Geschichten

Freitag, 26. Juli 2013

Was Frauen wollen

„Ich bin so wütend“, sagt er und löffelt die indische Spinatsuppe, die leider genauso schmeckt, wie sie aussieht, „Doris hat eine SMS geschrieben. Sie ist wieder zu ihrem Freund zurückgegangen.“
„Wie jetzt?“ Auch bei ihrer Linsensuppe stimmen Aussehen, Geschmack und Konsistenz im negativsten aller Sinne überein. „Zu dem, unter dem sie so gelitten hat, weil er sie wie Dreck behandelt und nicht ernst genommen hat?“
„Genau der, der sie gedemütigt, abgewertet und genauso schlecht behandelt hat wie früher ihr Vater.“
„Bekannte Muster und so“, sagen sie beide und legen die Löffel zur Seite. Sie lachen. Sogar, wenn er behauptet, so wütend zu sein wie schon lange nicht, strahlen seine Augen und seine Stimme Sanftmut und Rücksicht aus. „Kränk dich nicht", sagt sie, „das hat nichts mit dir zu tun, nur mit ihr. Sein Verhalten gefällt ihr zwar nicht, aber es ist ihr vertraut, das kennt sie, damit kennt sie sich aus."
„Der brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, einen Dackelblick aufzusetzen und Es tut mir so leid murmeln, und dass er jetzt alles versteht und sich ändern wird, und nein, eine Paartherapie wäre nicht nötig, weil sie hat ihm ja die Augen geöffnet... und schon kriecht diese intelligente, schöne und liebenswerte Frau auf Knien zu ihm zurück.“ Jetzt schleicht sich ein kleines bisschen Rage in seine sanfte Wut. „Weißt du, ich dachte immer, ich will das nicht - ich mach es anders, begegne Frauen mit Respekt... Ich bin ein Vollidiot, so schaut’s aus.“
„Bist du nicht“, sagt sie, aber er hört sie nicht.
„Ich versteh euch Frauen einfach nicht“, fährt er fort, „warum steht ihr so drauf, von Männern schlecht behandelt zu werden? Und wenn ihr die Typen endlich losgeworden seid, habt ihr nichts besseres zu tun, als euch das nächste Arschloch zu suchen, das euch schlecht behandelt. Wie verdammt dämlich sind Frauen?“
Sie schluckt. Sehr dämlich, denkt sie. „Verallgemeinere bitte nicht!“, sagt sie, aber sie weiß, dass er Recht hat, das beobachtet sie Tag für Tag. Früher hat sie das auch an sich selbst beobachtet, als ihr damaliger Freund sie auf der Autobahn einfach aus dem – zum Glück stehenden – Auto geschmissen hat, weil sie ihn kritisiert hatte. Oder ihr eines Abends die Luftmatratze hingeworfen hat, weil er zur Erkenntnis gekommen war, dass ein 1,60 Meter breites Bett zu schmal für sie beide war. Sie hat die Luftmatratze brav aufgeblasen anstatt sie aufzuschlitzen. Anstatt ihn aufzuschlitzen. Wenn sie wütend ist, ist sie alles andere als sanftmütig.

„Vielleicht solltest du in anderen Gewässern fischen“, schlägt sie beim Goa-Fish vor, der auch keine Offenbarung ist, „auf Selbsterfahrungswochenenden und Psychoworkshops lernt man vermutlich keine Frauen mit gesundem Selbstwertgefühl und innerer Stärke kennen, sondern nur solche, die kämpfen und auf der Suche sind.“
„Hey, ich hab auch ein gesundes Selbstwertgefühl und innere Stärke. Und bin trotzdem neugierig auf mich.“
Daran zweifelt sie nicht.
„Ich glaube, ich muss meine Performance dramatisch ändern!“, meint er. Wenigstens der Reis schmeckt, wie Reis schmecken soll, nämlich nach nichts. „Wenn du mit einer Frau eine Beziehung willst, dann gib ihr die Peitsche.“
„Trink dein Mango-Lassi und red’ keinen Scheiß“, lacht sie. „Und sei mal ehrlich, was willst du mit Frauen, die solche Männer wollen?“
„Sie wollen Männer mit Eiern verstehst du? Aber Teddybären haben keine Eier, das weiß jedes Kind. Und da man die Anderen nicht ändern kann, muss man sich selbst ändern, um zu seinem Ziel zu gelangen - so einfach, so pragmatisch, so logisch ist das...“
„Aber du bist noch lange kein Teddybär, nur weil du nicht am ersten Abend mit ihnen in die Kiste steigst und ihnen zuhörst, anstatt nur über dich selbst zu reden. Du hast Eier. Du bist nicht umsonst Eierkönig. Einer der liebenswürdigsten Eierkönige, die ich kenne, kapier das endlich! “ Schön langsam wird sie wütend, nicht er.
„Aber genau das ist ja das Problem. Keine Sau steht auf liebenswürdige Eierkönige. Früher dachte ich auch, Nietzsche ist ein Idiot, aber offenbar hatte er Recht. Ich sehe ja in meinem Umkreis, wie gut das funktioniert. Alle Männer, die bei Frauen erfolgreich sind, verarschen sie nach Strich und Faden. Schluss jetzt mit Empathie, Aufrichtigkeit, Ebenbürtigkeit, Augenhöhe...! Unterdrück sie, behandle sie wie Scheiße und sie werden dich lieben. Das krieg ich auch noch hin.“
„Quatsch, sie werden dich höchstens fürchten, mit Liebe hat das nichts zu tun. Außerdem... “, sie deutet mit dem Zeigefinger auf sein Dessert, „außerdem zittert vor dir höchstens der Mangopudding.“

*

Italienisch statt Indisch. Carpaccio statt vegetarischer Fleischbällchen. Er kommt im Dreitagesbart, das Hemd hängt lässig aus seiner Hose.
„Und? Wie geht’s dir mit deiner neuen Strategie?“ Sie nippt am Prosecco.
„Geht so. Hab eine Frau kennengelernt, indem ich arrogant war und sie beleidigt hab. Nachdem ich auf ihre SMS nicht reagiert und ihre Anrufe weggeklickt hab, ist sie mit einer roten Rose vor der Firma gestanden und hat mich zum Essen eingeladen. Lass dir das mal auf der Zunge zergehen. Sie hat mich zum Essen eingeladen.“
„Und? Glücklich darüber?“
„Geht so.“ Er kann nicht gut reden mit vollem Mund und schluckt die Miesmuscheln hinunter. „Nicht wirklich, um ehrlich zu sein“, sagt er, „was ich wirklich gut kann, ist geben, nicht nehmen. Aber ich gebe nicht auf. Ich bin auf dem richtigen Weg, ich spüre das.“
„Ich sag es noch einmal“, sie wickelt die Spaghetti auf die Gabel, „deine Theorie ist Nonsens. Sie geht nicht auf!“
„Keineswegs ist sie Nonsens. Beobachte doch mal Frauen, wenn sie über Männer sprechen und schau auf ihre nonverbalen Signale - wenn sie sich furchtbar über einen Typen aufregen und ihn Arschloch schimpfen, dann leuchten ihre Augen vor Bewunderung - wenn sie hingegen über einen lieben, fürsorglichen Mann sprechen, entdeckst du Zeichen der Verachtung um ihre Mundwinkel.“
Sie muss lächeln. Einmal hat sie ihn Arschloch genannt - es war nicht einmal ernst gemeint - und er war gekränkt gewesen. „Wie du meinst.“ Sie gibt es auf, ihn davon überzeugen wollen, dass es Frauen gibt, die ihn genauso gernhaben, lieben und begehren, wie er ist. Noch bevor der Nachtisch serviert wird, geht sie. Ein wenig enttäuscht.

*

„Ich hab mich verliebt“, platzt es im Biergarten aus ihm heraus, noch bevor der Erdäpfel-Vogerlsalat serviert ist.
„Oh! Erzähl!“
„Sie ist Single, aufregend und intelligent, hat einen ähnlichen Humor wie ich und steht auf die Wiener Austria.“
Kurz zuckt sie zusammen, erinnert sich aber daran, dass ihre eigenen Fußballpräferenzen grad nicht so wichtig sind wie das Glück ihres besten männlichen Freundes.
„Und?“ Der Suppenlöffel fällt ihr aus der Hand. „Was war? So spann mich doch nicht so auf die Folter.“
„Nichts war.“ Seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Sie sagt, vor ein paar Jahren wäre sie auf diese Masche hereingefallen. War ein Muster von ihr, sich immer in die größten Idioten zu verlieben. Aber da ist sie drüber weg. Sie findet mich witzig, aber sie steht nicht mehr auf Arschlöcher. Sie will einen Mann, der sie auf Augenhöhe respektiert, der ihr Herz und ihren Verstand mag und nicht nur ihre weichen Brüste. Einen Mann, dem sie vertrauen kann.“
„Ja super, da bist du genau der Richtige! Dann zeig ihr doch einfach, wie du wirklich bist.“ Die Stelze wird serviert, sie beißt genüsslich hinein, „ach, ich freu mich so für dich!“
„Zu spät“, sagt er und rührt sein Schnitzel nicht an, „ich hab’s versucht. Sie hat gemeint, ich wäre doch nur wie alle anderen. Die sagen auch, dass sie in Wahrheit ganz anders sind und kapiert haben, worauf es ankommt. Ach du“, er schaut traurig. „Ich fürchte, ich hab’s vergeigt.“
Sie schluckt ihr „Na, was hab ich dir gesagt?“ hinunter. Sagt stattdessen einfach „Scheiße, das tut mir leid.“ Ein „Hoffentlich lernst du was draus“ kann sie sich aber nicht verkneifen.
„Hab ich schon. Ich hab gelernt, ganz egal wie mann es macht, es ist immer verkehrt."

Montag, 22. Juli 2013

(K)Ein Märchen

Er lebt im obersten Stockwerk eines alten, gemauerten Turms.
Nacht für Nacht verlässt er seinen Turm, um sich mit ihr im Wald zu treffen. Sie gibt sich ihm hin, wild und leidenschaftlich. Schmeckt seine Haut, überall, spürt ihn in sich und dabei gleichzeitig sich selbst wie nie zuvor. Wenn er bei ihr ist, fühlt sie sich lebendig und das Leben spannend. Danach rauchen sie eine Zigarette oder trinken ein Glas Wein. Alles ist gut. Irgendwann sagt sie ihm, dass sie ihn liebt. Er steht auf und geht zurück in seinen Turm. Nichts ist gut.
„Können wir uns einmal tagsüber treffen?“, will sie eines Nachts wissen, als er sich anzieht und auf sein Pferd steigt.
„Ich werde darüber nachdenken“, sagt er und reitet davon. Als sie ihn in einer der folgenden Nächte darauf anspricht, meint er knapp „Es ist noch zu früh. Vielleicht irgendwann.“ Als sie Monate später vorsichtig fragt, wann denn irgendwann wäre, schnaubt er sie an: „Nerv mich nicht.“

Trotzdem steht sie Tag für Tag vor seinem Turm und schaut zu ihm hoch. Hin und wieder blickt er kurz aus dem Fenster und lockt sie mit dem Zeigefinger zu sich. Ihr Herz klopft vor Vorfreude. Doch als sie näher tritt, sticht sie sich an der Dornenhecke. Durch ihren Aufschrei erwachen die zwei Grenzsoldaten und stellen sich ihr mit gekreuzten Lanzen in den Weg.
„Was hast du hier verloren?“ fragen sie. Nichts hat sie verloren, aber sie hat auch nichts gefunden. Nichts, was sie sucht. Vielleicht, weil sie nicht weiß, was sie sucht. „Verschwinde“, sagen die Grenzposten, „er will das nicht.“
Sie leckt sich das Blut von den Fingern. „Aber natürlich will er das“, flüstert sie, „er kann es sich nur nicht eingestehen. In Wahrheit hat er Sehnsucht danach, dass jemand mit einer Machete die Dornenhecken durchdringt und die Mauern seines Turms niederreißt. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein, nicht so drängend. Durch meine beständige Liebe wird er erkennen, dass es das Beste für ihn ist, sich auf mich einzulassen und mich zurückzulieben.“
Einer der Grenzsoldaten, der größere der beiden, hält sich den mit der Rüstung bedeckten Bauch vor Lachen. „Gute Frau“, sagt er, „Sie müssen sich verlaufen haben. Das Leben ist kein Märchen und unser Chef kein verwandelter Prinz.“

Der Andere, der Kleinere, schaut ihr tief in die Augen und fällt augenblicklich in ihren Blick. „Vergessen Sie ihn“, sagt er, „Er tut Ihnen nicht gut.“
Traurig geht sie weg, um am nächsten Tag wiederzukommen. Und am übernächsten. Und am überübernächsten. Dunkle Ringe hat sie unter den Augen, weil auch die nächtlichen Besuche des Turmbewohners ausgeblieben sind und er sie nur in ihren Gedanken besucht. Immer trauriger wird sie. Immer magerer auch.
„So kann es nicht weitergehen, schöne Frau“, sagt der freundliche Grenzsoldat mit den blitzenden Augen eines Tages, „Sie müssen etwas essen.“

Er bringt ihr mit Speck umwickelte Pflaumen. Am anderen Tag hat er frischgebackenes Brot mit Avocadocreme dabei. Oder rotbackige Äpfel, damit auch ihre Wangen wieder rosig glühen mögen.
„Ich liebe ihn doch so sehr“, sagt sie an die riesige Linde gelehnt, mit vollem Mund, „und er liebt mich auch, das spüre ich. Er braucht mich genauso wie ich ihn, mindestens. Er kann es nur nicht zeigen... Noch nicht“, fügt sie hinzu.
Sie macht dem Grenzer schöne Augen, denn sie hat eine Idee: „Seinen Wachen wird er ja wohl vertrauen. Bringen Sie mich doch zu ihm!“
Der Grenzsoldat schüttelt voll Verständnis und Mitgefühl den Kopf. „Wir dürfen Sie wirklich nicht zu ihm lassen. Strenger Auftrag vom Chef. Ich könnte meine Anstellung riskieren.“ Als er ihren treuherzigen Blick und den gesenkten Kopf sieht, beginnt das Blut in seinen Adern zu kochen und er lenkt er ein. „Gut, dann riskiere ich eben meine Anstellung“, seufzt er. „Manchmal hab ich meinen Job ohnehin satt. Eine nach der anderen muss ich ab...“ Er beißt sich auf die Zunge. Zum Glück hat sie nicht gehört, was sie nicht hören will. „Kommen Sie nach dem nächsten Vollmond im Morgengrauen“, fährt er fort, „er steht früh auf. Dann werde ich Sie zu ihm bringen und ein gutes Wort für Sie einlegen.“

Während sie aufblüht, vor Hoffnung, von der sie noch nicht weiß, dass sie trügerisch ist, wird das Gesicht des Grenzpostens von Tag zu Tag schmäler vor Sorge.
„Vergiss Sie“, sagt sein Kollege mit der Rüstung. „Sie tut dir nicht gut.“
„Ich muss mich einfach noch mehr bemühen“, sagt der Blitzäugige, „dann wird sie mich eines Tages lieben. Vielleicht liebt sie mich ja schon... und weiß es nur noch nicht.“

Mittwoch, 1. Mai 2013

Die Frau Doktor

Ich schreibe ja nicht nur, ich spiele ja auch Theater. Und schreibe für die Theaterworkshops Szenen, die wir dann spielen. Jetzt versuche ich, aus diesen Szenen Geschichten zu machen. Mal sehen, ob es gelingt.

Im aktuellen Theaterprojekt geht es um göttliche Archetypen. Um welche Göttin handelt es sich in dieser Geschichte?



„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Frau Doktor, ich wollte Sie wirklich nicht belästigen.“ Der Bankdirektor persönlich schüttelt Herta, die ihren akademischen Titel durch Heirat erworben hat, die Hand und bedeutet ihr, sich zu setzen. Sie aber bleibt stehen.
„Dann tun Sie das auch nicht. Glauben Sie, ich habe nichts anderes zu tun?“ In Wahrheit hat sie tatsächlich nichts anderes zu tun, zumindest nichts sinnvolles, aber das gesteht sie nicht einmal sich selbst ein. Sie vertrödelt ihre Tage damit, ihr Personal herumzukommandieren, geht zur Kosmetikerin, zum Friseur oder zur Fußpflege. Sie wartet auf ihren Mann. Bis er von seiner Arbeit nach Hause kommt, oder von einer Auslandsreise, und ein Stück seines Ruhms auf sie herabfällt. „Um die Bankgeschäfte kümmert sich mein Gatte.“
„Genau das ist das Problem. Ich kann ihn nicht erreichen.“
Ich auch nicht, denkt Hera. Er hat nicht abgehoben, als sie nach dem Anruf der Bank versucht hat, ihn zu erreichen. Er hat auf ihre SMS und Mails nicht geantwortet, obwohl sie geschrieben hat, dass es wirklich dringend ist. Er ist nie erreichbar, wenn er unterwegs ist. Er brauche Ruhe und seine ganze Konzentration für die Arbeit, sagt er, wenn er das Haus verlässt und küsst sie auf die Wange. Sie kann sich nicht erinnern, wann er sie zuletzt auf den Mund geküsst hat.
„Er ist wieder in Amerika. Botulintoxin-Kongress in Baltimore.“ Sie sonnt sich in seinem Glanz. „Warten Sie eben, bis er wieder zu Hause ist. Ich kenne mich nicht aus mit Aktien und Anleihen und Wertpapieren. Kaufen – verkaufen, was weiß ich?“ Bei ihren Kleidern und Schuhen entscheidet sie sich immer für Kaufen, mit der goldenen Kreditkarte des Gatten. Man gönnt sich ja auch sonst alles.

Der Bankdirektor steht auf, nestelt nervös an seinem Sakko und kommt auf sie zu. Seine Stimme ist warm und ruhig, aber sie hört die Anspannung darin. „Also… es… es gibt keine Aktien und Wertpapiere mehr.“
„Wie bitte?“
„Alles weg.“
Es zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Alles weg? Sie setzt sich. In ihrem Kopf rattern die Gedanken, ein Zahnrad versucht, sich in das nächste einzufügen und so etwas wie Logik in Bewegung zu setzen, aber die Zahnräder berühren einander nicht und die Gedanken gehen im Kreis.
„Das verstehe ich nicht“, sagt sie und meint ausnahmsweise, was sie sagt. Neben der Angst nimmt ganz am Rand die Hoffnung Platz. Die Hoffnung, dass das alles nichts mit ihrem Leben, nichts mit ihrem Mann zu tun hat. „Hat Ihre Bank Liquiditätsprobleme?“
„Ich fürchte, Sie haben Probleme, Frau Doktor.“ Der Bankdirektor windet sich bei jedem Wort und hält sich an seinen Händen fest.
Die Angst rempelt die Hoffnung von der Bank. Die schlägt wild um sich und tobt und schreit. Herta möchte am liebsten mittoben und mitschreien, aber das gehört sich nicht für eine Frau ihres Standes. Sie streift ihr steifes Kleid glatt und steht auf. Die Nachricht kann sie nicht klein reden, also versucht sie es mit dem Überbringer. „Was erlauben Sie sich!“
Die Brust des Bankbeamten hebt sich, um einzuatmen. Gefühlte fünf Minuten später atmet er aus. „Ihr Mann hat alle Werte aufgelöst und auf ein Konto in Liechtenstein transferiert. Auch Ihr gemeinsames Konto ist leergeräumt.“

Vielleicht wurde ihr Mann erpresst und wollte sie nicht beunruhigen. Oder er hat das Geld ja nur aus Angst vor der Einführung der Vermögenssteuer in Sicherheit gebracht und ist noch nicht dazugekommen, mit ihr darüber zu reden. Er hat sich schließlich oft genug über diese linken Spinner aufgeregt, die den hart arbeitenden Leistungsträgern das Geld aus der Tasche ziehen wollen. „Das… das muss ein Irrtum sein! Das klärt sich bestimmt auf.“
„Ich fürchte nicht.“ Der Bankdirektor reicht ihr ein Schriftstück. „Ist das die Unterschrift Ihres Mannes?“
Herta reißt ihm das Blatt Papier aus der Hand und studiert sorgfältig die Unterschrift. Natürlich erkennt sie beim ersten Blick, dass die Unterschrift ihres Mannes echt ist. Der erste Buchstabe ihres gemeinsamen Familiennamens, der die anderen weit überragt und die Macht und Stärke ihres Mannes demonstriert. Die Macht und Stärke, aus der auch Herta ihre Lebensenergie zieht. Sie hält sich am Blatt fest und sinkt in den Stuhl.
„Ja, schon.“ Leise ist ihre Stimme jetzt, ihre Verletzlichkeit hat sich durch ihren Stolz gebohrt und dringt an die Oberfläche.

„Frau Doktor“, der Bankdirektor berührt sie tröstend am Oberarm, aber Herta schüttelt ihn zornig ab, der einzige, von dem sie sich berühren lässt, ist ihr Mann. „Wir können weder das Gehalt für Ihre Angestellten nicht mehr überweisen und Ihre Stromrechnung auch nicht“, fährt der Bankdirektor fort. „Da Sie selber kein Einkommen haben, können wir Ihnen auch keinen Kredit gewähren. Haben Sie bei einer anderen Bank Ersparnisse, um über die Runden zu kommen?“
Sie zuckt resigniert die Schultern, sie hat keine Ahnung, wie und wo ihr Mann ihr Vermögen angelegt hat. Bisher hat sie sich noch nie mit diesen Dingen auseinandersetzen müssen. Bisher hat es gereicht, seine Frau zu sein, die ihm den Rücken für die Karriere freihält, die schön und repräsentativ ist und sich im Hintergrund hält. „Aber… darum hat sich doch immer mein Mann gekümmert. Er ist ein berühmter Arzt, Professor für Psychiatrie und Neurologie, hat eine Menge Fachbücher geschrieben und…“ Sie beißt sich auf die Lippen, spürt, dass das im Moment alles nichts mehr zählt. Im Moment ist sie zurückgeworfen auf sich selbst. Aber wer ist sie ohne ihren Mann? Ihr ist, als würde sie sich auflösen.

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein Doppelleben geführt hat.“ Der Bankdirektor schluckt. „Unter uns gesagt, Frau Doktor, ich hab mir die Konten angesehen. Ich dürfte Ihnen das nicht sagen, aber seit drei Jahren überweist er regelmäßig größere Summen an eine Kathleen Miller.“ Pause. „Seit einem halben Jahr zusätzlich Unterhalt für Emily Miller.“
„Sie elender Lügner!“ Jetzt ist Herta egal, was sich für eine Dame ihres Standes gehört. Die mühsam aufrechtgehaltene Contenance verpufft. Da ist nur noch Schmerz. Schmerz und Wut. Wie rasend schlägt sie mit ihrer Handtasche auf den Bankdirektor ein. „Was sind das für Unterstellungen! Das würde er mir niemals antun, er liebt mich doch! Sie wissen vielleicht alles über Geld, aber was wissen Sie von Liebe?“ Sie tobt, schluchzt und schreit. „Der kann mir doch nicht einfach alles wegnehmen!“ Herta merkt nicht, dass der Bankdirektor zwei Angestellte um Hilfe gerufen hat, die sie zu Boden drücken. „Ich bring sie um, dieses Luder!“, brüllt sie, „diese Kathleen. Mitsamt ihrem Balg bring ich sie um!“

Dann wird ihr Körper, was sie längst ist. Ohnmächtig.

Dienstag, 19. März 2013

Die Stille 3/3

Einmal, zweimal wichen ihre Augen meinem Blick aus, beim dritten Mal blieben sie an ihm hängen. Ihre Pupillen weiteten sich und ihre Regenbogenhaut schien zu flackern. Wir schauten und schwiegen, ich jedenfalls länger als sie.
„Ich kann Gedanken lesen“, sagte sie leise.
„Das glaube ich nicht“, antwortete ich noch leiser.
„Warum nicht?“
„Weil Sie nicht erröten.“
„Um mich zum Erröten zu bringen, müssten Ihre Gedanken schon ein bisschen schmutziger sein.“
Ihre Stimme und ihr Lächeln hatten sich jetzt so verändert, dass es mir ohnehin schwer gefallen wäre, an etwas weniger Schmutziges zu denken. Ich fixierte weiter ihre Augen, obwohl ich zu gern auf ihre Brüste oder ihre Schenkel geschaut hätte.
„Was finden Sie denn schmutzig?“
„Meine Fenster. Das Innere meines Autos. Den Küchenboden. Meine Strumpfhose ist auch schmutzig. Hier.“ Sie schob ihren Rock ein Stückchen höher. „Ich hab ich mich vorher in der Konditorei angepatzt. Passiert mir immer, meistens, wenn’s am wenigsten passt.“
„Und sonst? Was finden Sie sonst schmutzig? Also meine Gedanken betreffend?“
„Ich finde nichts, was mit Erotik und Sex zu tun hat, schmutzig.“
„Wer sagt, dass ich an Sex und Erotik gedacht hab?“
„Ich sagte doch, ich kann Gedanken lesen.“ Sie rieb die Spitzen ihrer Finger an den Schläfen, und schloss die Augen. „Sie Schlingel“, sagte sie jetzt und lachte. „Sie haben gedacht, dass Sie meine Beine auseinanderdrücken und mit Ihrer Hand meine Schenkel hochwandern wollen. Und dann Ihre Hand auf meine Scham legen. Aber Sie bewegen sie nicht, die Hand, sondern warten nur, bis ich ganz nass werde. Und dann haben Sie gedacht, dass Sie, wenn es wohlig warm und nass ist, einfach Ihren Finger in meine Möse schieben, ganz tief.“
Jetzt errötete ich, nicht sie. Ich fühlte mich ertappt. „Nein, das stimmt nicht. Das Wort Möse hab ich so nicht gedacht.“
„Warum nicht?“
„Weil Sie dazwischen geredet haben, bevor ich das denken konnte.“
„Lassen Sie sich nicht stören. Denken Sie ruhig daran.“
„Gefällt es Ihnen denn, wenn ich an Ihre Möse denke?“
Sie nickte. „Ja.“
„Ich denke, dass sie grad sehr feucht ist.“
„Nun ja. Feucht ist untertrieben.“
Während sie das sagte, schob sie den Rock ganz langsam immer weiter hoch, so dass ein dunkler Fleck auf ihrer Strumpfhose sichtbar wurde, ganz oben, wo sich ihre runden Schenkel aneinander schmiegten. Dort wo sich ihr Schamhügel und ihre Schamlippen jetzt durch Stoff ihrer Strumpfhose abzeichneten.
Als ich wieder aufblickte, stellte ich fest, dass auch sie mir zwischen die Beine schaute.
„Würden Sie ihn gern anfassen?“
„Ja“, sagte sie, „möchte ich gern. Nicht nur anfassen. Ich würde ihn auch gern zwischen meine Lippen nehmen und daran schmecken. Ihn langsam hineingleiten lassen, genießen, wie er in meinem Mund noch härter wird und ihn lutschen und Ihnen das Hirn rausblasen.“
Nicht mehr notwendig, dachte ich, also das mit dem Hirn. Wie konnte sie diese Wörter mit einer Leichtigkeit aussprechen, mit der ich sie nicht einmal zu denken wagte? Während sie sprach, streichelte sie ihren Oberschenkel und leckte sich über die Lippen. Ich öffnete den obersten Knopf meines Poloshirts.
„Ja, das würde ich gerne“, fuhr sie fort, um im nächsten Augenblick abrupt die Hand zwischen Ihren Beinen hervorzuziehen und den Rock damit glattzustreichen. „Werde ich aber nicht. Wissen Sie, ich bin nicht so eine. Ich bin keine, die mit fremden Männern im Zug einfach so herumfickt.“
„Ich verstehe. Zeit, mich vorzustellen. Ich bin der Oliver.“
„Freut mich. Ich bin die Chantal.“
„Freut mich auch.“ Ich musste mich ziemlich zusammenreißen, um nicht blöd zu grinsen. Am liebsten hätte ich laut gelacht. Ein paar Tage zuvor hatte ich noch einen Artikel über Chantalismus und Kevinismus gelesen. Demzufolge wurden Schulkinder mit vergleichbaren Vornamen von ihren Lehrern für weniger intelligent gehalten und oft als verhaltensauffälliger eingeschätzt. Die Frau ihm gegenüber war aber weiß Gott kein Kind mehr. Chantal hießen erwachsene Frauen doch nur in drittklassigen Krimis, die im Rotlichtmilieu spielten.
„Ein richtiger Nuttenname, oder?“ Da sie vermutlich schon immer Chantal geheißen hatte, fiel ihr das Gedankenlesen jetzt besonders leicht. Und natürlich hätte ich jetzt entrüstet „Nein!“ sagen müssen.
„Ja“, presste ich stattdessen hervor.
Ich fürchtete eine Ohrfeige, aber sie lachte. „Meine Mutter liebte französische Literatur. Ich bin nach Marie de Rabutin-Chantal benannt, einer Adeligen und Autorin. Sie schrieb Briefe, zum Teil sehr... nun ja...für die damalige Zeit sehr delikate Briefe. Diese Begabung hab ich von ihr.“ Sie wühlte wieder in der geheimnisvollen Tasche und holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber hervor. „Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, beweise ich Ihnen das gerne, Oliver. Ich muss nämlich leider in Fulda aussteigen. “
Während ich schrieb, schob sie ziemlich provokant ihren Rock hoch und streichelte ihre Oberschenkel.
„Darf ich nochmal schauen – ein wenig länger als vorher?“, wurde ich jetzt mutiger. Ich hatte schließlich nichts zu verlieren.
„Gern, Oliver.“ Chantal spreizte die Beine und schob den Rock ganz hoch. Jetzt war da, wo vorhin ein dunkler Fleck war, alles weiß und glitschig.

Sie krallte ihre Finger in den Stoff und kratzte ein wenig mit den Nägeln daran. Dann riss sie abrupt ein Loch in die Strumpfhose. Noch im gleichen Moment tropfte der Saft aus ihr heraus und lief über Chantals Finger und Schenkel. Ich blickte auf ihre nackte Möse und hätte so gern hineingefasst, sie geleckt und dann gevögelt. Aber alles was ich tat, war schauen und atmen, wobei mir das Schauen in diesem Augenblick wichtiger erschien.
Dann tauchte sie zwei Finger in ihr glitschig glänzendes Loch und streckte sie mir entgegen. „Möchten Sie kosten? Damit Sie sich an mich erinnern?“
„Wir erreichen in Kürze Fulda“, tönte es durch die Lautsprecheranlage. „Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt und danken, dass Sie für Ihre Reise die Deutsche Bahn gewählt haben.“

Ich saß wieder allein im Abteil und dankte auch. Die Stille jetzt war eine völlig andere als die im Kloster. In meinen Ohren noch ihre Worte „Das nächste Mal gibt’s mehr, Oliver.“ Ihr herzhaftes Lachen. In meinem Kopf das gerahmte Kunstwerk ihrer Möse. Ihr Blick, als ich an ihren Fingern leckte. In meiner Nase ihr Geruch. In meinem Mund ihr kostbarer Geschmack, süßlich und betörend.

Und in ihrer Tasche meine Mailadresse.

Montag, 18. März 2013

Die Stille 2/3

Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Aha, traurig. Ich war also nicht nur humorlos, sondern auch noch ein unübersehbarer Trauerkloß. Ein öffentliches Ärgernis. Eine Spaßbremse vor dem Herrn. Natürlich hatte ich allen Grund traurig zu sein. Meine Arbeit war anstrengend, unerfreulich und unterbezahlt. Meine Ehe so langweilig, wie man dies nach über zwanzig Ehejahren erwarten konnte. Meine Kinder waren verwöhnt und versnobt. Unser Hund nicht minder. Und mein Fußballverein steckte wie immer unten drin und kämpfte erfolglos gegen den dritten Abstieg in Folge. Das waren Gründe genug, um in Depressionen zu versinken und dem Friseur oder dem Arzt mit meinem Gejammer auf die Nerven zu gehen. Trotz allem war ich nicht traurig.
„Die Erderwärmung. Die Bevölkerungsexplosion. Und das Vorabendprogramm“, bot ich ihr trotzdem zur Auswahl an.
Sie lachte. Aus ihren Augen blitzte Fröhlichkeit und eine Leichtigkeit, um die ich sie beneidete, aus ihrem Mund blitzten zwei Goldplomben. „Gegen die Erderwärmung und die Bevölkerungsexplosion kann ich nichts tun“, sagte sie, „obwohl...“ Sie fing wieder an in ihrer Handtasche herumzukramen und ich wunderte mich, dass da immer noch etwas zum Vorschein kam, obwohl ich das Gefühl hatte, dass der gesamte Inhalt bereits ausgebreitet auf ihrem Nachbarsitz lag. „Hier“, sie drückte mir ein Päckchen in die Hand, „gegen die Bevölkerungsexplosion.“ Ich starrte auf die Kondome. Und weil ich beinahe eine Woche nicht in Übung war, was geistreiche Konversation betraf, fehlten mir die Worte. Zum Glück fiel das nicht weiter auf, da die Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern verkündete, dass wir in Kürze den nächsten Bahnhof erreichten und das Mädchen im Abteil aufsprang, ihren Rucksack schnappte und grußlos hinausstürmte.
Die Rothaarige und ich waren jetzt allein im Abteil, und wir hatten – Glück? Pech? Wie auch immer, es stieg niemand zu.
„Wo waren wir stehengeblieben?“ fragte sie. „Ah ja, beim Vorabendprogramm. Vielleicht kann ich ja etwas gegen Ihre Traurigkeit tun?“ Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, schob den Rock ein wenig höher und ließ die Knie auseinanderfallen. „Mögen Sie Rosen?“

Einen Beitrag im Kampf gegen die Erderwärmung leistete sie damit jedenfalls nicht. Mir wurde warm.
„Rosen. Ja. Selbstverständlich. Welcher Mann freut sich nicht über Rosen?“
Sie streichelte eine Rose auf ihrem Knie. „Die sind hübsch, nicht wahr? So rosig. Und so weich.“
Ich nickte. „Und gar nicht stachelig.“
„Eh nicht stachelig. Ich hab sie heute Morgen erst rasiert. Die Beine, nicht die Rosen.“
„Gut so. Rosen sollte man erst im Spätherbst rasieren.“
„Ich bin noch gar nicht im Herbst. Ich bin im Spätsommer, in der Zeit, wenn die Früchte reif sind.“ Sie kramte wieder in ihrer Handtasche. „Wollen Sie eine Zwetschge?“
Ich hielt ihr das Kondom hin. „Gern, tauschen wir. Bevor ich zur Zweigniederlassung Ihrer Handtasche werde.“
„Oh, das ist meine letzte. Dann teilen wir.“ Sie drückte die dunkelblaue Frucht am oberen Ende zusammen, bis sie ein wenig aufplatzte, zog die beiden Hälften auseinander und reichte mir mein Stück. Ihre Finger klebten ein bisschen an meinen, als sie mich berührte.
Dieses Vorabendprogramm fing an mir zu gefallen. War es die kulinarische und körperliche Enthaltsamkeit im Kloster, die jetzt dazu führte, dass eine simple Zwetschge
besser schmeckte als ein Menü im Haubenlokal und die kurze Berührung unserer Finger mir durch Mark und Knochen fuhr? Auch zu Hause hatte sich ein beinahe klösterlicher Umgang zwischen meiner Frau und mir eingeschlichen. Als ich der Rothaarigen in die Augen sah, traf mich ihr Blick, empfangend und warm. All die Oberflächlichkeit, die ich ihr vorhin zugeschrieben hatte, war aus diesem Blick verschwunden und ich erkannte etwas Tiefes, Verletzliches darin. Vielleicht sollte ich meine Vorurteile bei Gelegenheit überdenken. Jetzt hatte ich keine Gelegenheit zum Denken, denn sie leckte mit der Zunge ihre Oberlippe sauber, auf eine liebenswerte, natürliche Art, nicht so, als wollte sie mich provozieren.
Auch an meinen Händen hatte der Saft der Zwetschge seine Spur hinterlassen, genau genommen an meinem Mittelfinger. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn abzuschlecken, was ihr offensichtlich gefiel.
„Schön machen Sie das. Ich könnte Ihnen noch lange beim Schlecken zuschauen“, sagte sie zur Bestätigung, als ich fertig war.
„Wollen Sie auch mal?“ In einem Anflug von Übermut hielt ich ihr meinen sauber gelutschten Finger hin.
„Wo kämen wir denn hin, wenn Männer und Frauen in einem Zugabteil einfach machten, was sie wollten?“
Aber irgendwie machte sie trotzdem, was sie wollte, nur dass sie nicht meinen, sondern ihren eigenen Mittelfinger in den Mund steckte. Ganz langsam ließ sie ihn zwischen ihren frisch bemalten Lippen verschwinden, die wieder ein verführerisches „O“ geformt hatten, bewegte ihn ein bisschen hin und her und zog ihn dann ebenso langsam wieder heraus. Sie betrachtete den verschmierten Lippenstift darauf und glitt mit ihrer Zunge von unten nach oben daran entlang. Dann betrachtete sie ihren ausgestreckten Mittelfinger versonnen.
„So was, jetzt ist er ganz steif geworden“, raunte sie mir mit Augenaufschlag zu.
Sie hatte Recht, das war er. Ich spürte mein Erröten. Wie beiläufig nahm ich ein Buch (Die Entdeckung des Schweigens: Vom Glück der Stille in einer Welt, die den Mund nicht mehr hält) aus meiner Tasche, gab kurz vor, darin zu lesen und legte es so unauffällig wie möglich auf meinen Schoß.
„Entschuldigung“, sagte sie.
„Wofür?“
„Dass ich Ihre Stille und damit Ihr Glück gestört habe.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mein Glück wird durch ganz andere Dinge gestört.“
Am Morgen hatte ich mit dem festen Entschluss das Kloster verlassen, in meinem Leben Ordnung zu machen und mich zu finden. Jetzt wollte ich mich nicht finden, sondern verlieren. In den Armen dieser Rothaarigen, und nicht nur in ihren Armen. Ich wollte ihr Haar riechen, ihren Hals schmecken, ihre weichen Brüste fühlen. Für den Anfang. Später dann wollte ich ihr sanft die Beine auseinanderdrücken und die Innenseiten ihrer Oberschenkel streicheln. Meine Hand auf ihrer Scham ruhen lassen, ohne sie zu bewegen. Nur leicht dagegen drücken und genießen, wie sie langsam feucht wurde und zu beben begann. Irgendwann dann wollte ein Finger mutiger werden und in sie eindringen, nass und glitschig. Dabei wollte ich ihr in die Augen schauen und ihrem Blick standhalten. Vielleicht war es Feigheit, vielleicht Vernunft, auf jeden Fall ließ ich es beim letzten bewenden. Ich schaute ihr in die Augen.
„Glück wird sowieso überbewertet“, unterbrach sie mein Wollen, „zumindest das individuelle.“
Das kollektive Glück und philosophische Diskurse darüber waren mir im Moment ziemlich egal. Ich wollte diese Frau gerne glücklich machen. Und mich.

Fortsetzung folgt

Sonntag, 17. März 2013

Die Stille 1/3

Der dicke Glatzkopf hörte auf an seinem Ohr zu kratzen und erhob sich, griff nach seinem schwarzen Köfferchen und verließ das Abteil. Nun waren wir noch zu dritt und die Rothaarige hatte ihre Seite für sich allein. Sie kramte in der Tasche und holte nacheinander ein Buch, einen Laptop, eine Zeitung, eine Mineralwasserflasche, einen Taschenspiegel, ein Glas Marmelade, ein Handy und einen Lippenstift heraus, verteilte alles wahllos auf den Sitzen zu ihrer Rechten, betrachtete es mit prüfendem Blick und dachte offensichtlich nach. Die junge Frau neben mir seufzte zum soundsovielten Male und drückte auf ihrem MP3-Player herum.
Draußen zog die Landschaft an mir vorüber. Obwohl - in Wahrheit zog ich an der Landschaft vorüber, sie blieb, wo sie immer schon gewesen war. Der Mensch nimmt sich so wichtig, dass er glaubt, alles bewegt sich rund um ihn, obwohl nur er selbst es ist, der keine Ruhe findet. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als die Rothaarige sich erst die Lippen bemalte und aufeinanderpresste, das überschüssige Rot in einem Taschentuch abtupfte, einen Schluck aus der Flasche nahm, die Lippen abermals nachzog, den Laptop aufklappte und zur Zeitung griff.
Ich stellte sie mir in dem Kloster vor, aus dem ich gerade kam. Sie hätte die Schweigeexerzitien vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde durchgehalten. Schweigen im Kloster bedeutete nämlich nicht nur, nichts zu sprechen, sondern auch das Tun auf das Notwendige zu reduzieren. Ins Innen zu schauen anstatt in den Fernseher, nichts lesen, nichts schreiben.

Das Handy der Rothaarigen tat das, was es schon ein paar Mal getan hatte und offensichtlich immer wieder tun musste. Es läutete und spielte eine blecherne Melodie aus den Charts. Sie kramte in der Handtasche, obwohl das Handy immer noch auf dem Polster neben ihr lag, allerdings versteckt unter der Zeitung. Ich hätte ihr das natürlich sagen können, aber ich wollte nicht in ihre Welt eingreifen und das darin herrschende Chaos zerstören. Vor allem wollte ich nicht, dass sie schon wieder minutenlang telefonierte.
Meine Wünsche wurden erhört und Lady Gaga war mit dem Dudeln fertig, noch bevor die Rothaarige fündig geworden war.
Was hat dich bloß so zynisch werden lassen, Oliver?, fragte ich mich, obwohl ich die Antwort natürlich kannte. Mein Beruf war mir längst keine Berufung mehr, in meiner Ehe hatte Routine die Leidenschaft rechts überholt, ich ging auf die Fünfzig zu, und stellte mir die Frage nach dem Sinn. Im Kloster hatte ich zwar nicht die erhoffte Antwort, aber zumindest Ruhe gefunden.
Eine Woche lang hatten Stille, Leere und Gebete mein Leben bestimmt. Das und die bescheidene und gelassene Zufriedenheit der Mönche hatten mich in einen Kokon gehüllt.
Ich wollte diese Stille noch ein wenig genießen, bevor die Hektik des Alltags und die Erwartungen meiner Frau, meiner Kinder und meiner Kunden mich wieder in den Würgegriff nehmen würden. Ich mahnte mich zu mehr christlicher Toleranz und entschuldigte mich bei meinem hyperaktiven Gegenüber für meine gehässigen Gedanken mit einem freundlichen Lächeln.
Mein freundliches Lächeln wurde ebenso freundlich erwidert. Freundlich und ein bisschen überrascht, so als hätte sie mir ein freundliches Lächeln gar nicht zugetraut. Die einwöchige Askese hatte dazu geführt, dass meine Regungen und meine Mimik sich auf ein Minimum reduziert hatten. Bestimmt würde ich am nächsten Tag Muskelkater vom vorübergehenden Lächeln haben.

„Shit, ey, shit!“ Das Mädchen neben mir war unsanft aus ihren MP3-Träumen erwacht und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ein schriller Pfeifton war zu hören. „Boah, ey,
nee.“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf dem pinkfarbenen Kästchen herum und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Ich schwieg. Die Rothaarige natürlich nicht.
„Aber, aber, aber...“ murmelte sie, während sie ihren Kopf in der Handtasche vergrub und ein Kabel hervorzauberte. „Hier, das müsste eigentlich passen. Und hier“, sie klappte die Armlehne hoch, „ist eine Steckdose. Hab ich auch erst vor kurzem entdeckt.“ Sie trug anscheinend ihren halben Hausrat in der Tasche und ihr ganzes Herz auf der Zunge. Ungefragt, und wohl auch unerhört - denn die junge Dame hatte ihre Ohren wieder zugestöpselt - erklärte sie, dass sie immer wieder mal Handys und Ladekabel in Hotels vergesse und deshalb sicherheitshalber stets Reservehandys und -kabel bei sich hatte.

Ich war genervt. Ich war aber auch fasziniert. Ich hatte das Gefühl, in den letzten beiden Stunden mehr über diese Fremde erfahren zu haben als in den letzten dreißig Jahren über meine Frau. Doch dieses Wissen war nur oberflächlich, so oberflächlich wie ihr Geplapper. Was verbarg sich wohl hinter der Oberfläche? Welche Leere versuchte sie mit Lärm und Geschäftigkeit zu übertönen? Als sie in meine Richtung schaute, legte ich den Zeigefinger an meine Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Sie hielt mitten im Wort inne.

Ich senkte beschämt meinen Blick, der zufällig auf ihre Beine fiel, die in sehr ausgefallenen Strumpfhosen steckten. Die Frau schwieg zwar jetzt, aber ihre Strumpfhose erzählte mehr als genug. Von altrosafarbenen Blüten und Blütenträumen. Große Blüten und vermutlich auch große Träume. Auf die Darstellung der Dornen hatte der Strumpfhosenhersteller sicher bewusst verzichtet. Das Auge fühlt ja bekanntlich mit.
Offensichtlich aß die Rothaarige gern, wirkte aber auch ganz gut trainiert, denn sie hatte kräftige Beine, die die Strumpfhose prall ausfüllten. Kleine bräunliche Krümel und winzige Einrisse am rechten Knöchel ließen mich spekulieren, dass sie vor der Zugfahrt noch einen Waldspaziergang gemacht hatte. Danach hatte sie irgendwo einen Kaffee getrunken und ein Stück Erdbeertorte gegessen. Jedenfalls sprachen die Spuren am linken Oberschenkel dafür.
Die Erdbeeren passten nicht so recht zu dem Lippenstift, den sie sich jetzt auf das stumme „O“ malte. Dann grinste sie mich an und Sekunden später wusste ich warum. Während ich sie beobachtete, hatte ich in einem Anflug von unterbewusster Empathie meine eigenen Lippen ebenfalls zu einen „O“ geformt. Spiegelneuronen, fiel mir ein.
Sie hielt mir lachend den Lippenstift hin. „Möchten Sie auch?“
Hätte mir irgendjemand gesagt, dass meine ersten Worte nach den Schweigeexerzitien ausgerechnet „Danke, aber ich steh mehr auf Pastelltöne“ sein würden, ich hätte fassungslos den Kopf geschüttelt oder hemmungslos losgelacht. Das hemmungslose Lachen übernahm die Rothaarige für mich. „Dabei schauen Sie gar nicht so witzig aus“, stellte sie fest, als sie sich wieder beruhigt und einen bösen Blick der jungen Dame geerntet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Aussage als Kompliment werten sollte. Vielleicht hätte ich besser geschwiegen, denn sie veränderte ihre Körperhaltung und wandte sich mir zu. Die Beine hielt sie nun nicht mehr übereinandergeschlagen, sondern öffnete sie leicht. Oh je, dachte ich. Ah ja, dachte ich aber auch und war ein wenig irritiert. Offenbar interpretierte sie mein Danke-aber-ich-steh-mehr-auf-Pastelltöne als Einladung auf ein Gespräch. Ich wappnete mich innerlich, denn ich rechnete mit eine Fragenattacke nach Alter, Beruf, Urlaubsdestination und Lieblingsspeisen und überlegte, wie ich diese Fragen bestimmt, aber höflich – und witzig, denn ich muss zugeben, dass mich ihre Einschätzung, dass ich gar nicht so witzig aussähe, ein wenig kränkte - parieren könnte. Sie wollte nichts von alldem wissen. Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Fortsetzung folgt

Montag, 18. Februar 2013

Adelheid

Ich war eine Schönheit damals, auch wenn man mir das nicht mehr ansieht.
Von fernen Stränden und aufregenden Städten hab ich geträumt. Ich wäre gern Reisebüroangestellte geworden. Aber das nächste Reisebüro war in Zwettl, und nach Zwettl waren es 38 Kilometer und am Abend ging kein Bus mehr nach Hause. Also hab ich Koch/Kellner gelernt, beim Kirchenwirt im Nachbardorf.
Die Lehre hab ich abgebrochen, nachdem der Kirchenwirt nicht aufgehört hat, mich zu begrabschen.
Am schlimmsten war’s, als die Chefin schwanger war, wahrscheinlich hat’s ihn dann nicht mehr ranlassen. Kaum hat sie ihren Hintern zur Wirtsstube hinausbewegt, hat er mir auf den Busen gegriffen, während ich die Gläser gespült hab. Oder zwischen die Beine. „Du willst das ja auch“, hat er gesagt, aber das war gelogen. Ich wollte den Franz. Erzählt hab ich die Sache mit dem Chef niemandem, nicht einmal dem Franz. Hätt mir sowieso keiner geglaubt, das war damals nicht anders als heute. Wahrscheinlich hätten sie gesagt, dass ich selber schuld bin, wenn ich in dem kurzen Dirndl servier.
Das wollte ich auch nicht, das hat der Chef so von mir verlangt. „Da trinken die Gäste mehr“, hat er gesagt, und dass ich nicht so zimperlich sein soll.
Als die Mutter draufgekommen ist, dass ich nicht mehr dort arbeit, hab ich Watschen gekriegt. Es waren nicht die ersten.
Dann hab ich nicht mehr Gläser gespült, sondern Gläser hergestellt, in der Glasfabrik. Bis der Franz gesagt hat: „Lass uns nach Griechenland abhauen.“ Lange braune Haare hat er gehabt und ein rotes Stirnbandl. Vor allem aber einen umgebauten VW-Bus, mit gebatikten Vorhängen, einer Stereoanlage und weichen Matratzen.

„Wennst jetzt gehst, brauchst gar nicht mehr heimkommen“, hat meine Mama gesagt. Ich wollt eh nicht mehr heim zur Mama und zur Oma. Meinen Papa hab ich nie kennengelernt, in der Geburtsurkunde steht keiner. Wenn ich gefragt hab, haben sie zu heulen begonnen, die Mama und die Oma. Es gab Gerüchte im Dorf, dass es ein russischer Besatzungssoldat war, aber Genaues weiß man nicht.

„Is this the way to Amarillo“, haben Franz und ich im Bus gegrölt und uns frei und mutig gefühlt. In Spielfeld hat der VW-Bus dann noch ein paar Mal geächzt, und das war es dann mit Griechenland. Der Franz ist allein weitergestoppt, und ich bin mit dem Zug nach Hause gefahren. Später dann hab ich erfahren, dass der Franz nicht in der weiten, sondern in der Buckligen Welt gelandet ist.
Als ich nach Hause kam, waren meine Sachen schon gepackt. Die Mama hat wirklich ernst gemacht.
Da kam der Gustl mir grad recht. Der war Stammgast beim Kirchenwirt und hat mich bei sich schlafen lassen. Wir haben gesoffen und geredet und eins ergab das andere. So schnell hab ich gar nicht schauen können, war ich schwanger. Am Anfang hat der Gustl auch noch Träume gehabt und vom Reisen geredet. Nach Amerika wollt er, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Pah, Amerika. Das weiteste, wo wir je waren, war der Klopeinersee.
Ich war total überfordert mit dem Gschrapp, und der Gustl hat sich auch nie wirklich um die Hannah gekümmert. Wenigstens gearbeitet und Geld heimgebracht hat er. Gern gehabt hab ich ihn nie wirklich. „Das kommt schon mit der Zeit“, hat die Oma gesagt, "die Liebe ist nicht das Wichtigste in einer Ehe". Aber es ist nie gekommen. Ich bin nur wegen der Hannah nicht gegangen. Ich wollt unbedingt, dass sie es einmal besser hat als ich. Dass sie eine richtige Familie hat, eine mit einem Mann im Haus, dass sie eine Ausbildung fertig macht und es ihr gut geht.
Und jetzt? Jetzt wirft sie mir vor, dass ich geblieben bin. Dass ich dadurch nicht nur mein, sondern auch ihr Leben kaputtgemacht hab. Undank ist der Welten Lohn. „Schau dich doch einmal an, Mama!“, sagt die Hannah. "Schau, was aus dir geworden ist."

Als hätt ich keinen Spiegel.

Freitag, 15. Februar 2013

Karin

Ich war die zweite von vier Töchtern. Meine Eltern hätten viel lieber einen Sohn bekommen. Ich wäre auch lieber der erste Bub gewesen als das zweite Mädchen.
Ich war eine gute Schülerin. In Englisch und Deutsch war ich Zweitbeste. „Deine Aufsätze sind immer so traurig“, hat die Deutschlehrerin gesagt, „schreib doch einmal was fröhliches, wie die Hanni.“ Ich hätte ihr erklären können, dass das Leben auch mit fröhlichen Aufsätzen nicht besser wird, aber es hätte nichts genützt.

Erst hab ich Blockflöte gelernt und dann Violine. Ich war richtig gut. Endlich einmal war ich in etwas richtig gut. Am liebsten mochte ich die Stücke von Mahler. Nach meinem Ellbogenbruch hab ich im Streichquartett nur noch die zweite Geige gespielt. Wie im Leben auch.

Und irgendwann kam Rudi. Schöne Augen hat er mir gemacht mit seinen schönen Augen, auf der Modellbaumesse. Er war aufmerksam und ein richtiger Gentleman, zwar wesentlich älter als ich, aber sehr attraktiv. Er hat mich hofiert, mir Komplimente gemacht und mich umschwirrt. Das hat so verdammt gut getan. Ehrlich gesagt, ich hab mich nicht für diese Miniaturlandschaften und -züge interessiert, ich hab mir halt während meines Germanistikstudiums auf diversen Messen Geld verdient. Auch auf der Briefmarken- und der Erotikmesse. Eine wie die andere. Sogar das Publikum war das gleiche.
Die halbe Nacht haben wir geredet. Sehr eloquent. Sehr klug. Sehr schön. Pointenreich.
„Du hast einen Vaterkomplex“, hat meine Freundin Brigitte gesagt, als ich sie angerufen und brühwarm von ihm erzählt hab. Brigitte ist Therapeutin.

„Wie schön, dass du nicht nur zu multiplen Sarkasmen fähig bist“, hat Rudi nach der anderen Hälfte der ersten Nacht gesagt und nicht mehr aufgehört, mich überall zu küssen.
In der zweiten Nacht hat er mir gestanden, dass er verheiratet ist. „Yeah, Zweite!“, hab ich gerufen und damit nicht nur die Reihenfolge unseres Kommens gemeint. Ich hab gelacht, dabei hätte ich heulen können. Aber ich wollte nicht, dass er geht.
Dass er sich sowieso gern scheiden lassen würde, hat er gesagt, sich aber Sorgen macht um die Renate, weil sie ja nichts gelernt hat und auf ihn angewiesen ist. „Sie braucht mich, verstehst du, mein Engel?“

Er hat mir versichert, dass er mit ihr nicht mehr schläft. Ich hab ihm das nicht geglaubt. Das erzählen die Männer ihren Geliebten doch alle, oder? Brigitte hat gesagt: „Das kannst du ihm schon glauben.“ Das hat sie bei ihrem Mann auch geglaubt, obwohl der jahrelang eine Affäre hatte. Alle haben sie es damals gewusst, nur die Brigitte nicht.

Einmal hab ich den Rudi nach dem Essen gefragt, warum er die Renate überhaupt geheiratet hat, wo er doch eh immer so schlecht über sie redet, dass sie nicht kochen kann und spießig ist und keinen Wert auf sexy Kleidung legt und so weiter.
„Wegen der Alliteration“, hat Rudi gesagt. „Ich habe gelesen, dass Ehen, in denen die Vornamen der Partner mit dem gleichen Buchstaben beginnen, glücklicher sind als andere. Da dachte ich, Rudolf und Renate Reinthaller, das wird die perfekte Ehe.“

Renate malt. „Volkshochschule, erstes Semester“, findet Rudi. Ich finde das nicht in Ordnung, aber das trau ich mich ihm nicht zu sagen. Rudi kann mit Kritik nicht gut umgehen. Von meinen Texten hält er auch nicht viel, das merk ich, auch wenn er mir dann übers Haar streicht und „das hast du schön geschrieben“ sagt.

Natürlich hab ich mir schon öfter überlegt, mich von ihm zu trennen. Zweitfrau zu sein ist nämlich nicht so aufregend wie es klingt. Zu Weihnachten immer allein. Im Urlaub immer allein. Keine Anrufe. Aber Rudi braucht mich. „Verlass mich nicht, mein Engel, meine Erfüllung, mein Leben“, sagt er oft. Dann küsst er mich und geht. Nach Hause zu seiner Frau.

Ich hab Angst, dass er sich etwas antut, wenn ich ihn verlasse, er wirkt oft so depressiv. Manchmal denke ich, es wäre schön, einmal im Leben Nummer Eins im Leben eines Menschen zu sein. „Fang bei dir selber an“, sagt Brigitte dann, „sei Nummer Eins in deinem Leben.“
Ausgerechnet sie sagt das.

Samstag, 9. Februar 2013

Jan

Wir saßen beim Italiener. Mama, meine zwei Schwestern, Mamas neuer Freund und ich. Meine Schwestern sind in Wahrheit nur meine Halbschwestern, wir haben drei unterschiedliche Väter. Eine Schwester einen New Yorker Maler mit jüdischen Wurzeln und die andere einen Geschäftsführer eines All-inclusive-Clubs in Djerba. Mein Vater war Arzt in Amsterdam. Irgendwie kann ich verstehen, dass keiner der drei es länger als zwei Jahre mit Mama ausgehalten hat.
Trotz der Entfernung sind sie alle ihre Freunde und unsere Väter geblieben. „Ich liebe sie immer noch“, sagte Mama oft, und jedes Mal, wenn sie das sagte, zuckte Klaus, ihr Neuer zusammen. „Vielleicht hätte ich sie nicht verlassen sollen“, sagte sie auch hin und wieder, dabei waren es immer die Männer gewesen, die gegangen waren. Mama war schön, bunt und schrill. Klaus war höflich und lieb, aber ein bisschen spießig. Er passte nicht zu uns.

Mama war Schauspielerin. Sie hatte zufällig gerade ein Engagement und daher Geld in der Tasche. Wie immer, wenn sie Geld in der Tasche hatte, lud sie uns zum Nobelitaliener ein. Wenn sie keines hatte, was viel häufiger vorkam, oder wenn der Unterhalt für uns Kinder nicht pünktlich eintraf, gab es Spaghetti in allen Variationen. Mit Tomatensoße, Aglio und Olio, mit Thunfisch, Carbonara, Bolognese. Oder Pizza aus dem Tiefkühlfach.

Es passierte zwischen Antipasti und Primo Piatto. Die erste, große Gier war gestillt, doch der Hunger noch lange nicht, die Vorfreude auf das, was noch kommen sollte, war groß. Es war einer dieser Momente, in dem alle Sinne und Poren aufnahmebereit sind. Ich schwöre, ich hatte es nicht geplant, irgendwann vielleicht, aber nicht für diesen Abend. Doch als Paolo Contes Max durch den Raum waberte, spürte ich, dass dieser Augenblick der richtige, ja, der einzig mögliche war.

Enrico, der schöne Oberkellner mit der Elvis-Tolle und dem verschmitzten Lächeln, hatte gerade die Vorspeisenteller abserviert, auf meiner Zunge lag noch der Geschmack von gerösteten Babycalamari auf Ruccola und gerösteten Pinienkernen. Ich verstand nicht, wovon Paolo Conte sang, aber das Lied erzeugte Gänsehaut auf meiner Seele. Nur ein paar Worte fing mein Geist auf, und unter diesen Worten waren vor allem zwei, die meine Aufmerksamkeit und mein Herz erregten. Max und segredo. Geheimnis.
Ich trank einen Schluck Sauvignon Blanc, obwohl mir Wein nicht schmeckte, und kratzte meinen Mut zusammen.

Im Kopf war ich diese Szene schon unzählige Male durchgegangen. „Ich bin draufgekommen, dass ich homosexuell bin“ klang zu steril. „Ich bin ein stolzer, schwuler Mann“ zu pathetisch und hätte wahrscheinlich Lachanfälle meiner Familie ausgelöst. „Ich hab mit einem Kerl gevögelt“ war zu ordinär und die Wahrheit - nämlich „ich habe mich in Max verliebt“ - zu romantisch.
„Ach ja, hab ich vergessen zu sagen“, sagte ich so beiläufig wie Ich hab eine Zwei minus in Mathe, „ich bin schwul.“
Enrico stellte die Linguine mit Parmesancreme mit Trüffel vor mich. Ich schwöre, er hat mich noch eine Spur verschmitzter als sonst angelächelt.
„Armer Kleiner“, sagte Jacoba, meine große Schwester und strubbelte mir durchs Haar. Sie wusste, dass ich beides nicht leiden konnte, das Strubbeln und das Kleiner. „Das gibt nur Probleme, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Du weißt, wovon du...?“
„Sicher. Ich steh schließlich auch auf Männer. Die sind so ungeheuer kompliziert.“ Sie rollte die Augen und wickelte die Nudeln auf die Gabel.
Meine kleine Schwester konzentrierte sich auf ihr Smartphone und ich dachte erst, sie suchte nach einer Taste, mit der sie sich aus dieser peinlichen Situation wegbeamen konnte. „Ich hab’s!“, rief sie plötzlich und las einen Spruch aus Facebook vor: „Niemand sucht sich Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aus. Aber jeder kann wählen, ob er ein Arschloch ist.“
„Jamaal!“, sagte Mama.
„Ich hab doch nur gemeint, dass Jan ganz bestimmt kein Arschloch ist. Er ist einer von den Guten.“
„Danke, Süße.“ Sie konnte es nicht leiden, wenn ich sie Süße nannte.

Mama leckte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel, schenkte allen Wein nach und sagte: „Danke, dass du es uns gesagt hast, Jan. Ich hab mir so etwas Ähnliches eh schon gedacht“. Sie sagte es im gleichen Tonfall wie sonst Reichst du mir bitte mal das Salz rüber? Was bitte war etwas Ähnliches wie schwul?, dachte ich und wollte fragen. Aber Mama lächelte mich an und sagte nur: „Reichst du mir bitte mal das Salz rüber?“

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Kein Erdbeben, keine Tränen und keine Vorwürfe, dazu war meine Familie viel zu durchgeknallt und tolerant – oder war es bloß Gleichgültigkeit, weil alle mit sich selbst beschäftigt waren? Dass mein Outing sie weniger überraschte als hätte ich soeben gestanden, bei den Pfadfindern zu sein, das verblüffte – und kränkte mich jedoch. Ich hätte mir mehr Aufmerksamkeit für diesen denkwürdigen Moment gewünscht, in dem ich mich vor mir und meiner Familie zu meiner Sexualität bekannte. Vor allem von Mama.
Es war nämlich so: Auch, wenn ich es mir vormachte – es war doch nicht normal, schwul zu sein! Es machte mir Angst, verwirrte mich, wirbelte mich durcheinander. Ich wollte mich erklären, kämpfen, reden, mich rechtfertigen. Aber Mamas Aufmerksamkeit galt der Kalbsleber nach Borgo Art mit Zwiebeln, Sellerie und Polenta. „Heute hat der Koch sich wieder selbst übertroffen“, sagte sie.

Einzig und allein Klaus, Mamas biederer, lieber Freund, erkannte meine Notsituation und versuchte mich zu retten. Er hörte auf zu essen und legte das Besteck zur Seite. „Aber Jan, das kann man in dem Alter doch noch gar nicht so genau wissen“, sagte er und zwinkerte mir aufmunternd zu, „das geht bestimmt vorbei. Spätestens, wenn die Richtige kommt.“

Samstag, 5. Januar 2013

Annabella

Sie war wahnsinnig schön, als sie im Sarg lag. Schöner als je zuvor. Ich schwöre, sie hat mich angelächelt, mit ihren roten Lippen. Sie sah aus wie Schneewittchen. Als Papa sich zu ihr hinunterbeugte, war ich überzeugt davon, dass sie die Augen aufschlägt, wenn er sie küsst. Er hat sie nicht geküsst, sondern nur die Haare aus ihrem schönen Gesicht gestrichen. Außerdem war der Sarg nicht aus Glas und Schneewittchen nicht Dornröschen.

Ich war 14, als meine Mutter starb. Ich war hin- und hergewürfelt zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Märchen und Michael Jackson. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, Mama möge nach dem schrecklichen Unfall wieder lebendig sein und der Gewissheit, dass nichts je wieder so sein würde, wie es war.
Papa wollte mir den Anblick meiner toten Mutter ersparen. Ich sollte sie so in Erinnerung behalten, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Zwei Tage lang aß ich nichts und sperrte mich in mein Zimmer ein. Ich hörte Mozarts Requiem in Endlosschleife. Nie wieder wollte ich herauskommen, nicht aus meiner Daunendecke und nicht aus der Musik, die mich umspülte.
Erst, als Papa an die Tür klopfte und sagte: „Zieh dich an, wir fahren zu Mama“, beendete ich meinen Hungerstreik und meine freiwillige Gefangenschaft. Die Kinder- und Jugendpsychologin, an die Papa sich in seiner Verzweiflung gewandt hatte, fand, dass es wichtig für mich wäre, meine Mutter noch einmal zu sehen, wenn ich mich von ihr verabschiedete.

Als ich an Mamas Sarg stand und über das glatte Ahornholz strich, fühlte ich mich auf eine eigenartige Weise getröstet. Sie lächelte mich an. Die Traurigkeit über ihren Verlust war zwar enorm, aber mit einem Mal hatte der Tod seinen Schrecken für mich verloren. Er hatte nicht die Macht, dem Leben seine Schönheit zu nehmen; das beruhigte mich. Friedlich und zufrieden sah Mama aus. Vielleicht sogar zufriedener als am Tag ihres Unfalls, da hat sie sich in der Früh über mich geärgert, weil ich verschlafen hatte und sie mich zur Schule bringen musste.
Sie war wunderschön in ihrem Sargbett, ein wenig blass, doch das Rouge brachte ihre Wangenknochen gut zur Geltung.
Noch am selben Abend beschloss ich Bestatterin zu werden.

Mein Papa litt sehr unter dem Tod meiner Mama. Ich natürlich auch, aber mindestens genauso litt ich darunter, dass seine Fröhlichkeit und sein Humor mit ihr gestorben war. Während meine Freundinnen herumzickten und sich von zu Hause abnabelten, bemühte ich mich, ein liebes, fröhliches Mädchen zu sein. Ich setzte alles daran, meinen Papa wieder zum Lachen zu bringen und war glücklich, wenn es funktionierte. Die glückliche, junge Frau zu spielen, die andere mit ihrem Lachen ansteckte, ging mir so sehr in Fleisch und Blut über, dass ich es irgendwann tatsächlich war. Es ist nachgewiesen, dass man sich besser fühlt, wenn man lacht, auch wenn einem eigentlich nicht zum Lachen zumute ist. Versuchen Sie mal, einen Hampelmann zu machen und dazu zu schreien: „Ich bin traurig!“ Das klappt einfach nicht. So lernte ich, das Positive und Schöne im Leben und in den Menschen zu sehen und nicht das Traurige und ihre Defizite.

„Was du nicht besiegen kannst, mach dir zum Freund“ hatte Mama immer gesagt. Mit Mathe und meinem Mathelehrer war mir das nicht gelungen, vielleicht gelang es mir ja mit dem Tod.

Der Bestatter staunte nicht schlecht, als ich ein paar Wochen später vor seiner Tür stand und darum bat, bei ihm arbeiten zu dürfen. „Du werd’ erst mal erwachsen!“, sagte er und lachte, „so ein junges Mädel sollte sich mit schöneren Dingen als dem Tod beschäftigen“.
Ich kam am nächsten Tag wieder. Und am übernächsten und überübernächsten Tag auch. „Der Tod schert sich auch nicht darum, ob jemand erwachsen ist oder nicht“, sagte ich. Irgendwann wurde er weich und ich kam jeden Samstag. Am Anfang ließ er mich noch nicht an die Leichen, sondern teilte mich für Büroarbeit ein. Bald wusste ich alles über Särge und ihre Preise, über Grabsteingravuren und Friedhofsgebühren. Aber ich blieb hartnäckig, und nach und nach bemerkte er, dass ich auch gut mit Menschen umgehen konnte, mit Trauernden und mit Toten. Die Angehörigen fühlten sich mit ihren Ängsten und Schuldgefühlen von mir verstanden und angenommen, obwohl ich noch so jung war.

Nach der Matura hab ich nicht nur am Samstag in der Bestattung ausgeholfen, sondern wurde fix dort angestellt. Mein Papa hätte mich zwar lieber als Flugbegleiterin gesehen, aber auch er war machtlos. Er spürte, dass mein Beruf mich glücklich machte und so, wie ich wollte, dass Papa glücklich war, wollte auch er, dass ich es war und akzeptierte meine Berufswahl.

Vor allem die Thanatopraxie ist meine Leidenschaft, ich hab etliche Seminare zu dem Thema besucht. Dort lernte ich die Vorbereitung der Leichen für die Beisetzung. Am liebsten mag ich die optische Wiederherstellung von Unfallopfern.

Vor ein paar Tagen hatten wir eine Frau da, die beim Bergsteigen abgestürzt ist. War ganz schön viel Arbeit. „Bringen Sie das Kind mit“, sagte ich zum skeptischen Vater, „es ist wichtig.“
„Glauben Sie wirklich?“
„Ja“.

Sie sieht aus wie Schneewittchen, dachte ich, als ich mein Werk vollendet hatte. Ich wischte mir eine Träne aus den Augenwinkeln und lächelte zufrieden.
„Sie können sich jetzt von ihr verabschieden“, sagte ich zum Ehemann, der seine kleine Tochter an der Hand hatte, und begleitete die beiden zum Sarg.
„Papa, schau mal, wie schön Mama wieder ist! Sie sieht aus wie Katy Perry.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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