, stand mit sichtbaren, gestickten Goldbuchstaben darauf. Und mit unsichtbarer Tinte: Schon gar nicht, deine beste Freundin zu sein.
Die Sonne knallte vom Himmel und die Luft flirrte in der Hitze. Zum Glück spendete die riesige Rotbuche Schatten. Die Tische waren mit Köstlichkeiten gedeckt. Es gab Griechisches Zitronenhuhn mit Rosmarinkartoffeln, das hatte Onkel Paul in seinem Restaurant gekocht, und natürlich gab es auch all die anderen Lieblingsspeisen von Beate und ihren Freunden. Und zwei Meter Nussstrudel von Tante Ingeborg. Viel Fülle, wenig Hülle.
„Tschuldigung, darf ich ein bisschen Minze aus dem Kranz zupfen, für die Bowle?“, zwitscherte ihre Arbeitskollegin und auch der Kollege zupfte, rollte das Gezupfte in ein Paper und inhalierte.
Beate trug ein tief dekolletiertes, langes Leinenkleid in Sonnenblumengelb und war wunderschön.
„Dürfen wir wenigstens weinen?“, wollte ihr Ex-Mann wissen und sie drückte ihn an ihre Brust. „Vor fünfzehn Jahren hättest du heulen sollen“, schnappte sie, „da hätte ich vielleicht rechtzeitig gemerkt, dass du zu Emotionen fähig bist. Nimm dir noch ein Glas Chardonnay, ja?“, zwinkerte sie. „Aber pass auf, dass deine Frau das nicht merkt. Übrigens, hast du Michaela und Elisabeth gesehen?“
„Deine zerstrittenen Schwestern? Wahrscheinlich duellieren sie sich im Schlosshof!“
Brigitte sang eine Zwanzigminuten-Version von Gloria und trotz des lauen Abends bekamen die Gäste Gänsehaut. Bei den dreiundzwanzig Nachrufen, einer schöner und gefühlvoller als der andere, wurde geschluchzt, gelacht und gewiehert. Der allerschönste kam natürlich von Luzia. Er enthielt alle jugendlichen und gar nicht mehr jugendlichen Schandtaten, strich liebevoll über Beates Macken und Perversionen und endete mit „der liebenswertesten und altruistischsten Egoistin, die ich kenne.“
Jeder schenkte Beate etwas ganz Besonderes. Ein selbstgemaltes Bild, ein selbstgeschriebenes Gedicht, selbstgefädelte Ketten und selbstverfasste Liebeserklärungen.
Onkel Paul jonglierte mit fünf reifen Mangos, Gertrud steppte zu "Singing in the Rain" und Jeff öffnete die dritte Flasche Jameson Gold. Sláinte!
Trunken vor Glück und Alkohol lehnte Beate sich an Thomas, an der einen Hand hielt sie Stefan, an der anderen Georg. „Ich liebe euch alle“, lallte sie. „Und jetzt, wo ich auch weiß, wie sehr ihr mich liebt, werde ich mir das mit dem Sterben noch einmal überlegen.“
Die Leute verstummten und Patrizia legte die Gitarre zur Seite. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass jemand eines der verbotenen Wörter in den Mund genommen hatte.
„Auf’s Leben“, erhob Beate ihr Glas. „Prost.“
Als ihre beiden Schwestern gemeinsam und strahlend das Geschirr weggepackt und sich die letzten Gäste umarmungsreich verabschiedet hatten, nahm Luzia Beate an der Hand. „Lass uns im Mondschein spazierengehen.“ Sie wanderten am Schloss vorbei, am kleinen Teich, an den beiden Reiterstatuen. Sie rochen Wilden Jasmin, reife Himbeeren und die klare Nacht. Sie fühlten die Nähe der anderen.
Gerne hätte Luzia die Frage gestellt, die ihr die ganze Zeit durch den Kopf spukte, aber sie schluckte sie tapfer hinunter. Beinahe hätte sie vergessen, dass Beate verschluckte Gedanken lesen konnte, als diese mit klarer Stimme sagte: „Ja, ich muss sterben. Früher oder später. Wie du auch.“
testsiegerin - 26. Apr, 20:08
Ich war zehn. Gerlinde war auch zehn. Es war ein heißer Augusttag und wir saßen auf einem Baum im Park, wie so oft.
„Ich kann nicht mehr deine Freundin sein“, hat Gerlinde gesagt und mir hat es mein junges, unschuldiges Herz zerrissen. Erst ein paar Tage zuvor hatten wir Pläne geschmiedet. Eine Riesenrutsche wollten wir bauen, vom Hochhaus zur Schule, direkt durchs Fenster rein in die Klasse, wir hatten uns nur noch nicht einigen können, von welchem Stock aus wir starten würden. Ich wohnte im zehnten, in der Hausmeisterwohnung, sie im siebenten.
„Warum können wir keine Freundinnen mehr sein?“, hab ich gefragt und daran gedacht, dass wir ja so gerne einmal mit einem Flugzeug fliegen wollten. Auf einer besonders weichen Wolke würden wir aussteigen und ein Schaumbad nehmen, und von der Nachbarwolke würden wir naschen. Eine andere Freundin hatte uns nämlich erzählt, es gäbe Schaumbadwolken und Zuckerwattewolken. Daraus sollte nun nichts werden?
„Du gehst ja ab nächste Woche ins Gymnasium“, hat sie gesagt und vom Apfel abgebissen, „da können wir keine Freundinnen mehr sein, weil du was Besseres bist.“
Ich schämte mich. Verdammt, ich wollte nichts Besseres sein. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich Klassenbeste war und die Lehrerin meinen Eltern empfohlen hat, das Gymnasium zu besuchen. Ich wollte im Apfelbaum sitzen und Waterloo und Robinson hören und nicht dieses Waterloo erleben. Luftschlösser und Luftrutschen wollte ich bauen und auf der Luftrutsche in die Schule düsen und nicht mit dem Bus ins Gymnasium. „Wenn ich das gewusst hätte“, hab ich geflüstert, „dann hätte ich den letzten Aufsatz verhaut.“
Es half alles nichts mehr. Gerlinde kletterte vom Baum, sagte „Tschüs, mach’s gut“ und das war es. Das Ende unserer Freundschaft, obwohl wir im selben Haus wohnten.
Fünfunddreißig Jahre ist das jetzt her, aber noch immer gibt es mir einen Stich, wenn ich an die Apfelbaumszene denke.
Und im Moment denke ich wieder sehr heftig daran. Denn endlich – für mich vierzig Jahre zu spät – wird über die Gesamtschule aller sechs- bis vierzehnjährigen diskutiert. Und die konservative Elite und die, die sich dafür halten schreit auf! Es kann doch nicht sein, sagen sie, dass unsere hochbegabten, gutsituierten Kinder mit der Unterschichtsbrut die Schulbank drücken. Das ist Nivellierung nach unten, brüllen sie. Schließlich darf den Privilegierten nicht das Privileg abhanden kommen, bessere Bildungschancen zu haben als die weniger Privilegierten, die Armen und die MigrantInnen. Wo kommen wir denn da hin? Es kann doch nicht sein, dass jeder so gefordert und gefördert wird, wie es für ihn gut ist, unabhängig von Einkommen und Herkunft?
(Nivellierung nach unten haben übrigens auch die Eltern der Integrationsklasse unseres Sohnes befürchtet, als diese erstmals eingeführt wurde. Vier Jahre später hat keiner mehr etwas gesagt. Weil auch die nicht ganz so klugen Eltern gemerkt haben, dass das Leistungsniveau ein hohes war, und dass die Kinder neben Wissen auch Toleranz und sozialen Umgang mit behinderten Kindern gelernt haben. Weil sie bemerkt haben, dass das Wissen der Kinder gefestigt wurde, indem sie es an schwächere Schüler weitergegeben und diesen geholfen haben.)
Ja, ich weiß, unser jetziges System ist ursuper, und Pisa nur eine Stadt mit einem schiefen Turm, der nichts mit unserem Bildungssystem zu tun hat. Selbstverständlich hat auch die Tatsache, dass es in den Ländern, die in der Pisa-Studie vorne liegen, wie zum Beispiel Finnland, Gesamtschulen gibt, überhaupt keinen Einfluss auf das Abschneiden der Schüler.
Was hilft mir das alles?
Ich habe mich nie getraut, während eines Fluges auf den Wattewolken aus dem Flugzeug auszusteigen. Auch die Super-Rutsche habe ich nie gebaut. Nicht ohne Gerlinde.
testsiegerin - 24. Apr, 20:42
Vorsichtig balanciere ich
über das Trümmerfeld
der gebrochenen Herzen
verlassener Dichter
und verletzter Autoren
Beruhigt atme ich durch
Mir kann das nicht passieren
Mir nicht
Etwas so weiches
kann gar nicht zerbrechen
testsiegerin - 23. Apr, 22:18
Meine Tochter musste als Hausaufgabe eine Personenbeschreibung abliefern. Mit ihrer freundlichen Genehmigung stelle ich das Ergebnis hier herein.
Eine Person aus meiner Verwandtschaft, die ich besonders schätze
Meine Mutter heißt Barbara und ist im Moment 44 Jahre alt (das ändert sich aber jährlich). Sie ist 162 Zentimeter groß. Ihre Haare sind kinnlang und rot gefärbt. Zwei Narben befinden sich in ihrem Gesicht. Eine über der rechten Augenbraue und die andere am Kinn. Da meine Mutter schon immer sehr tollpatschig war – und dies immer noch ist – ist auch der Rest ihres Körpers mit Narben übersät.
Ihre Kleidung ist meist schlicht, manchal takelt sie sich aber auch richtig auf, zum Beispiel, wenn sie auf Lesungen geht. Auf ihre eigenen, versteht sich. Denn meine Mama ist auch Autorin. Aber hauptsächlich arbeitet sie als Sachwalterin. Das ist eine gesetzliche Vertretung geistg behinderter Menschen. Sie übt diesen Beruf schon lange aus, mittlerweile seit 14 Jahren. Davor war sie drei Jahre lang im Gefängnis. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt.
Ihre Haltung ist aufrecht, ihr Gesichtsausdruck meist gelassen und freundlich. Meist. Die Stimme klingt angenehm, außer wenn sie schreit. Sonst würden ihr auch nicht so viele Leute gern zuhören.
Besonders gern isst sie ihre Spaghetti in der Badewanne mit einem Gläschen Sekt. Das erste, das sie macht, wenn sie aufsteht ist, dass sie den Computer einschaltet. Ihr Computer ist ihr im Allgemeinen ziemlich wichtig, denn auf ihm schreibt sie ihre Geschichten.
Barbara ist sehr offen, auch in Bezug auf andere Personen.
Ihre Hobbies sind lesen, schreiben, ausspannen, lang schlafen und Wein oder Sekt trinken. Meine Mama ist schlagfertig und vorlaut, das habe ich wohl von ihr. Sie hört auch in etwa die gleiche Musik wie ich, wie zum Beispiel Robbie Williams oder Mika.
Am meisten verbindet mich mit ihr, dass sie meine Lieblingsmutter ist und ich ihre Lieblingstochter (auch die einzige) bin. Ihre Zukunftspläne ... ähm ... sie möchte mit ihren Geschichten berühmt werden. Und alt. Sportlich will sie auch bleiben, sie geht nämlich sehr oft walken oder laufen.
Neben mir hat sie noch ein zweites „Kind“, meinen älteren Bruder. Verheiratet ist sie mit meinem Vater.
Uns verbinden aber sehr viele Dinge und wir sind uns in den meisten Dingen einig. Wie beim Thema Gewand, Männer oder andere Leute. Ich mag ihre Freunde (von denen reichlich vorhanden sind) und sie meine.
Wenn sie sehr aufgeregt ist, sieht man ihr das meistens nicht an. Aber sie will dann nicht irgendetwas gefragt oder vollgelabert werden. Schwer bei einer Tochter wie mir.
Wie aus dem Text bereits hervorgegangen ist, habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Und darauf bin ich sehr stolz. Es haben nicht viele das Glück, so eine Mutter zu haben, mit der man über (fast) alles reden kann. Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich kitschig an, aber es ist wahr.
Ich hoffe, es bleibt noch lange so, wie es im Moment ist.
Danke, Mama.
So, und hier ist die Revanche
Eine Person aus meiner Verwandtschaft, die ICH besonders schätze
Meine Tochter ist vierzehn. Und eigentlich würde ich mir wünschen, dass sie das noch lange bleibt, weil sie einfach voll gut drauf ist. Aber das wird sie mit 15 auch noch sein und mit 18 hoffentlich auch und vielleicht sogar mit 95. So alt wird sie nämlich, das hat Lebensprognose.de für sie errechnet.
Das Fräulein hat einen coolen Haarschnitt (wir mögen nämlich nicht nur die gleichen Männer, sondern auch den gleichen Friseur) und eine Brille, die sie nie haben wollte, die ihre schleimgrünen Augen (Eigendefinition) aber noch grüner leuchten lässt. Zum Glück hat sie entdeckt, dass gut sehen und gut aussehen durchaus Hand in Hand gehen können. Die rosarote Brille hat sie längst abgelegt, sie begegnet den Leuten und dem Leben zwar offen, aber mit einer gehörigen Portion Misstrauen.
Am liebsten trägt sie Jeans. Eine eigentlich nur, und wenn die in der Wäsche ist, haben wir eine unserer wenigen Krisen, weil die Waschmaschine nicht schneller wäscht und die Sonne nicht schneller trocknet und die Mutter daran schuld ist. Sie hätte gern eine zweite Jeans, aber sie hat keine Lust, einkaufen zu gehen.
Da sie seit Jahren tanzt, bewegt sie sich sicher und geschmeidig und scheint sich in ihrem Körper – zumindst für eine pubertierende 14-jährige – wohl zu fühlen.
Mein Mäuschen (so nenne ich sie aber nur, wenn wir privat sind) ist ein bisschen wie ich. Witzig, klug, sensibel, frech, vorlaut, kritisch, faul, schlampig und unwahrscheinlich cool. Ihr Verstand ist so scharf wie frisch geschliffene Messer aus Solingen. Sie lässt sich nichts gefallen und hasst Ungerechtigkeit. Sie weiß zwar nicht genau, wie man Zivilcourage schreibt, aber wie man sie lebt, das weiß sie. Für Politik interessiert sie sich nicht, aber sie wird wütend, wenn homosexuelle Menschen verspottet, schwächere SchülerInnen gemobbt, Kinder geschlagen und Frauen benachteiligt werden. Sie weiß noch nicht, dass genau das Politik ist.
Aber sie weiß, was sie will. Ihren Kindheitstraum, Kinderärztin zu werden, hat sie nicht aufgegeben, sondern nur leicht variiert. Frau Doktor Kinder- und Jugendpsychiaterin.
Sie kann aber auch verträumt und verspielt sein, vor allem gemeinsam mit ihrer besten Freundin, die wir längst adoptiert haben, im Herzen.
Mäuschen verschlingt tonnenweise Milchreis, und sie verschlingt Bücher. Die muss ich aber nicht kochen.
Es ist wunderschön zu sehen, wie mein kleines Mädchen langsam aber sicher zur Frau wird. Oft findet sie mich peinlich, aber mindestens genauso oft genießt sie es mittlerweile, wenn ich sie auf Lesungen, Frauenfeste oder ins Kino mitnehme.
Es klingt kitschig, ich weiß, aber ich liebe diese Göre.
Danke, Mäuschen. Bleib wie du bist und werde jeden Tag ein bisschen anders. Denn es ist normal, anders zu sein.
testsiegerin - 22. Apr, 18:14
Lieselotte blätterte um und machte eifrig Notizen, während einige Zuhörer gähnten oder Kurznachrichten in ihre Handys tippten. Hin und wieder erhob sich jemand, um den Saal auf leisen Sohlen zu verlassen. Der Professor hinter dem Stehpult wirkte ebenso blutarm wie sein Vortrag.
Active Ageing - Multiprofessionelles Demenzmanagement stand auf dem Programmheft, das auf dem Stuhl neben Lieselotte lag.
„Interessiert Sie das wirklich?“ Der Mann zu ihrer Linken, der die ganze Zeit raschelnd in seinen Zetteln gekramt hatte, beugte sich herüber.
Sie schaute ihn über den Rand ihrer Hornbrille an, die ein Vermögen gekostet hatte und in ihrer Schlichtheit reinstes Understatement war.
„Natürlich interessiert mich das“, behauptete sie, schüttelte aber den Kopf.
„Freud lebt“, stellte er fest, obwohl er Internist war und nicht Psychiater.
„Verdammtes Unterbewusstes!“ Lieselotte lachte. „Nein, es interessiert mich nicht wirklich.“
„Warum schreiben Sie dann so angeregt mit?“ Er flüsterte, nachdem der Professor zu ihnen geblickt hatte.
„Ich bin Journalistin.“ Lieselotte übertrieb ein bisschen. In Wahrheit verfasste sie lediglich eine monatliche Kolumne in der Zeitschrift Da.Heim, einem Magazin der Landespensionistenheime. Manchmal schämte sie sich ein bisschen, dass sie nichts Ordentliches gelernt hatte. Sie war nämlich keineswegs multiprofessionell, sondern ganz und gar nullprofessionell.
„Oh. Sie sind Journalistin?“, wiederholte er. „Ich schreibe auch. Rezepte.“
„Ach, bestimmt für Remember Ravioli, dem Kochjournal für Alzheimer-Kranke! Sind Sie etwa deshalb hier?“
„Ich hab vergessen, warum ich hier bin.“ Er verzog keine Miene. „Für welches Blatt schreiben Sie?“
„Für den Observer“, sagte sie manieriert. „Manchmal auch für die Washington Post.“
Plötzlich war es still im Saal. Der Vortragende war eingeschlafen.
„Vielleicht ist er tot“, sagte Lieselotte. „Als Arzt müssen Sie Erste Hilfe leisten.“
„Um Gottes Willen!“ Er stopfte seine Papiere in die Aktentasche. „Wollen Sie wirklich, dass der noch weiterredet?“
Nein. Wollte sie nicht. Definitiv nicht. Sie wollte, dass der Typ neben ihr weiterredete. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er sah eher aus wie ein übermüdeter Schlittenhundeführer als wie ein seriöser Mediziner.
„Begleiten Sie mich auf einen Kaffee?“, fragte Lieselotte mutig und biss sich auf die Unterlippe.
Er blickte auf die Uhr.
„Tut mir leid, aber das geht nicht.“ Als er die Enttäuschung in ihren Augen las, fragte er: „Wie wär’s, wenn wir uns beim Inkontinenz-Workshop treffen? Die hyperaktive Blase beim alten Menschen.“
„Es gibt weiß Gott Aufregenderes als Blasen.“ Sie schaute unschuldig.
„Ja, aber ich bin auch mit weniger aufregenden Dingen zu befriedigen“, gab er grinsend zurück.
„Inkontinenz.“ Sie nickte. „Das ist meine journalistische Leidenschaft. Neben der Impotenz.“
„Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.“ Er warf ihr noch einen amüsierten Blick zu und schlich hinaus.
Auf ihrem Programm stand nun eigentlich der Vortrag “Bone und Joint Decade”. Zu gern hätte sie jetzt ein bisschen relaxt, aber ihr war klar, dass dort nicht wirklich gekifft wurde. Sie kramte in der Tasche mit den Proben, die sie im Foyer eingesammelt hatte. Auch da fand sich leider nichts Entspannendes. Frustriert stopfte sie sich ein paar von den Viagra-Imitaten aus Schokolade mit blauem Zuckerguss in den Mund.
Als sie den Hörsaal betrat, kam sie sich vor wie in einem ausverkauften Theater. „Scheint ja doch etwas ganz Spannendes zu sein, so eine hyperaktive Blase“, dachte sie. Lieselotte hatte nur ein hyperaktives Kind, das war meist alles andere als spannend. Vergeblich suchte sie die Reihen nach dem Schlittenhundeführer ab und nahm enttäuscht auf einem der wenigen freien Sitze Platz.
„Muss noch jemand aufs Klo, bevor wir anfangen?“ Erschrocken schlug Lieselotte das Programmheft zu. Diese Stimme kannte sie doch.
Da vorn auf dem Podium stand er. Mit einem Headset auf dem Kopf, wie ein Rockstar bei einem Konzert. Und die Bühne sollte für die nächste Stunde ihm gehören. Natürlich musste niemand aufs Klo.
Völlig ohne Fremdworte kam Professor Thomas Kilmer aus. Und geradezu leidenschaftlich erzählte er über den Umgang mit diesem Tabuthema, voller Empathie mit den Betroffenen und trotzdem witzig und charmant. Als er ein paar Übungen zur präventiven Stärkung des Beckenbodens erklärte, beobachtete Lieselotte, wie die Frauen die Lippen aufeinander pressten und die Mienen in ihren Gesichtern sich abwechselnd an- und entspannten. Seltsamerweise machten das auch einige Männer. Was die wohl jetzt stärkten?
Das Publikum applaudierte begeistert, als Professor Kilmer geendet hatte. Mit einem Plädoyer für mehr Respekt. Einem Appell an die Toleranz. Und einem unverschämt hinreißenden Grinsen auf seinen Lippen. Irritiert blickte Lieselotte zur Seite, als sie leichten Uringeruch wahrnahm. Die Dame neben ihr zuckte mit den Achseln und schaute verlegen. Lieselotte lächelte. Tolerant und respektvoll.
„Gibt es noch Fragen?“ Es wurde wieder still im Saal. Plötzlich eilte eine Frau im blauen Kostüm auf Lieselotte zu und hielt ihr ein Mikrofon vor den Mund. Dabei hatte sie sich nur mal am Kopf gekratzt.
„Lieselotte Pfeffer vom ... ähm ... vom Da.heim.“ Sie stammelte: „Was ... was würden Sie einer Frau raten, die erste Symptome bemerkt?“ Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.
„Nun“, er blickte geradewegs in ihr Gesicht. „Nicht immer ist plötzlich auftretende Feuchtigkeit ein Alarmsignal für Inkontinenz. Erzählen Sie uns doch mehr darüber. In welchen Situationen tritt dieses Phänomen bei Ihnen auf?“
„Jetzt“, dachte Lieselotte und errötete. Denn plötzlich war sie da. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Dieses angenehme Kribbeln.
„Es geht nicht um mich“, versuchte sie auszuweichen.
Er ignorierte ihren Einwand.
„Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, würde ich aus ärztlicher Sicht keine Gegenmaßnahmen ergreifen.“
„Danke, ganz lieb. Ich lebe gern im Überfluss!“ Sie strahlte.
„Die Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur kann ich Ihnen trotzdem empfehlen“, setzte er nach. „Sie hat ausschließlich erwünschte Wirkungen. Nicht nur für Sie selbst.“
„Ich bin da nicht egoistisch.“ Lieselotte behielt das letzte Wort. „Ich helfe, wo ich kann.“
Später wartete sie geduldig vor der großen Flügeltür. Endlich kam er. Er blieb direkt vor ihr stehen, sehr nah vor ihr, stellte seine Aktentasche zu Boden und schaute sie an.
„Ja?“ Sonst sagte er nichts.
„Ja?“, wiederholte Lieselotte und hob die Schultern.
„Ja.“ Er wandte seinen Blick nicht von ihr.
„Ja.“ Sie hielt ihm stand.
Sie sahen einander tief in die Augen. Sehr warm war der Blick. Und sehr hungrig. Sie schwiegen. Lange schwiegen sie. Ein sehr viel sagendes Schweigen war das. Und Ein sehr lustvolles.
Als sie fertig waren mit Schweigen, sagte Lieselotte:
„Ich möchte mit Ihnen immer noch gern einen Kaffee trinken.“
„Tut mir leid, ich trinke keinen Kaffee.“ Er blickte sie weiter an. „Ich trinke Tee.“
„Blasentee?“, mutmaßte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Mein Lieblingstee ist ein Formosa. Ding Dong Green Oolong.“
Ihr Blick wanderte zu seiner Hose. „So, so. Ding Dong Oolong.“
Er nickte. „Ja.“
„Ich will mit Ihnen schlafen“, hörte sie sich sagen. Das hatte sie überhaupt noch nie in ihrem Leben gemacht, so direkt auszusprechen, was sie wollte. Zu ihrem Mann konnte sie noch nicht einmal sagen: „Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“
„Ja.“
„Was ja?“
„Ja.“ Seine Stimme war warm und ruhig. „Sie wollen mit mir schlafen.“
Lieselotte war verunsichert und erregt. Gerne hätte sie jetzt etwas Witziges gesagt, aber in Momenten wie diesen versagte ihr sonst so scharfer Verstand.
„Warum?“, fragte er jetzt.
„Was warum?“
„Warum wollen Sie mit mir schlafen?“
„Sie sind berühmt und wahrscheinlich auch reich und Sie haben einen tollen Körper.“ Das war nur ein kleiner Teil der Wahrheit, denn sein Witz, seine Eloquenz und seine Selbstsicherheit zogen sie weit mehr an.
„Ja. Da muss ich Ihnen zustimmen. Alles richtig.“
Lieselotte wünschte sich, dass er sie endlich berührte, mit den Lippen am besten oder wenigstens mit den Händen, aber er tat nichts dergleichen. Sie sehnte sich danach, dass seine Hände unter ihren Rock krochen, während er sie sanft und bestimmt gegen die Holzwand presste.
„Lieselotte“, sagte er nach einer Weile, ganz ohne Kriechen und Pressen. „Lieselotte von daheim. Gehen wir.“
Ihre Wangen wurden rot, ihre Knie wurden weich, und ihr Slip wurde noch ein bisschen feuchter.
„Wohin gehen wir?“ Ihr Mund hingegen war trocken.
„Wünsche erfüllen.“ Er nahm sie an der Hand und zog sie mit hinaus.
„Enden deine Vorträge häufig so?“, fragte sie später an Thomas gekuschelt. Glücklich, erschöpft und befriedigt.
„Ja“, sagte er. „Immer, wenn unter meinen Zuhörerinnen Frauen sind wie du. Geistreich, frech und schön.“ Er küsste sie. „Also nie.“
Der Alltag hatte sie längst wieder eingeholt. Sie reiste Thomas Kilmer nicht nach. Sie rief ihn auch nicht an. Sie hatte ihm gesagt, was sie wollte. Und sie hatte es bekommen. Sogar ein bisschen mehr. So einfach war das also.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja?“, fragte der verwundert.
„Ja.“ Lieselotte schluckte.
Jetzt würde sie es ihm sagen. Sie atmete noch einmal tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
„Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“
testsiegerin - 19. Apr, 21:16
Wir spielen das Leben vom Blatt. Können den Kammerton nicht heimlich in der Tonkammer üben, sondern werden mit dem Auftakt augenblicklich auf die Bühne – und auf uns zurück – geworfen. Das Stück gönnt uns keine Generalprobe. Und doch ist dieses Spiel nichts anderes ein ein beständiges Üben. Wenn wir abtreten, unter viel Applaus am Ende oder ganz leise mitten im Satz, je nachdem, wie wir gelebt und geliebt haben, dann haben wir die Lektion gelernt. Vielleicht. Möge wenigstens der letzte Ton ein vollkommener sein.
Es steht unter einem guten Vorzeichen, mein Leben. Am Anfang drei gestrichene Ja. Doch wer Ja sagt, muss auch B sagen, und schon wird das Leben einen Halbton tiefer. Wieviel Her(t)z braucht das Glück?
Ich spiele routiniert und mit Unbefangenheit. Weil ich aber unkonzentriert bin, das Leben zu leicht nehme, zu wenig gut und nicht annähernd perfekt bin, bringen die Synkopen mich aus dem Takt. Ich versuche wieder hineinzufinden und meine Stimme zu halten.
Zu oft lasse ich das Leben den Rhythmus und das Tempo vorgeben. Alles Walzer. Manchmal bläst es mir den Marsch. Cha-cha-cha. Das ist nicht mein Stück, lege ich Noten und Metronom beiseite und horche auf die Töne in mir, sogar auf die leisen. Il tempo del cuore. Das Tempo des Herzens. Ich träume und lächle.
Aber mein Träumen und Lächeln ist zu langsam für die Bühne. Accelerando, feuert mich mein Dirigent an und klopft mit dem Taktstock auf das Pult. Crescendo. Du musst schneller lächeln. Lauter träumen.
Ich bin keine Dominante, seufze ich und gehorche. Wiederholung. Ich lehne mich zurück, treffe hin und wieder einen richtigen Ton, vertraue auf Vertrautes. Bei der dritten Wiederholung beginne ich mich zu langweilen. Schmiere heimlich ein paar verspielte, aufregende Kadenzen in meine Partitur, selbst auf die Gefahr hin, dass sie mich in Schwierigkeiten bringen. In meinem Enthusiasmus achte ich nicht auf die Dynamik und spiele zu laut und zu schräg. Ich vergesse auf die Pausenzeichen. Dabei machen gerade sie die Musik aus, wie die Zwischenräume den Lattenzaun. Ich nehme die anderen Musiker im Orchester wahr und vergreife mich augenblicklich im Ton. Die Terzen machen sich aus dem Staub, werden eingeholt von Dissonanzen.
Ich tauche ein in meine Musik, klimpere übermütig Triolen, fühle mich im Legato mit der Welt verbunden, streiche zärtlich über meine und deine Saiten. Die guten und die schlechten. Doch im nächsten Moment ist der Bogen überspannt und ich dem Zerreißen nahe.
Schwerkraft und Schwermut kommen in Moll und mit einem düsteren Grave. Und wieder setzt eine Fermate sich auf meinen Kummer und zwingt mich, ihn auszuhalten. Gönnt mir keine Luft zum Atemholen. Ich will aufhören, mein Instrument zur Seite legen und einfach dem Orchester lauschen ohne mitzuspielen, wenigstens ein bisschen. Eine Fuge mehr oder weniger, das fällt doch gar niemandem auf, sage ich, doch der Kritiker in mir ist erbarmungslos und peitscht mich weiter durchs Leben.
Ich weiß nicht, ob ich richtig liege. Ob ich zu hoch fliege oder zu tief lebe. Der Schlüssel, ich finde ihn nicht.
Trotzdem. Weiterüben. Da Capo al Muerte.
testsiegerin - 29. Mär, 18:59