Geschichten

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Always Ultra

Judith und ich waren seit sieben Monaten ein Paar. Sie hatte einen aufregenden und trainierten Körper, den ich Tag für Tag gerne neu entdeckte, einen scharfen Verstand, mit dem sie mich in Diskussionen oft forderte, sie war sportlich, witzig und warmherzig. Beruflich war sie als Dozentin für Audioproduktion an der FH erfolgreich und bei den Studenten beliebt. Judith liebte ihren Beruf. Ich liebte vor allem die Töne, die ich ihr beim Sex entlockte.
Kurz: Judith war meine Traumfrau.

Ich vertraute ihr. Zum Teil, weil ich von Natur aus kein misstrauischer Mensch war, zum anderen Teil, weil ich – ohne überheblich wirken zu wollen - überzeugt von meinen Qualitäten als Mann und Partner war, Qualitäten, die es durchaus mit denen von Judith aufnehmen konnten. Abgesehen davon schätzte ich Frauen, die ihr eigenes Leben lebten und die sich nicht über ihren Partner definierten.
Warum also hätte ich etwas dagegen haben sollen, als Judith im Frühling damit anfing, an den Samstag- oder Sonntagnachmittagen regelmäßig wegzugehen, um sich mit ihrer Freundin zu treffen, zum Shoppen, ins Kino oder Kaffee trinken.
Um ehrlich zu sein, ich war keineswegs unglücklich darüber. Denn im Frühling blühte nicht nur die Natur auf, auch die Bundesliga erwachte aus ihrem endlos scheinenden Winterschlaf. Das bedeutete, dass Walter und Erwin kamen und wir gemütlich das eine oder andere Gläschen und Tor konsumierten und kommentierten. Wir hatten uns nach unseren wilden Jahren zu dem entwickelt, was Spötter Komfortzonen-Fans nannten, aber wir fanden, mit 40 Plus hatten wir uns das redlich verdient. Sofa vorm Ofen anstatt Tribüne und feuchte Kälte, 50 Zoll mit Nahaufnahmen statt ein schlechter Blick aufs Spielfeld, ein guter Barrique aus dem Riedel Glas statt Bier aus dem Plastikbecher. Eine jahrzehntelange Freundschaft verband Walter, Erwin und mich. Was uns noch verband, waren die Veilchen, also die Wiener Austria.
Judith hätte nie böse Bemerkungen über unser Hobby gemacht wie Walters Frau, die Woche für Woche „Fußball ist dir also wichtiger als unsere Beziehung?“ keifte, wenn er das Haus verließ. Walter antwortete immer diplomatisch mit „das kann man so nicht sagen“, anhand mit einem ehrlichen „Ja“. Früher hatte sie jedes Mal pünktlich nach dem Schlusspfiff angerufen und gefragt, wo er bliebe, bis Walter Erwins Rat folgte und das Handy einfach ausschaltete.
Das würde Judith nie tun, dachte ich, mir hinterhertelefonieren und mir meinen Spaß nicht gönnen. Ich vertraute ihr, und sie vertraute mir. So einfach war das. Nun ja, um ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht, wie Judith reagiert hätte, sie war ja meistens schon weg, wenn meine Jungs kamen.
Wahrscheinlich hätte sie sich gelangweilt in ihr Studio zurückgezogen und die Tonaufnahmen ihrer Studenten angehört. Vielleicht hätte sie vorher noch augenzwinkernd in unsere Richtung bemerkt, dass wir ja doch zu Emotionen fähig wären. Vielleicht hätte sie auch „Was war noch mal ein Abseits?“ gefragt und spöttisch gegrinst, weil keiner von uns Dreien – wir waren allesamt Akademiker - ohne Zuhilfenahme von Bleistift und Zettel ein Abseits erklären konnte.

Wie gesagt, ich war von Natur aus nicht misstrauisch. Ich wurde es auch nicht, als Walter – Junuzovic netzte gerade ins linke Kreuzeck ein - bemerkte, dass Judith von ihren ausgedehnten Shopping-Touren nie mit Einkäufen zurückkam. Erwin – der bisweilen unter seinem Singledasein litt, fügte sarkastisch hinzu: „Vielleicht hast du sie falsch verstanden. Vielleicht hat sie ja Poppen gesagt und nicht Shoppen.“
Solche blöde Bemerkungen konnten mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich versuchte mich wieder auf den Bildschirm zu konzentrieren. Unkonzentriert war leider Ortlechner, der den Ball anstatt ihn zum Torwart zurückzuspielen an diesem vorbei ins eigene Tor schoss.
Wie gesagt, ich vertraute Judith, aber hatte sie da nicht aufgeregte rote Flecken im Gesicht? „Ganz schön kühl draußen“, lächelte sie und küsste meine Bedenken weg.

Niemals hätte ich mich – wie andere Männer - dazu hinreißen lassen, heimlich in ihren SMS nach verräterischen Nachrichten zu suchen. Solche Aktionen machten Beziehungen kaputt. Misstrauen machte die Liebe kaputt, darin waren Judith und ich uns einig. Ich wollte nichts kaputtmachen. Aber ehrlich, was würden Sie tun, wenn Ihre Freundin ihr IPhone zu Hause liegen lässt und es nicht aufhört zu klingeln, während Emir Dilaver mit einem Zuckerpass auf Hosiner das 1:0 einleitet? Ich schwöre, ich griff ihr Handy nicht an, sondern warf nur einen schnellen Blick auf das Display. „Sandra ruft an“, stand dort. Sandra. War Judith nicht mit Sandra im Zoo?

„Wie war’s mit Sandra im Zoo?“, fragte ich so beiläufig wie möglich, als wir am schön gedeckten Tisch saßen und Steaks vom argentinischen Angus-Rind, ihre Lieblingsspeise, aßen. Dazu gab es Folienkartoffel und Zuckerschoten. Ich hatte für sie gekocht, um ihr eine Freude zu machen. Ich hatte nämlich ein klein wenig Angst, sie zu verlieren, und ich wollte meine Traumfrau nicht verlieren. Immer öfter schlich sich der Gedanke in mein Hirn, sie könnte mich betrügen. Ich würde um sie kämpfen, schwor ich mir, selbst wenn es da jemand anderen in ihrem Leben gab. Vielleicht war es zwischen ihr und diesem Kerl, wenn es einen gab, ja nur Sex, während Judith und mich viel mehr verband als körperliche Anziehungskraft. Was auch immer passiert war, ich wollte ihr dieses Foul verzeihen und nicht die rote Karte zücken.
„Wie es im Zoo war? Ach, wie es im Zoo halt so ist. Viele Tiere. Der Tiger war das Beste.“ Es fühlte sich an, als würde jemand ein Messer in meine Brust rammen. Im nächsten Moment spürte ich ihre Hand in meinem Schritt. „Diese Geschmeidigkeit und Kraft. Magst du mein Tiger sein?“
Konnte Judith tatsächlich so abgebrüht sein und ohne Skrupel aus den Armen eines Liebhabers direkt in die meinen stolpern? Meine Lust war stärker als meine Zweifel und ich beschloss, dass es bestimmt eine Erklärung für alles gab. Aber ich wollte sie nicht hören. Noch nicht.

„Was ist denn mit der los? Bilde ich es mir nur ein oder sieht sie heute ziemlich zerzaust aus?“, fragte Erwin ein paar Wochen später, als Judith nach Hause kam und ohne Begrüßung sofort ins Badezimmer stürmte. Meine Laune war ohnehin im Keller, denn meine Austria war drauf und dran, gegen die Bullen zu verlieren. Ausgerechnet Franz Schiemer, ein Ex-Austrianer, hatte mit einem Fallrückzieher das 3:1 gemacht. Ein sensationelles Tor, wie ich zugeben musste.
Nach dem Schlusspfiff ging ich ins Bad. Judith war gerade aus der Dusche gestiegen und hatte ein Handtuch um ihren wunderschönen Körper gewickelt. Sie roch nach Mandeln und Orangen. Vor dem Spiegel versuchte sie, ein golfballgroßes Hämatom am Auge mit Make-up zu überschminken. Auch auf ihrem Oberarm waren Kratzer und Blutergüsse.
„Hat der Tiger seine Krallen ausgefahren?“ fragte ich und meine Eifersucht fletschte die Zähne.
„Der Kofferraum“ sagte sie, „angerannt. ich dachte, du stehst auf Veilchen?“
Ich würde den Kerl, der ihr das angetan hatte, umbringen, beschloss ich und verwarf den Plan sofort wieder. Ich verabscheute Gewalt. Und ich liebte Judith. Die wirkte alles andere als unglücklich, eher aufgeregt und - im wahrsten Sinne des Wortes - aufgekratzt. Vielleicht hatte es ihr ja gefallen. Vielleicht sollte ich sie auch einmal härter anfassen und nicht nur zärtlich zum Orgasmus lecken. Vielleicht war ich ihr zu wenig Raubtier und zu sehr Schmusekater. Die Einschätzung – oder war es Überschätzung - meiner Qualitäten als Liebhaber wankte plötzlich bedrohlich.
Meine eine Hand drängte sich besitzergreifend zwischen ihre Beine, die andere griff ihr ins Haar und zog sie zu mir. Judith presste die Knie zusammen und sagte: „Jetzt nicht. Ich hab meine Tage.“
„Judith?“
„Ja?“
„Möchtest du darüber reden?“ Ich hoffte, sie würde Nein sagen, denn ich wollte nicht reden. Ich wollte nur, dass alles wieder wie früher war, dass wir einander vertrauten und uns ineinander geborgen fühlten.
„Mach dir keine Sorgen!“, sagte sie und küsste mich auf den Mund. „Alles in Ordnung. Du würdest es nicht verstehen. Ich liebe dich.“
Natürlich machte ich mir Sorgen. Gar nichts war in Ordnung. Vielleicht würde ich es ja doch verstehen. „Ich liebe dich auch“, sagte ich nur.

Anlässlich des Derbys hatten wir eine besonders gute Flasche geköpft, einen Leoville Poyferre 2011er.
Walter sah sie zuerst. „Schau mal!“, er drückte geistesgegenwärtig auf eine Taste der Fernbedienung und das Bild fror ein. „Judith!“, sagte Erwin und stellte sein Glas ab. Ich sagte nichts. Ich fror auch ein. Mir stockte der Atem und fehlten die Worte.
Judith hatte Recht gehabt. Ich verstand es nicht. Meine Judith - zwischen zwei bulligen, tätowierten und glatzköpfigen Ärmelbären, die zu einer seltsamen Choreographie hüpften und Fangesange brüllten. Meine Judith - mitten im Ultra-Fanblock. Sie hielt das Ende eines Transparents, das den „Sinn des Lebens“ verkündete, hinter ihr loderten bengalische Feuer. Ihre Wangen waren in den Vereinsfarben bemalt und ihr Mund offen.

Schockiert drückte ich die Aus-Taste. „Ich werde mich von ihr trennen“, flüsterte ich und Tränen liefen über meine Wangen. „Ich fühle mich so hintergangen.“
„Spinnst du, du Idiot?“ Ich hatte Walter noch nie so aufgebracht erlebt, höchstens, als Philipp Hosiner in der Euro League den Elfmeter verschossen hatte. „Du hast eine Frau, um die dich alle Männer beneiden, sie ist nicht nur wunderschön, klug und liebenswert, sondern steht auch noch auf Fußball. Du kannst dich doch nicht von ihr trennen, nur weil sie im Gegensatz zu uns ihren Arsch hochkriegt und die Mannschaft im Stadion supportet anstatt wie wir satt und bequem vor dem Fernseher zu hocken!“
„Nein. Nicht deshalb. Aber warum gerade grün-weiß? Wie kann nur Rapid der Sinn ihres Lebens sein?“

Montag, 19. November 2012

Überall daheim

weil heute Welttoilettentag ist ;-)


„Wir sind gleich auf Sendung.“ Der Kameramann richtete das Objektiv auf Lieselotte Pfeffer. Die trat ihre Zigarette aus, fuhr sich nervös durchs kurz geschnittene Haar und drückte sich den Stöpsel tiefer ins Ohr.
„Grüß Gott und guten Abend bei Überall daheim. Ich begrüße Sie herzlich aus Ried, der charmanten Messestadt im Innkreis. Über unser heutiges Thema werden Sie vielleicht schmunzeln, aber es ist ernster als es im ersten Moment scheint. Es geht um etwas, dass wir alle tun müssen. Nein, nicht sterben, nicht Steuern zahlen, sondern aufs Klo gehen. Überall daheim ist heute zu Gast beim Gründungstag der Ö.T.O., der Österreichischen Toilettenorganisation.“

Lieselotte lächelte und schob verschmitzt die Zungenspitze in den Mundwinkel. „Herr Peter Strobel.“ Sie wandte sich an ihren Interviewpartner und versuchte ernst zu bleiben. „Sie sind Gründungsmitglied und erster Obmann der neuen nationalen Toilettenorganisation. Was war denn Ihr Motiv, unter dem Deckel... Verzeihung, unter dem Dach der World Toilet Organization aktiv zu werden?“

„Es geht um ein Problem, das zum Himmel stinkt“. polterte Peter Strobel ins Mikrofon, „es war einfach an der Zeit, es anzupacken. Denn Toilette bedeutet Würde.“
„Da wollen wir mal hoffen, dass das kein Griff ins Klo wird, Herr Strobel. Was genau haben Sie in Österreich vor?“
„Schau’n Sie, gnädige Frau, wir leben hier nicht auf einer Insel der Seligen, klotechnisch gesehen. Jeder von uns muss manchmal in der Fremde nötig aufs WC und landet dabei in einem schäbigen Autobahnklo oder auf einem unwürdigen öffentlichen Abort. Damit muss endlich Schluss sein.“
Herr Strobel faselte noch begeistert von der Notwendigkeit, das Thema Toilette aus dem Tabubereich zu holen und Lieselotte nickte wissend. Mit Tabus kannte sie sich aus. Vor zwei Jahren hatte sie für ein Magazin der Landespensionistenheime vom Geriatriekongress über Blasen und Inkontinenz berichtet. Erst seit ein paar Wochen arbeitete sie für das Regionalfernsehen. Damals noch Da.heim, heute schon Überall daheim, dachte Lieselotte sarkastisch. Was für eine Karriere.
„Vielen Dank, Herr Strobel. Ich habe das Gefühl, Sie wissen, wovon Sie reden. Liebe Zuschauer, damit auch Sie wissen, wovon wir reden, betreten wir jetzt den Tatort. Meine Damen daheim, seien Sie tapfer - folgen Sie mir aufs Männerklo.“
Lieselotte verzog das Gesicht in einer Mischung aus Abscheu, Neugier und Spott. Gefolgt von der Kamera, öffnete sie die Tür mit dem männlichen Emblem und steuerte zielstrebig auf die Stehbecken zu.
„Wird das ein Dogma-Film?“, tönte es wütend aus dem Ohrstöpsel. „Das Bild ist ja völlig verwackelt.“
Der Kameramann schüttelte sich vor Lachen. Drei Urinale waren an der Wand befestigt, und über jedem hing ein Schild. Bier über dem linken, Wein über dem rechten und Alkoholfrei über der mittleren Muschel.
Ein Mann nestelte am Reißverschluss seiner Hose herum und schwankte zwischen den Urinalen hin und her. „Ich hab zuerst einen Radler getrunken und dann einen doppelten Schnaps“, lallte er verzweifelt. „Wohin mit mir?“

Eine Viertelstunde später saß Lieselotte im Sitzungssaal. Sie hatte sich für Wein entschieden. Da die Qualität der Redebeiträge sich dem Thema angepasst hatte, betrachtete sie eingehend die Zuhörer, um nicht einzuschlafen. Die Frauen waren in der Minderheit und trugen überwiegend Kostümjacken in lindgrün oder zartorange. Die vielen Männer waren nicht besonders attraktiv, zu alt, zu dick oder zu geleckt. Auch das Publikum passt zum Thema, entschied Lieselotte. Ein Schlag gegen ihre Rückenlehne schreckte sie auf.
„Vergeving!“, sagte die Männerstimme direkt hinter ihr.
„Pfeffer“, flüsterte Lieselotte, drehte sich um und erschrak. Der dunkelgelockte Kerl war weder alt noch dick. Das Hemd hing lässig aus seinen Jeans und Lieselottes braune Augen blieben in seinen grünen hängen.
Er war so attraktiv, dass es schon kitschig war.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht...“ Er zögerte. „Wie sagt man? Gebumst?“
Sie lachte. „Ja, das sagt man. Aber nicht dazu.“
„Jan van Groningen. Ich bin Holländer.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wozu sagt man denn gebumst?“
„Lieselotte“, sagte Lieselotte und leckte sich über die Lippen. „Wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen das erkläre?“
Er nickte. „Aber nicht hier. Gehen wir raus?“
Mit Weinglas und Notizblock schlichen sie kichernd an den anderen Gästen vorbei und zur Tür hinaus. Beim Anblick von Jan und den Köstlichkeiten am Buffet lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie klaute eine mit gebratenem Speck umwickelte Dörrpflaume.
„Also lassen Sie uns anbumsen“, prostete er ihr zu, „auf einen schönen Abend.“
„Proost. Op uw gezonheid!“
„Sie praaten Nederlands?“
„Nein. Nur ein paar Worte, und selbst von denen weiß ich nicht, was sie bedeuten. Zum Beispiel Neuken in de Keuken.“
„Oh ja. Wissen Sie, wo hier die Küche ist?“
„Leider nein. Aber können Sie mir vielleicht verraten, was neuken bedeutet?“ Lieselotte war inzwischen ziemlich beschwipst und öffnete heimlich die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides.
„Neuken bedeutet... nun ja...“ Jan grinste sie dreist an.
„Bumsen?“ Sie beugte sich so über das Buffet, dass er ihr in den Ausschnitt schauen musste.
„Die Fleischbällchen sehen wirklich verlockend aus“, raunte er ihr zu.
„Greifen Sie nur zu, Jan van Groningen. Hier gibt’s heute alles kostenlos.“
„Wenn die Herrschaften bitte warten würden, bis das Buffet eröffnet ist“, schalt der Oberkellner sie. Lieselotte räusperte sich und wandte sich wieder Jan zu.
„Was treibt einen Mann wie Sie zur Versammlung eines österreichischen Klo-Vereins? Lächerliche Veranstaltung, finden Sie nicht?“
Lieselotte war Expertin im Fettnäpfchenhüpfen, denn Jan antwortete: „700 Millionen Inder leben ohne Toiletten. Aber auch bei uns in Holland ist überall große Notdurft. Wir wollen die Nederlandse Toilet Organisatije gründen. Ich bin hier zu holen ein paar Inputs.“
„Also, ich werde dann besser gehen“, stammelte Lieselotte, „war schön, Sie kennengelernt zu haben.“
„Langzaam, Lieselotte. Als Sie sich gar nicht für die Welt der Toilette interessieren, was machen Sie dann hier?“
„Nun ja. Ich bin Überall daheim.“ Sie wartete einen Moment um Jans neugierigen Blick auszukosten. „So heißt die Sendung, die ich moderiere. Fürs Regionalfernsehen. Ich bin Journalistin.“
Selbstverständlich war Lieselotte heute ebenso wenig Journalistin wie vor Jahren, als sie noch bei der schreibenden Zunft arbeitete. Sie hielt lediglich ein Mikrofon in der Hand und quasselte hinein, was die Leute hören wollten.
„Journalistin?“
„Ja. Journalistin.“ Sie sonnte sich stolz im Ruhm der Pulitzer-Preisträger.
Jan machte eine abwertende Handbewegung. „Sie haben Recht, es war nett. Tot ziens.“
Wie bitte? Lieselotte traute ihren Ohren nicht. Erst fielen seine grünen Augen förmlich in ihr Dekolleté und jetzt ließ er sie einfach gehen, ohne um sie zu kämpfen? Was bildete dieser Käsefresser sich ein?
Wütend schritt sie zur Garderobe und nahm Mantel und Tasche entgegen. Sie spürte die Blicke von Jan, der an einer der Säulen im Foyer lehnte und sie beobachtete. Als sie einen Blick nach hinten warf, wurde ihr schummrig. Noch immer hing der linke Hemdzipfel schlampig aus seiner Hose. Lieselotte machte kehrte und blieb vor ihm stehen.
„Ich habe nichts gegen Klos", sagte sie. "Könnten Sie mich nicht bitten, noch ein bisschen zu bleiben?“
„Warum?“
„Weil Sie ...“, Lieselotte erinnerte sich an ihr Erlebnis am Geriatriekongress. Was würde Jan von einer Frau halten, die so um seine Aufmerksamkeit bettelte und ihm Honig ums Maul schmierte? Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, Frau Pfeffer, beschwor sie sich und richtete sich auf, „ach, ganz einfach, weil ICH interessant bin und witzig. Halbwegs intelligent. Vielleicht sogar attraktiv.“
„Ja, vielleicht.“ Er musterte sie.
„Vielleicht? Was soll das heißen?“
„Das haben Sie gesagt.“
„So, hab ich das?“
„Ja.“
„Und was sagen Sie?“
„Wahrscheinlich sind Sie attraktiv.“
„Nur wahrscheinlich?“
„Nun ja. Ich habe noch nicht alles gesehen.“
„Wollen Sie mich etwa zum Objekt Ihrer stochastischen Methoden machen?“
„Oh nein. Ich mag keine Gewalt beim Sex.“
Lieselotte lachte laut. „Stochastik ist Wahrscheinlichkeitsrechnung.“ Vor Jahren hatte sie Berichte für das Informatikermagazin Unberechenbar geschrieben. Wenn er sie schon nur wahrscheinlich attraktiv fand, dann hielt er sie jetzt ganz sicher für halbwegs intelligent.
„Wie wäre es, wenn Sie sich bald entscheiden würden, Lieselotte?“
„Wofür?“
„Ob Sie gehen oder bleiben. Ich werde Sie gewiss nicht darum bitten. Sie sind eine erwachsene Frau. Sie werden wohl selbst am besten wissen, was gut für Sie ist.“
„Na gut.“ Sie kam ihm sehr nahe. „Wenn Sie so darauf bestehen, dann bleibe ich eben.“
„Gehen wir?“, fragte er.
„Wohin?“
„Zur Toilettenausstellung. Vielleicht. Oder in mein Hotelzimmer. Ihre Entscheidung.“
„Wie Sie schon bemerkt haben dürften, interessiere ich mich nicht für Toiletten.“
„Interessieren Sie sich denn für mein Hotelzimmer?“
Lieselotte leckte sich amüsiert über die Lippen. „Vielleicht.“
Sie drückte ihm zwei Gläser und eine Flasche Sekt vom Buffet in die Hand. Am Treppenabsatz schlüpfte sie aus ihren Stilettos. Es wäre ein denkbar ungeeigneter Moment gewesen, um sich den Fuß zu brechen.

„Und? Gefällt es Ihnen?“, fragte er zwei Stockwerke höher.
„Wahrscheinlich. Ich habe ja noch nicht alles gesehen.“
„Werden Sie auch nicht.“
Jan ließ die Jalousien herunter und schaltete das Licht aus.
Unter ihren Füßen fühlte Lieselotte den weichen Teppich, in ihrem Nacken Jans Atem und an ihren Hüften Hände, die sie zu ihm drehten.
Durch die plötzliche Dunkelheit nahm sie nicht einmal seine Konturen wahr und tastete mit ihren Fingern nach seinem Gesicht.
Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit zu ihrem Hintern, von dort weiter abwärts bis zum Saum ihres Rockes und an der Innenseite ihrer Schenkel wieder hinauf.
.„Du fühlst dich verdammt schön an“ flüsterte Jan.
Jetzt zog sie das Hemd vollends aus seiner Hose und berührte seine Haut.
„Was willst du, Lieselotte?“
Sie schluckte. „Glück. Gesundheit. Und mehr Geld. Oder wenigstens das ewige Leben und den Weltfrieden.“
„Ich mag bescheidene Frauen. Und was willst du jetzt?“
„Hmmm...“
„Komm, nimm dir, was du willst.“
„Würde ich ja gern. Aber ich finde den Sekt im Dunkeln nicht.“
„Dann musst du darauf warten, bis ich das Licht wieder anmache.“
„Wann machst du es wieder an?“
„Wenn wir fertig sind mit Bumsen.“
„Gut. Aber beeil dich, bitte.“
Wahrscheinlich hätte Jan sich beeilt, wenn Lieselotte ihn gebeten hätte, ganz langsam zu machen. So aber sah er keine Veranlassung zur Eile, sondern nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Zärtlich, lustvoll und ein kleines bisschen gierig. Sehr gierig, um ehrlich zu sein.
Lieselottes Finger waren noch immer unter seinem Hemd und krallten sich in seinen Rücken. „Darf ich dich kratzen?“ fragte sie leise, als seine Zunge ihren Mund wieder verlassen hatte.
„Warum fragst du?“
„Ich will nicht, dass du Ärger kriegst.“
„Kratz nur. Darf ich auch?“
Lieselotte antwortete mit wohligen Lauten der Zustimmung, als sie Jans Fingernägel in der Haut spürte. Irgendwann hörten Jans Finger auf zu kratzen und begannen zu streicheln. Irgendwann wurden Lieselottes Knie so weich, dass Jan sie aufs Bett legte, wo er langsam weiterstreichelte. Irgendwie war er plötzlich in ihr und die wohligen Laute wurden lauter.


Und irgendwann nach dem Sex gab es Licht und Sekt.
„Bleibst du heute Nacht bei mir, Lilo?“
Sie nippte und nickte. „Ja. Mein Sohn schläft bei einem Freund.“
„Und...“, er zögerte, „... und gibt es einen Mann in deinem Leben?“
„Es gab. Aber wir hatten unterschiedliche Vorstellungen. Nicht nur vom Geschirrspülen.“
Er küsste sanft ihre Brüste. „Das war eben wunderschön mit dir.“
„Du darfst das gern wiederholen, Jan. Nach dem Sex ist vor dem Sex.“
„Bist du auf Entzug? Wann hattest du denn zuletzt?“
„Gestern.“ Sie grinste frech. „Leider allein.“
„Erzähl mir davon“, forderte er sie auf. Lieselotte errötete und wandte ihr Gesicht ab.
„Nein. Schau mich bitte an, wenn du es mir erzählst.“
„Nun ja, ich war im Funkhaus. Und ich musste einen Beitrag über die finnische Sauna vorbereiten, da hab ich plötzlich wahnsinnig große Lust gekriegt und konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Also bin ich aufs Klo und ...“
„Auf’s Klo?“
„Ja. Dort hab ich meine Ruhe. Ich lehn mich da ganz entspannt gegen die Wand.“
„Tust du das oft?“
„Nun ja.“ Sie spürte seinen Blick.
„Da siehst du, wie wichtig saubere, gemütliche und hygienische Toiletten sind. Am schönsten sind übrigens die japanischen. Wahlweise mit Musik oder Vogelzwitschern. Da hört dich auch niemand.“
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Brust. „War ich so laut?“
„Gerade richtig laut, Lilo. Zeigst du mir, wie du es dir machst, an die Wand gelehnt?“
„Jetzt? Um Himmels Willen. Ich bin doch keine Dreißig mehr.“
„Keine Sorge, ich auch nicht. Darf ich dich wecken, wenn ich vor dir wach bin?“
Sie nickte. „Wann musst du wieder heim, Jan?“
„Keine Ahnung. Weißt du, Lilo“, er küsste sie auf die Stirn, „irgendwie bin ich überall daheim. Bei dir grad ganz besonders.“

Donnerstag, 1. November 2012

Oh du lieber Augustin

passend zum heutigen Tag

Wien ist ein Aphrodisiakum für Nekrophile
(André Heller)


Sibylle war gern hier. Der Zentralfriedhof war für sie der schönste Ort in Wien. Sie fühlte sich immer unverstanden, wenn Freunde von auswärts den Kopf schüttelten, weil sie ihnen als eines der Wahrzeichen den Wiener Zentralfriedhof zeigen wollte.
Sie war eine Frau in den besten Jahren, also knapp über vierzig. Dank einer sensationellen Anwältin erfolgreich geschieden, von ihrem Mann großzügig abgefunden und Eigentümerin einer stilvollen Altbauwohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Als Unternehmensberaterin hatte sie einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr Spaß machte. Mit ihrem Leben war Sibylle also ganz zufrieden. Aber neben dem Leben mochte Sibylle auch den Tod. Deshalb zog es sie immer wieder hierher. Bei schönem Wetter, denn sie liebte zwar die Trauer, aber die Kälte und Nässe hasste sie.
Am liebsten war sie am Friedhof, wenn Beerdigungen stattfanden. An diesen Tagen zog sie ihren schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und schwarze Strümpfe an und mischte sich unter die Hinterbliebenen.

Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
(Spinoza)



Sibylle bevorzugte Bestattungen mit sichtbarem, überwältigendem Schmerz. Der wurde am deutlichsten spürbar, wenn Kinder oder junge Menschen begraben wurden. Sie bekam Herzklopfen und weiche Knie, wenn eine Mutter von den Totengräbern zurückgehalten werden musste, weil sie ihrem Kind am liebsten in das offene Grab folgen wollte. Oder ein junger Mann am Grab stand, der gerade seine Frau verloren hatte und stumm weinte, während sein Gesicht Fassungslosigkeit, Schmerz und unendliche Liebe spiegelte. Und wenn die Kinder verloren und voller Fragen, die sie nicht zu stellen trauten, selbst gezeichnete Bilder in die Grube warfen.
Es war nicht so, dass sie Freude empfand oder Genugtuung, wenn sie Szenen wie diese beobachtete. Ganz und gar nicht. Auch Sibylle litt. Trotzdem, wenn ihr dann endlich die Tränen über die Wangen liefen, dann war da auch ein warmes sattes Gefühl, dessen sie sich nicht einmal schämte.

Quem dei diligunt, adulescens moritur - Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben
(Titus Maccius Plautus)

Die anderen Beerdigungen, die Sibylle so liebte, waren die, zu denen kaum Leute kamen. Oder höchstens eine Nachbarin oder eine entfernte Kusine, die völlig abwesend wirkten. Diese Abschiede waren viel einsamer als die Begräbnisse voller ohnmächtiger Verzweiflung der Liebenden. Wenn sie dann so hinter dem Sarg des Verstorbenen herging und das Laub unter ihren Füßen raschelte, entstanden in ihrem Kopf Geschichten. Da sah sie obdachlose Penner, erfroren vor Bahnhöfen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verschlossen blieben. Die alte Frau, die erst gefunden wurde, als Verwesungsgeruch durch den Briefschlitz drang. Den Studenten vom Land, der dem Tempo der Großstadt und dem Druck der Universität nicht standhielt und sich in seinem Untermietzimmer das Leben nahm.

Ich fürchte, dass mein Tod nicht bemerkt wird, außer durch meine zurückgelassene Unordnung.
(Armin Mueller-Stahl)


Zu Prominentenbegräbnissen ging sie nie und an den Ehrengräbern blieb sie nicht stehen. Sie mochte das einfache Leben und den einfachen Tod. Sibylle wusste von den Toten in der Regel nicht mehr als in den Todesanzeigen stand. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen, denn es waren nicht die wahren Geschichten, die sie so aufwühlten, sondern ihre erdachten.
Sie wollte dabei sein, wenn es um den Tod ging. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass es sie selbst wieder einmal nicht getroffen hatte.
Der Hang zur Morbidität floss seit jeher durch ihre Venen. Als kleines Mädchen war sie am liebsten bei der Tochter des Bestatters zum Spielen gewesen, schaurig fasziniert von den Särgen und den ernsten Mienen. Während andere Kinder dem Oster- und Weihnachtsfest entgegenfieberten, wartete sie sehnsüchtig auf Allerheiligen. Und wenn ihre Mitschülerinnen einander „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit´ren Stunden nur“ ins Poesiealbum schrieben, so entschied sie sich für Sprüche aus den Todesanzeigen.

Wie ein Blatt vom Baume fällt,
So fällt ein Mensch aus seiner Welt,
Die Vögel singen weiter.
(Matthias Claudius)



Oft malte Sibylle sich ihr eigenes Begräbnis aus. Eine richtig „schöne Leich“, wie man hier sagte, wollte sie. Alle in Schwarz und ein Kranz mit weißen Rosen auf dem Sarg. Mozarts Requiem. Totengräber mit langen zerfurchten Gesichtern. Die weinerliche Stimme von Pater Gregor, der die „liebe Verstorbene“ huldigte und Freunde, die ihr mit feuchten Augen ein Schäuferl Erde ins Grab nachschmissen, während der Geistliche sagte: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Und die Tränen würden in Strömen fließen.
Auf jeden Fall sollte keine kalte Platte aus Marmor auf ihr liegen. Nur feuchte, weiche Erde würde ihren Sarg bedecken. Und darauf wunderschöne Kränze mit rührenden Abschiedsworten auf den Trauerschleifen. „Wir werden dich nie vergessen“. Danach würden sie alle beim Wirten sitzen zum Leichenschmaus. Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat. Zur Nachspeise Apfelstrudel. Und viel Wein. Den würden sie auf Sibylle trinken. Die Traurigkeit müsste dann dem Lachen weichen und irgendjemand das Wienerlied „Es wird ein Wein sein, und wir wer´n nimmer sein...“ anstimmen. Wahrscheinlich der Onkel Franz.
Eigentlich schade, dass sie das alles nicht mehr erleben konnte.

Rien, je ne regrette rien
(Edith Piaf)


würde auf der Todesanzeige, die hier Partezettel hieß, stehen. Gleich neben dem Foto, das sie an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit Selbstauslöser auf dem Zentralfriedhof. Rien de rien. Ich bereue nichts.

*

„Die Angst vor dem Scheintod veranlasste Manchen anzuordnen, dass nach seinem Tod durch die Vornahme des Herzstichs die Möglichkeit des Lebendig-Begraben-Werdens ausgeschlossen wurde. Der Herzstich durfte jedoch ausschließlich von einem Arzt und erst nach der Totenbeschau vorgenommen werden“ , erklärte der Museumsreferent bestimmt schon zum tausendsten Mal.
Sibylle betrachtete gerade ein Stilett mit Holzgriffen und Stahlklinge, entstanden um 1900. Wenn der Spätherbst sich mit seinen feuchten kalten Nebeln über Wien legte, dann wurden Sibylles Besuche auf dem Friedhof seltener und die im Wiener Bestattungsmuseum häufiger.
„Sie sind nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?“ flüsterte ihr ein Mann zu, der sie schon eine ganze Zeit von der Seite betrachtet hatte. Erschrocken blickte sie auf.
„Ich?“ Sie lächelte verlegen und stammelte: „Nein ... ich ... wieso ... wie kommen Sie darauf?“ Sie fühlte sich ertappt.
„Oh!“ Er grinste liebenswert. „Ich habe ihre Lippen beobachtet. Und nicht nur, weil sie so schön rot sind, sondern, weil sie gleichzeitig mit dem Museumsführer seinen Text gesprochen haben.“
Sie schämte sich. Er würde sie jetzt wahrscheinlich für eine Verrückte halten, die nichts anderes zu tun hatte, als sich in ihrer Freizeit im Bestattungsmuseum herumzutreiben. Dabei stimmte das gar nicht, sie war ja meistens auf dem Friedhof. Die Geschichten hier waren zwar skurriler als die ausgedachten vom Friedhof, aber der Tod draußen fühlte sich lebendiger an.
Der Mann war etwas jünger als sie und sah gut aus. Groß und schlank war er und dunkelblond. Sibylle errötete und überlegte sich gerade eine überzeugende Erklärung, doch er sprach einfach weiter.
„Ein schönes Stilett, nicht wahr? Wussten Sie, dass Arthur Schnitzler und Johann Nestroy den Herzstich testamentarisch verfügt haben?“

Die Doctoren - selbst wenn sie einen umgebracht haben - wissen nicht einmal gewiß, ob man todt ist.
(Nestroy)


Natürlich wusste sie das, sie war ja nicht zum ersten Mal hier.
„Bösendorfer auch“, sagte sie und die Faszination am Tod hatte ihre vorübergehende Scham besiegt. „Sie wissen schon, der berühmte Klavierbauer.“ Er nickte. Er wusste. „Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen etwas!“ Sibylle nahm den Fremden einfach an der Hand und führte ihn in den Nebenraum.
„Mein Lieblingsstück“, sagte sie, als sie vor dem Josephinischen Gemeindesarg standen, einem Holzsarg mit Bodenklappen und einem Öffnungsmechanismus aus Schmiedeeisen.
„Der Verblichene wurde nackt in einen Leinensack genäht und in diesem Sarg deponiert. Dann wurde der Sarg auf das Grab gestellt, der Totengräber klappte den Boden auf und der Leinensack plumpste ins Grab hinein“, erklärte Sibylle voller Leidenschaft und er lauschte mit offenem Mund. „Sparpolitik anno 1784“, fügte sie noch lächelnd hinzu.
„Ich bin übrigens der August“, sagte er, noch immer mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Oh, der lieber Augustin!“, antwortete sie und sie strahlten einander an. Jeder hier kannte die mythische Figur des Sängers Augustin, der in einer Pestgrube übernachtete, um dann fröhlich weiter zu singen.
„Ich heiße Sibylle.“ Sie wollte ihm gerade die Hand entgegenstrecken, als sie bemerkte, dass sie die seine während des Monologs die ganze Zeit gehalten hatte.
„Komm, wir gehen wieder zur Gruppe, ja?“ Vorsichtig entzog sie sich ihm und schaute auf die Uhr. „Jetzt kommt nämlich gleich die grausige Geschichte von den Pestopfern.“
Der Museumsführer erzählte erst von der Pest und später von alten und neuen Beerdigungsriten. Sie lauschten und fühlten, wie ihre Herzen ein bisschen heftiger pochten als noch eine halbe Stunde zuvor. Und das lag nicht nur an den makabren Geschichten.

Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.
(Bundesreisekostengesetz 1973)


Draußen regnete es in Strömen. Sie standen da und sahen einander an. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“ fragte sie fast ein bisschen scheu.
„Nur, wenn du mich an der Hand nimmst.“
„Ich glaub, das geht“, sagte sie, griff nach seiner Hand und sie rannten zum Kaffeehaus um die Ecke und sangen dabei:

„Rock ist weg, Stock ist weg
Augustin liegt im Dreck,
Oh du lieber Augustin, alles ist hin“

Sibylle war nicht bloß zufrieden. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sibylle glücklich war.
„Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?“ fragte August, während sie ihm durchs nasse dunkle Haar strubbelte und die Tropfen in ihren Kaffee spritzen.
„Nein. Hab ich nicht.“ Ihre Antwort kam schnell, aber wenig überzeugend. In Wahrheit mischte Angst davor sich mit der Sehnsucht danach.
„Magst du Friedhöfe?“ fragte sie und er nickte.
„Ich bin oft auf dem jüdischen Friedhof in Währing“, sagte August. „Möchtest du nächste Woche mitkommen?“ Ja. Sie mochte.
Sie tranken ihren Kaffee und dachten nach. Und redeten. Über den Tod hauptsächlich. Aber, weil der Tod ein Teil vom Leben war, auch übers Leben. Und über den Sinn.

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.
(Antoine de Saint-Exupéry)



Sie waren oft in dem Kaffeehaus. Meistens an Freitagen, an denen das Wetter ihren Friedhofsbesuchen einen Strich durch die Rechnung machte.

Irgendwann, der Winter war längst vorbei, saßen sie wieder hier.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ Diesmal war es Sibylle, die diese Frage stellte. August fütterte sie mit Topfenstrudel und sagte zärtlich:
„Ja. Hab ich.
Vor deinem.“

Sonntag, 7. Oktober 2012

Die Liste - 18

Schon absurd, dachte er und zeichnete kerzengerade Linien um die blau-roten Notizen auf dem Kalender, bis jeder Buchstabe in ein kleines, quadratisches Gefängnis gesperrt war – seine wichtigsten Listen schrieb er in Excel-Tabellen -, da hab ich mein Leben lang so gut wie nichts mit Frauen am Hut, und jetzt liegt bereits die zweite tot in meiner Wohnung. „In meiner Wohnung!“, hallte es in seinem Kopf. Die Stimme seiner Mutter.

„Wir müssen die Polizei rufen.“
Er sah auf. Frau Leitner hockte neben der Ärztin auf dem Boden, zwei Finger hatte sie auf den Hals der armen Frau gelegt. Frank beugte sich vor und erkannte aufgeregt, dass die Finger sich bewegten, womöglich im Rhythmus eines Herzschlages? Aber als er all das Blut sah, das immer noch aus der Stelle sickerte, wo ein Kugelschreiber sie so unglaublich perfekt durchbohrt hatte, dass er die Aorta direkt neben dem Herzen zerfetzte, wusste er, dass Frau Leitners Finger bloß zitterten.
Er schüttelte den Kopf. „Wir dürfen vor allem nichts überstürzen. Ich mach uns jetzt erst mal eine schöne Tasse Tee. Sie werden sehen, Tee hilft immer. Und dann überlegen wir uns gemeinsam, wie wir vorgehen. Sie können sich schon mal eine Überschrift für die Liste überlegen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu, stand seufzend auf und verschwand in der Küche. Dort verharrte er regungslos, legte den Kopf schief und wartete auf das Geräusch, wenn die Wohnungstür ins Schloss fiel.

Klack. Ihm würde nicht viel Zeit bleiben, das wusste er. Während sich das Wasser im Kocher mühte, auf Temperatur zu kommen, klappte er seinen Laptop auf und öffnete einen Ordner, der den Titel ‚Alternativen‘ trug. Die erste Tabelle hieß Ausland. Weiter unten fand er, wonach er gesucht hatte. Mit einem Doppelklick beförderte er seine geordneten Gedanken, die er vor langer Zeit gehabt hatte, auf den Monitor und schenkte ihnen erneut das Leben (er stellte sich dann immer vor, dass all die unzähligen anderen Listen eifersüchtig waren; wie Kinder in einem Heim, die neidisch mitansahen, wie eines ihrer Geschwisterchen auf Zeit von einem netten Paar an die Hand genommen wurde und eine zweite Chance geschenkt bekam).
Selbstmordarten stand ganz oben in fetten Buchstaben. Mit ‚Abfackeln‘ ging’s los.
Er legte einen Teebeutel in den Becher mit dem Aufdruck ‚Muttis Liebling‘, goss heißes Wasser darauf und kramte in der Schublade der Kommode nach einer Schachtel Streichhölzer, die er dort vor langer Zeit für Notfälle deponiert hatte.

Und dann war er froh, dass er sich nach dem Tod des Hamsters nie mehr ein Haustier angeschafft hatte.

Ende

Samstag, 6. Oktober 2012

Die Liste - 17

„Psch-sch-sch-t, d-d-d-die N-n-nachb-b-barn.“ Frank legte die Hand auf Frau Leitners Mund, als diese noch einmal zu schreien begann. Er wollte niemandem Unannehmlichkeiten bereiten; wollte er noch nie. Nicht den Nachbarn, die sich jetzt über den ungewohnten Lärm in der Wohnung wundern könnten. Nicht der Frau Leitner, die ihre Rolle eine Spur zu perfekt gespielt und damit all seine verschüttet geglaubten Emotionen an die Oberfläche gespült hatte. „Still, Sie Hexe!“, fuhr er sie jetzt an, und noch bevor er sie fertig ausgesprochen hatte, taten ihm seine Worte leid. „Entschuldigung.“
Er hatte auch der freundlichen Ärztin keine Unannehmlichkeiten bereiten wollen. Warum lag sie da auf dem Boden? „Möglicherweise der Kreislauf“, dachte er, „vielleicht sollte ich die Heizung zurückdrehen.“
Wie oft er gefroren hatte in der Wohnung. Seine Mutter hatte nicht nur mit menschlicher Wärme, sondern auch bei den Energiekosten gespart. „Zieh dir doch eine Wollweste an, Fränkieboy“, hatte sie gesagt, wenn es ihn vor Kälte geschüttelt hatte. Nicht einmal die elektrische Heizdecke, die sie sich auf einer der seltenen Verkaufsfahrten aufschwatzen lassen hatte, durfte er in Betrieb nehmen. „Was da passieren kann, Frank!“
Wie gesagt, Frank hatte keine Ahnung, warum die Ärztin auf dem Boden lag. Ihr Lächeln wirkte seltsam blass, auf ihrer weißen Bluse breitete sich langsam ein roter Fleck aus. An der Spitze des Stiftes, den er immer noch mit seiner Faust umklammert hielt, klebte Blut. Was war geschehen? Nein, er wollte diesen beiden Frauen, also der Ärztin und der Frau Leitner, keine Unannehmlichkeiten bereiten. Und sich selbst auch nicht.
Eine Liste, dachte Frank Fodor. Ich brauche eine Liste. Den Computer ließ er ausgeschaltet, er nahm den Tischkalender vom vergangenen Jahr aus der Schublade der Kommode. Mit dem Stift in der Hand schrieb er:
1) Situation beruhigen
Kurz wunderte er sich darüber, dass die ersten Buchstaben rot waren, schrieb aber unbeirrt weiter.
1a) mich beruhigen.
Er machte die Atemübungen, die sein Therapeut ihm beigebracht hatte. Ließ Luft und Anspannung los, um seinen Brustkorb beim nächsten Einatmen mit frischer Luft zu füllen.
1b) Frau Leitner beruhigen

„Setzen Sie sich bitte.“ Er stand hilflos auf und zog einen Stuhl für sie zurück. Sie zitterte am ganzen Körper und setzte sich gehorsam.
„Ich gebe Ihnen gleich etwas zur Beruhigung.“ Ihm schien, dass sie ihn ein wenig starr ansah. „Sie können jetzt übrigens aufhören, meine Mutter zu spielen. Keine Angst, Sie bekommen das Geld wie vertraglich vereinbart.“ Sie schwieg.
Frank konzentrierte sich auf die Liste. Was waren seine nächsten Schritte? Die Rettung und die Polizei anrufen? Aber wie sollte er erklären, was geschehen war, wenn er es selbst gar nicht wusste?

Fortsetzung folgt

Freitag, 5. Oktober 2012

Die Liste - 16

Vier Herzschläge lang hörte die Ärztin auf, Franks Hand zu tätscheln. Ihre Hand schwebte über seiner in der Luft, das Lächeln auf ihrem Mund, das sie wahrscheinlich im Laufe ihres Berufes perfektioniert und automatisiert hatte, fror ein und wurde zur Grimasse. Wäre Frank in diesen Sekunden nicht in der Eingangshalle des Wahnsinns gewesen, den Stift zwischen den Fingern, bereit zum Einchecken, hätte er erkannt, dass in diesem Moment ein Schalter in der Ärztin umgelegt wurde. Ab sofort glaubte sie ihm jedes Wort. Er bekam nichts mit davon. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, die Auswirkungen seines Geständnisses zu verarbeiten. Was nur allzu verständlich ist; vielleicht war es nur einem Menschen ohne jeglichen Zugang zu den banalsten seiner Gefühle möglich, seine Mutter im Keller einzumauern und mit dieser ungeheuerlichen Tat jahrelang ein nach außen hin völlig normales Leben zu führen. Aber Frank war kein solcher erloschener Vulkan. Er brach aus und explodierte. Alles Mögliche spie er aus und es purzelte heillos durcheinander. Hass, Ekel, Schuld, Reue, sein Gewissen, Erleichterung, Rechtfertigung, Trauer. Vielleicht sogar Liebe.

Und Angst. Aufgestaute, faulige, stinkende Angst, entdeckt zu werden; er hätte laut lachen mögen, diese Last dieses tonnenschweren Geheimnisses, das seine Schultern einknickte und seinen Blick beim Einkaufen auf den Boden heftete, endlich abgeschüttelt zu haben. Er hätte seinen Kopf gegen die Wand schlagen können, bis seine Stirn ein Loch hätte, aus dem Hektoliter Scham als zähflüssiger, eitriger Brei herausgesickert wäre. Er hätte einen ausschweifenden, philosophischen Vortrag über Moral und Ethik halten können, an dessen Ende feststand, dass er auf höherer Ebene verständlich, richtig und sogar zwingend nötig gehandelt hatte. Er hätte weinen können, weil seine Mutter tot war. Er hätte einen Luftsprung machen können, weil seine Mutter tot war.
Aber die Angst herrschte über allem, griff nach dem Zepter und wies die anderen Gefühle und Affekte auf die Plätze.
Als plötzlich auch noch seine Nachbarin, Marianne Leitner, in der Tür zum Wohnzimmer stand - das hellblaue Nachthemd seiner Mutter baumelte zwei Nummern zu groß an ihrem Körper - und einen spitzen Schrei ausstieß, hallten noch die letzten Worte der Ärztin in seinem Kopf nach: „Ich schreibe Ihnen etwas zur Beruhigung auf.“

Er hob den Kopf, löste seinen Blick von der Ärztin, die regungslos auf dem Teppich lag, und sah seine Nachbarin als unheimliche, verschwommene Erscheinung. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. „I-i-i-ich ha-ha-habe sie nicht um-um-umgebracht“, stieß er mit Tränen in den Augen hervor. Sein Stottern hatte wieder angefangen.

Fortsetzung folgt

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Die Liste - 15

„Los“, nickte die Ärztin ihm zu, „kümmern Sie sich um Ihre... Mutter.“
Die Pause zwischen den Wörtern Ihre und Mutter kam Frank unendlich lang vor. Und kroch da ein böses Lächeln in den Mundwinkeln der Ärztin aus seinem Versteck?
„Frääänkiboy!“
Von einem Augenblick auf den anderen brach das Konstrukt in Frank Fodors Gedanken in sich zusammen wie die Seilbahn in seinem Lieblingsfilm Alexis Sorbas. Den hatte er dreimal gemeinsam mit seiner Mutter gesehen. Alles aus, dachte er. Es ist alles vorbei. Sein Körper schaltete auf erhöhte Alarmbereitschaft. Panik stieg in ihm auf und schnürte ihm den Hals zu. Sein Herz pumpte verzweifelt Blut, seine Muskulatur wurde steif und verkrampft. Sein Körper bereitete sich auf die beiden Alternativen vor: Kampf oder Flucht.
Neben der Panik machte sich plötzlich auch Erleichterung in seinem Körper breit und kappte die Schnur, die ihm den Atem nahm. Er atmete tief ein und aus. Kampf oder Flucht? Sein Hirn entschied sich für eine dritte Variante. Den Wahnsinn. Und dann lachte er, laut und befreit. Er konnte kaum noch aufhören mit dem Lachen.
„He Boss“, rief er, „hast du jemals erlebt, dass etwas so bildschön zusammenkracht?“ Waren diese Worte tatsächlich aus seinem Mund gekommen?
„Herr Fodor? Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte die Ärztin besorgt.
„Frääänkiboy!“, rief seine Mutter.
Sein Lachen verstummte. „Sie ist nicht meine Mutter“, sagte Frank. Jetzt schluchzte er. „Sie ist überhaupt nicht meine Mutter. Meine Mutter ist tot.“
„Beruhigen Sie sich, Herr Fodor!“ Sie eilte in die Küche und brachte ihm ein Glas Wasser. „Trinken Sie!“ Frank trank. „Wir alle schämen uns manchmal für unsere Eltern. Nehmen Sie ihr ihr Verhalten nicht übel, sie ist alt und krank.“ Die kleine Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm ihn in den Arm, hilflos und tröstend.
„Mutter ist im Keller“, presste Frank hervor. „Sie ist tot.“
Sie nahm ihm das Glas Wasser wieder ab, schob ihn in die Küche und drückte ihn in den Stuhl. „Ja, das haben Sie schon gesagt. Alles wird gut, Herr Fodor. Es ist normal, solche Gedanken zu haben. Sie haben sich anscheinend in den letzten Jahren mit der Pflege ihrer Mutter übernommen. Ich ruf jetzt mal einen Arzt an und bleib bei Ihnen, bis er kommt.“
„Ich dachte, Sie sind Arzt?“
Jetzt lächelte sie wieder und zwinkerte. „Ja, aber nicht so einer.“
„Frääänkiboy!“, tönte es aus dem Schlafzimmer seiner Mutter. „Was ist mit dir?“
„Ich hab sie nicht umgebracht“, sagte Frank zur Ärztin, die jetzt neben ihm saß und seine Hand tätschelte, „das müssen Sie mir glauben.“
„Natürlich haben Sie sie nicht umgebracht“, bestätigte sie mit beruhigender Stimme. „Niemand hat sie umgebracht.“
„Genau. Ich hab sie nur eingemauert.“

Fortsetzung folgt

Sonntag, 30. September 2012

Die Liste - 14

Frank spürte kalten Schweiß in seinen Achselhöhlen und kompensierte den Drang, an seinen Fingernägeln zu knabbern, indem er stattdessen seine Unterlippe bearbeitete. „Natürlich. Vermutlich schläft sie gerade.“ Er stand auf und ging mit wackeligen Beinen zum Schlafzimmer. An der Tür stoppte er und drehte sich zur Ärztin um. „Also, denken Sie sich bitte nichts dabei, wenn sie wirres Zeug faselt. Sie weiß manchmal nicht, wo sie ist.“
Die Ärztin nickte verständnisvoll, und Frank warf einen besorgten Blick auf ihren Koffer. Was mochte da drin sein? Er hoffte, es möge sich nur um Listen handeln. Arzt-Listen.
Er öffnete die Tür einen Spalt weit und lugte ins Zimmer. Er atmete durch. Wie abgesprochen, lag seine Fake-Mama im Bett, das Gesicht der Wand zugedreht, die Decke bis zum Hals gezogen und stellte sich schlafend. Er ließ die Tür aufgleiten und bat die Ärztin, einzutreten. Sein Herz klopfte so stark, dass er meinte, sein Hawaii-Hemd würde sich im Takt ausbeulen. Er wischte sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab und blieb wie angenagelt im Türrahmen stehen, während sich die Ärztin Latexhandschuhe überstreifte, einen Stuhl ans Bett stellte, den Koffer auf den Boden daneben. Sie lächelte ihn an. „Ich muss Sie bitten, mich ein paar Minuten mit Ihrer Mutter alleine zu lassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Alles Routine.“

Mit einer Tasse Earl Grey setzte er sich an den Küchentisch. Diese Momente waren ihm nicht fremd. Manchmal überfielen sie ihn aus heiterem Himmel, manchmal aus konkretem Anlass, zum Beispiel wenn er in den Keller hinuntermusste, um Kartoffeln zu holen. Immer ging es um das Eine: die Grenze zur Panik auf gar keinen Fall zu überschreiten. Gegen die schlimmen Gedanken konnte er nichts machen, die kamen, wie es ihnen passte. ‚Heute kommt alles raus.‘ ‚Die Nachbarin macht einen Fehler.‘ ‚Die Ärztin hat Mama schon mal untersucht und sich einen ihrer Leberflecke gemerkt.‘ ‚Das Haus brennt ab, muss abgerissen werden, Mama purzelt aus der Mauer.‘ Usw.
Natürlich hatte er eine passwortgeschützte Liste mit allen möglichen Fällen, in denen Leichen eingemauert wurden. Das Internet war voll davon. Sogar E. A. Poes Schwarze Katze hatte er in der gruseligen Statistik festgehalten. Die Bilder von toten Menschen, ihre Gesichter mit Staub überzogen, in den Haaren kleine Zementbrocken, breiteten sich wie automatisch vor seinen Augen aus. Auch ein Schäferhund war dabei. Er kannte das. Und hatte mit den Jahren eine recht probate Abwehrstrategie entwickelt: eine Tasse Tee und die schlimmen Gedanken mit Gegen-Gedanken bekämpfen. Warum war das Netz voll mit Mauer-Toten (ob auch Leichen in die Berliner Mauer eingemauert waren?)? Weil die Idioten sich erwischen ließen. Mama würde nie im Internet auftauchen. Er hatte den guten Zement verwendet. Und wenn das Haus abbrannte, würde die Leiche mitverbrennen. Und überhaupt: Sie ist mir was schuldig. Und sei es auch nur das Pflegegeld. Moralisch bin ich auf der sicheren Seite, jedes Gericht der Welt würde das so sehen. Das Positive gewann allmählich die Überhand, die Panikattacke zog sich in ihr Häuschen zurück. Der Tee beruhigte ihn zusätzlich. Er schloss die Augen und brachte schon wieder ein Lächeln zustande.

Erst die Stimme der Ärztin riss ihn aus seinem meditativen Zustand.
„Herr Fodor?“
Er stand auf und musterte die Frau. „Alles in Ordnung?“, fragte er.
Sie zog sich die Gummihandschuhe aus, stopfte sie in ihre Jackentasche und reichte ihm die Hand. In der anderen trug sie den Koffer. „Alles in Ordnung. Sie bekommen dann alles schriftlich.“
Als er ihr die Hand gab, war ihre nass und warm. Bei der Begrüßung war sie warm und trocken gewesen.
Er wollte gerade die Haustür öffnen, als sein Name mit schriller Stimme aus dem Schlafzimmer gerufen wurde. „Frääänkiboy!“

Fortsetzung folgt

Donnerstag, 27. September 2012

Die Liste - 13

Der Gutachter der Pensionsversicherungsanstalt hatte sich für zehn Uhr angekündigt. Marianne Leitner lag bereits um neun fix und fertig kostümiert (sie trug Mutters altrosafarbenes, zerschlissenes Lieblingsnachhemd, Kompressionsstrümpfe und die Echthaarperücke) und geschminkt im Bett. Frank war mit ihr noch ein letztes Mal die von ihm erstellte Liste der zu vermutenden Fragen und plausiblen Antworten durchgegangen. Mutter wäre zunehmend verwirrt und spräche kaum noch etwas. Aus dem Haus ging sie nicht mehr, weil sie sich nicht mehr zurechtfände, inkontinent wäre sie nicht. Überhaupt hätte sie kaum körperliche Beschwerden (die Gefahr, dass der Schwindel im Falle einer körperlichen Untersuchung auffliegen würde, war zu groß, denn ein 40jähriger Körper unterschied sich trotz Maske beträchtlich von einem 80jährigen), sondern würde lediglich an Altersverwirrtheit sowie einer leichten Depressionen verbunden mit Antriebslosigkeit leiden.
Er verdammte seine Mutter für die Gier, die sie den Pflegegeldantrag hatte stellen lassen, obwohl sie gesund war. Pumperlxund, wie sie sonst ständig betont hatte. Er hatte bei der Untersuchung ein halbes Jahr vor ihrem plötzlichen Tod überrascht festgestellt, dass seine Mutter über erhebliches Schauspieltalent verfügte.
Frank gestand sich ein, dass er von der Gier seiner Mutter durchaus profitiert hatte. Durch dieses zusätzliche Einkommen hatte sich auf dem Sparbuch zwar kein Vermögen, aber doch eine beruhigende Summe angesammelt.
Jetzt war Frank Fodor allerdings alles andere als beruhigt. Er konnte kaum Mutters Schlafzimmer betrteten, ohne diese unbändige Wut zu spüren. Von wegen affektflach, dachte Frank. Sein Therapeut würde stolz auf ihn sein, wenn er ihm über seine Gefühle berichtete. Er würde sagen: „Sehr gut, Frank. Lassen Sie die Wut ruhig zu. Lassen Sie sie raus.“
Es kostete ihn Anstrengung, sich bewusst zu machen, dass diese Wut seiner Mutter und nicht seiner Nachbarin, die ihm lediglich einen Gefallen tat, galt.

„Ich weiß, ich darf nichts fragen“, hatte Frau Leitner vorhin gefragt, „aber wie lange wollen Sie dieses Spiel weiterspielen? Irgendwann muss Ihre Mutter ja offiziell sterben, oder soll sie 120 Jahre alt werden?“
Frank hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und nicht geantwortet.
Natürlich hatte er sich darüber längst Gedanken gemacht und eine Liste mit möglichen Lösungen erstellen. Lösungen, die keine Leiche brauchten. Aber jetzt ging es erst einmal darum, diese Situation unbeschadet zu überstehen.

Der Arzt entpuppte sich als Ärztin. Eine Frau in seinem Alter, aber im Gegensatz zu ihm hatte sie es geschafft, im Leben zu bestehen. Mutter wäre so stolz auf ihn gewesen, wenn er es zum Anwalt oder wenigstens zum Arzt gebracht hätte. Aber Mutter hatte nie einen Grund gefunden, auf ihn stolz zu sein. Den fünfzehn Zentimeter großen Pokal, den er – wie alle anderen teilnehmenden Kinder - bei einem Tretrollerrennen gewonnen hatte, bezeichnete sie als Staubfänger und hatte ihn gemeinsam mit seiner Freude in den Mistkübel gesteckt.
„Mutter schläft“, versuchte Frank die Konfrontation zwischen echter Ärztin und falscher Mutter hinauszuzögern und bot der Ärztin Kaffee an. „Ich kann Ihre Fragen gerne beantworten.“
Geduldig beantwortete Frank Fragen nach den Symptomen, die er im Internet nachgelesen hatte. Sie wüsste oft nicht, wo sie war und was sie gerade tun wollte, würde sich immer mehr zurückziehen, wirke ängstlich und passiv. Sie würde ihm immer wieder unterstellen, sie zu bestehlen. Letztens hätte sie ihn sogar beschuldigt, ihr die Zahnprothese versteckt und Geld aus ihrer Börse entwendet zu haben. Frank presste bei der Schilderung über den Gesundheitszustand seiner Mutter ein paar Tränen hervor (Frau Leitner hatte diese Szene vorhin mit ihm geübt). Mutter wäre so undankbar, sagte er, obwohl er sie so aufopfernd pflegte.
„Das klingt nach einer beginnenden Demenz“, nickte die Ärztin und legte ihm tröstend die Hand auf den Unterarm. „Das ist für Angehörige oft sehr schwierig. Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Sie sollten sich zu Ihrer Entlastung zusätzliche Hilfe durch einen ambulanten Dienst organisieren. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass Ihre Mutter in eine Seniorenresidenz übersiedelt?“
Frank schüttelte vehement und tapfer den Kopf. „Niemals! Ich schaffe das schon alleine. Sie ist meine Mutter, sie war ein Leben lang für mich da, jetzt möchte ich ihr etwas zurückgeben.“ Er wunderte sich, wie leicht ihm das Lügen fiel.
„Ich möchte Ihre Mutter jetzt gerne sehen.“

Fortsetzung folgt

Dienstag, 25. September 2012

Die Liste - 12

Als es Zeit für seinen Nachmittagstee wurde, war Frank endlich wieder hoffnungsvoll. Seine zweite Mutter saß mit ausgestreckten Beinen erschöpft auf dem braunen Cord-Sofa und fächelte sich mit einer Zeitschrift Luft ins Gesicht.
„Ich hab mich immer gefragt, wer diesen Schund liest“, rief sie ihm in die Küche zu, wo er gerade das heiße Wasser in die Teekanne füllte. Frank bekam immer noch monatlich die neueste Ausgabe von Himmlische Wesen zugestellt. Er stellte sich vor, dass die Redaktion einer Zeitschrift, die sich mit nichts anderem als Engeln befasste, sofort hellhörig wurde, wenn eine treue Leserin nach über 20 Jahren plötzlich den Bezug einstellte. Vielleicht machten sie dann sogar besorgte Hausbesuche.
„Sie ist nun selbst so ein Wesen“, sagte er und stellte das Tablett mit Tee und Keksen auf den Wohnzimmertisch. „Hoffentlich ohne Flügel.“
„Wo ist sie eigentlich? Auf einem Friedhof ja wohl kaum?“ Marianne knabberte an einem Keks und stellte die Frage ganz beiläufig. Es fiel Frank schwer, sie anzusehen; zu groß war die Ähnlichkeit, zu unverarbeitet die Erinnerungen. Die Mixtur aus Angst und Hass ließ in ihm den Wunsch aufkommen, seine Hände um ihren Hals zu legen und sich gleichzeitig unter seinem Bett zu verstecken.

„Gut, dass Sie fragen“, sagte er und war froh, als er aufstehen konnte, um einen Aktenordner aus dem Bücherregal zu holen. Er entnahm ihm das oberste Blatt Papier und stellte ihn wieder zurück in den Schrank. „Es läuft so. Sie bekommen die ersten 500, sobald Sie diesen… nennen wir es Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Und sobald der Arzt seine Unterschrift unter den Pflegegeld-Antrag gesetzt hat, die restlichen 1000.“
Die Nachbarin/Hexe/Mutter runzelte die Stirn, suchte vergeblich Franks Blick und studierte aufmerksam die Vereinbarung, die natürlich in Listenform gefertigt war. Einmal wanderten ihre Augen nach links, wo Frank fünf glatte Hunderter neben ihre Teetasse legte. „So, so“, sagte sie schließlich, „Sie haben ja wirklich an alles gedacht. Keine Fragen nach ihrem Verbleib, kein Wort zu einer dritten Person. Keine Angst, ich hatte ohnehin nicht vor, eine der Requisiten zu behalten. Aber eine Frage habe ich noch, die müssen Sie mir gestatten. Haben Sie Ihre Mutter umgebracht? Mit Mördern mache ich nämlich keine Geschäfte.“
Frank dachte über diese Frage nach. Die Todesursache war ungeklärt, klar. Es gab keinen Totenschein, auf dem „Plötzliches Herzversagen“ oder „Gehirnschlag“ stand. Frank dachte an die Verwünschungen seiner Mutter, ihre regelmäßige Feststellung, was für ein Pech sie mit so einem Sohn hatte, ihre knochigen Arme, die ihn umschlossen, die ledrige Hand, die ihn ins Gesicht schlug und ihr trauriges, verzweifeltes Gesicht, wenn sie ihm wieder mal erklärte, dass er nie eine Frau finden würde. Er war sich sicher, dass Kummer die einzig vernünftige Erklärung für Mamas Tod war.
„Nur in Gedanken“, antwortete er schließlich, und Marianne konnte Frank zum ersten Mal lachen sehen.

Fortsetzung folgt

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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