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Montag, 27. August 2007

...

Auszug aus einem Interview, gehört und gelesen auf Ö1 (http://oe1.orf.at/highlights/107662.html)


"Manchmal wenn ich mich durch diese Weblogs klicke, wo Menschen alle Aspekte ihres intimen Lebens online veröffentlichen, kommt es mir vor, als würden sie Müll in einen Abfalleimer, in dem Fall in ihren Computer, tippen", meint Richard Sennett, der über die Gefahren dieser "Ideologie der Intimität" bereits vor mehr als 30 Jahren schrieb, als das Internet in seiner heutigen Form noch nicht einmal gedacht wurde.

"Die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, behandelt man mit mehr Achtsamkeit. Nicht so wie dieses endlose Berichten aller Details des alltäglichen Lebens. Es ist ein unermessliches Ödland an Geständnissen und Offenbarungen, das diese Blogs ausfüllen." Die private Geschwätzigkeit gefährdet das, was bereits Jürgen Habermas eine "kritische Öffentlichkeit" nannte.
...
Was ihm besser gefalle sind Chat-Rooms, wo Leute sich gegenseitig Fragen stellen. "Von diesen gibt es natürlich nicht so viele, wie von jenen, wo man Fotos seines Hundes oder seiner Fußoperation online stellen kann."


Deshalb heute kein Foto meines nicht vorhandenen Hundes.

Donnerstag, 23. August 2007

Wo Licht ist, ist auch Schatten

Es war einmal eine Mutter, die hatte ein Kind. Das ist nichts Ungewöhnliches bei Müttern. Mutter und Kind gingen spazieren. Auch das ist nicht weiter verwunderlich.
Das Kind hopste hinter dem Rücken der Mutter hin und her.
„Was machst du da?“, fragte die Mutter.
„Ich springe über deinen Schatten. Keine Angst, ich passe auf, dass ich dir nicht auf den Kopf trete.“
Das Kind hüpfte weiter und die Mutter wurde langsam nervös. „Geh doch in die Sonne“, schlug sie vor.
„Sie blendet mich. Sie ist so heiß, dass sie mich verbrennt. Hier in deinem Schatten ist es angenehm kühl.“
„Gut, ein bisschen noch. Aber du kannst dich nicht ewig in meinen Schatten stellen.“
„Warum nicht?“
„Weil du nicht wachsen kannst ohne Licht.“ Und ich kann auch nicht wachsen, dachte die Mutter, wenn du an mir klebst wie mein Schatten. Aber das sagte sie nicht. "Außerdem will ich nicht, dass du ein Schattendasein führst."
„Macht alles einen Schatten?“, wollte das Kind wissen. „Auch der Wind? Engel? Feen? Zwerge?“
„Wenn die Sonne tief steht, selbst die. Sogar ein einziges Haar wirft Schatten.“ Das Kind staunte und riss sich sogleich eines vom Kopf.

„Wie wäre es, wenn du über deinen eigenen Schatten springst?“, schlug die Mutter vor.
Das Kind lachte. „Ach, Mama. Das hab ich schon versucht, aber es klappt nicht. Egal, wie hoch oder weit ich hüpfe, der Schatten springt immer mit. Vielleicht schauen deshalb so viele Leute so traurig, weil ihnen eingeredet wird, sie sollen über ihren Schatten springen, dabei kann das gar nicht funktionieren. Man kann nicht vor ihm davonlaufen und nicht drüberspringen, deshalb sollte man ihn sich zum Freund machen und mit ihm springen. Aber das muss den Erwachsenen endlich mal jemand sagen.“

Mittwoch, 22. August 2007

Tuchfühlung

Die Bescheidenheit,
die meinen Stolz
nur spärlich bedeckt
ist hauchdünn
von Goldfäden durchwebt

nimm sie dir

Der Stolz,
der sich bemüht
meine Dünnhäutigkeit
zu verhüllen
ist transparent
nicht reißfest

nimm ihn mir

Die alten Narben
Längst verheilt
Die frischen Wunden
Bloßgelegt

Pass bitte auf

wenn du mich nimmst

Mittwoch, 8. August 2007

Fleißiges Lieschen

„Mein Beileid“, heuchelte er am Grab und warf dem Verstorbenen ein Schäuferl Erde nach. Elisabeth hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt. Stattdessen senkte sie nur den Blick. Da unten lag Martin, ihr Mann. Ihre große Liebe. In einem Eichensarg. Dem billigsten, den sie hatte kriegen können.

Am Montag saß sie ihm gegenüber. Rüdiger Werdenich, Direktor, stand auf dem Messingschild und das Schild stand auf einem Schreibtisch aus Birnenholz. Darauf lag ein teurer Füller. Elisabeths Stolz lag neben dem Sarg ihres Mannes in der feuchten Erde. Sie weinte, bettelte und flehte. Direktor Werdenich gab sich weich, aber er blieb hart.
„Ich kann Ihnen nur anbieten, die Raten ein wenig herabzusetzen. Für ein halbes Jahr. Aber wenn Sie bis zum Zwanzigsten nicht bezahlen, sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus versteigern zu lassen. Es gibt da sogar einen Interessenten.“
„Sie wollen mich auch ins Grab bringen, wie?“ Elisabeth stand auf. „Und wie erklären Sie das dann meinen Kindern?“
„Ich verstehe ja Ihre Aufgebrachtheit, Frau Dirisamer.“ Rüdiger Werdenich klopfte unsichtbaren Staub von seiner weißen Weste. „Aber für den Freitod Ihres Mannes können Sie mich wirklich nicht verantwortlich machen.“

Martin hatte sich erhängt. In der Garage, der das Tor fehlte und die noch unverputzt war. Wie der Rest des Hauses auch.

„Sie wissen genau, dass Sie ihn auf dem Gewissen haben. Sie sind ihm nicht einen Zentimeter entgegengekommen. Mit jeder Rate, die er pünktlich zurückgezahlt hat, obwohl wir es uns längst nicht mehr leisten konnten, wurde er depressiver. Mit jeder Rate haben Sie ein Stück seiner Selbstachtung genommen. Er war nicht der erste. Und ich werde nicht die letzte sein.“

Sie hatte Martin vom Abschleppseil geschnitten. Und mit ihm ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft. Sie küsste und betrauerte ihren toten Mann, bevor sie die Polizei rief. Den Abschiedsbrief gab sie nicht weiter. Sie wollte, dass seine letzten Worte nur ihr gehörten. Wenigstens die.

„Dreihunderfünfzig Euro“, knallte sie Werdenich das Geld pünktlich am Zwanzigsten auf den Birnenholzschreibtisch. „Mehr hab ich beim besten Willen nicht zusammengekriegt.“
„Frau Dirisamer“, er lächelte sie an. „Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und? Ist Ihnen das denn plötzlich egal?“ Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie.
Dir geht’s nur um Macht, dachte Elisabeth. Wenn du mein Haus versteigert hast, hast du keine Macht mehr über mich. Aber ich hab dann kein Dach mehr über dem Kopf. „Ich hab wirklich nicht mehr“, sagte sie leise. „Ich hab meine Tochter sogar vom Fußball abgemeldet. Aber es reicht nicht.“
„Nun“, sein Tonfall war plötzlich jovial. „Ich hätte da eine Idee.“

Eine Haushaltshilfe suchte er, weil seine Frau neuerdings auf dem Selbstfindungstrip war, wie er sagte. Die würde sich plötzlich weigern, seine Wäsche zu machen. Elisabeth konnte seine Frau gut verstehen. Auch sie ekelte sich vor dem Gedanken, seine Unterhosen zu waschen. Trotzdem willigte sie ein. Für ihre Kinder.

Im Wald fand sie Ruhe. Schöpfte die Kraft, die sie brauchte, um ihren Alltag zu bewältigen. Dachte an die vielen schönen Augenblicke mit Martin. Pflückte Wildblumen, die sie zu Hause auf den Tisch stellte, um den Kindern wenigstens ein bisschen den Eindruck einer heilen Welt zu vermitteln.

„Nehmen Sie das nicht“, sagte eine junge Frau in zerrissenen Jeans, als Elisabeth am Bach saß und gedankenverloren die Blüte einer Staude zwischen ihren Fingern zerrieb.
„Warum nicht? Steht sie unter Naturschutz?“
„Das ist der blaue Eisenhut“, erklärte die Frau ihr. „Aconitum Napellus. Hochgiftig. Vor allem die Wurzeln. Papst Hadrian wurde damit ermordet. Und angeblich auch Claudius, der römische Kaiser.“
Diese Frau wusste eine Menge. Aber das Flackern in Elisabeths Augen sah sie nicht.
Sie trafen sich hin und wieder im Wald und redeten über alles, was wuchs. Pflanzen, Menschen, Sorgen.

„Na, mein fleißiges Lieschen.“ Werdenich strich Elisabeth übers Haar und sie zuckte zusammen.
„Möchten Sie etwas essen, Herr Direktor? Ich hab Spargelcremesuppe gekocht.“
„Danke nein. Ich esse später noch mit einem Kunden.“
Elisabeth hob hilflos die Schultern und versuchte die Enttäuschung zu verbergen.
„Ich richte Ihnen noch die Wäsche für morgen her, bevor ich gehe“, sagte sie dann. „Die Jeans und das blaue Hemd.“

Der nächste Tag war der Zwanzigste. Trotz des warmen Sommertages fröstelte Rüdiger Werdenich, als er aus dem Haus ging. Eine Stunde später tropfte kalter Schweiß von seiner Stirn. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, bat er eine seiner Angestellten. „Mein Mund ist so trocken.“ Er nahm einen Schluck, aber das Brennen im Mund hörte nicht auf. Die Stimme seines Kunden schien plötzlich weit weg. Werdenich stand auf, schüttelte ihm die Hand und verabschiedete sich.

„Fünfhundert genau.“ Elisabeth stand vor ihm. Er hatte darauf beharrt, dass sie ihm das Geld in die Bank brachte. „Meine letzten“, fügte sie noch leise hinzu.
In seinen Fingern und Zehen kribbelte es. Er bekam keine Luft und löste den Knoten seiner Krawatte. Er wollte etwas sagen, um Hilfe rufen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Alles begann sich zu drehen, und alles war gelb und grün. Dann brach er zusammen. Krümmte sich vor Schmerzen. Röchelte. Starb.

Elisabeth wurde blass, als sie die Frau aus dem Wald wiedererkannte. Mit zerrissenen Jeans und ihrem Arztkoffer kniete sie neben dem Verstorbenen und ließ sich von einem Mitarbeiter der Bank die Symptome schildern. Sie zog sich die Handschuhe an und untersuchte den toten Direktor.

Es gibt keinen Beweis, dachte Elisabeth.
Sie hatte die Wurzeln vom Blauen Eisenhut gut ausgekocht. Das Gift wird auch durch die intakte Haut aufgenommen, hatte die Frau im Wald gesagt. Im Sud schwemmte sie erst die Unterwäsche, dann Hemd und Hose. Während die Sachen an der Sonne trockneten, spülte sie die Giftbrühe ins Klo und putzte es gründlich. Die Handschuhe verbrannte sie im Ofen.

Die Ärztin schaute vom toten Direktor zur lebendigen Elisabeth. Diese senkte den Blick. Die Frau Doktor dachte lange nach, und schüttelte den Kopf. Dann warf sie Elisabeth ein unmerkliches Nicken zu.

Herzinfarkt, schrieb sie in den Totenschein.

Samstag, 4. August 2007

Ich hätte da einen Vorschlag

Sie kennen doch das Pawlow-Experiment. Hunden wurde ihr Futter vorgesetzt und gleichzeitig klingelte ein Glöckchen. Nach einiger Zeit begannen die Hunde, Verdauungssekrete auch dann zu produzieren, wenn sie nur den Glockenton hörten. Ganz ohne Futter. Man nennt das die klassische Konditionierung. Die Reaktion des Tieres gehört zu den Reflexen und selbst die Intelligenz eines Haushundes oder –schweines ist dafür ausreichend.
Schon seit geraumer Zeit kann man dieses Phänomen in einer sehr ausgeprägten Form bei der ÖVP beobachten. Ein Vertreter oder eine Vertreterin der SPÖ öffnet den Mund. Bevor der Vorschlag die Ohren oder gar das Gehirn des Koalitionspartners erreicht hat, ja, noch bevor er überhaupt ausgesprochen ist, beginnt der ÖVP-Funktionär zu sabbern und schreit: „NEIN!“ Inhalte oder Themen dieser Vorschläge sind für diesen Reflex völlig irrelevant.
(Gut informierte Quellen haben berichtet, dass der ÖVP Generalsekretär kürzlich „NEIN!“ gebrüllt hat, als ein roter Abgeordneter gegähnt hat.)

Kein Wunder, dass dieses vertraute „Nein!“ auch zum Vorschlag Papamonat kam.
Obwohl – ein bisschen gewundert habe ich mich trotzdem, warum die selbst ernannte Familienpartei offenbar ein Problem damit hat, dass frischgebackene Väter wenigstens dreißig Tage lang ihre Frauen in dieser Umbruchsphase unterstützen und ihre Nachkommen kennen lernen. Haben sie Angst, die Männer könnten eine Ahnung davon bekommen, dass Verantwortung nicht ausschließlich bedeutet, die Kohle nach Hause zu bringen? Oder Angst, die Kerle könnten Geschmack an der Mischung aus duftender Babyhaut, stinkenden Windeln, dem Gefühl von Geborgenheit und Verantwortung finden und ihre Aufmerksamkeit auch in den nächsten 18 Jahren nicht nur in Aktien investieren?
Wie so oft weiß ich nicht, was in diesen Köpfen vorgeht. Wahrscheinlich mache ich mir diese Gedanken aber völlig unnötig, weil ebendort eine große Leere gähnt.
Wenn es Männer gibt, die das unbedingt wollen, können die ja ihren Urlaub dafür verwenden, hat kürzlich jemand zu mir gesagt.
Aufwachen! Der Urlaub hat – so will es das Gesetz – der Erholung zu dienen. Ein Neugeborenes und eine Mutter, die keine Nacht durchschlafen, sind der Erholung jedoch nicht wirklich förderlich. Es ist ja nicht mit ein bisschen Abwaschen und zu Hause herumhängen getan. Aber das kann jemand, der seine Familie nur lächelnd vom hübsch gerahmten Schreibtischfoto kennt, natürlich nicht wissen.

Die Männer, die einen Monat Vollzeitvatersein so vehement ablehnen, werden im Alter das Baby der Dritt- oder Viertfrau schaukeln und vor laufender Kamera vom Glück der späten Vaterschaft und der innigen Vater-Kind-Beziehung und der Wichtigkeit der gemeinsam verbrachten Zeit schwadronieren.

Ich hätte da einen Vorschlag: Wie wäre es, wenn...
„Nein! – Wau!“

Samstag, 28. Juli 2007

Geschmorter Müll

Ich will schreiben. Ich muss schreiben. Meine Finger, die in den letzten Tagen nur gesägt, gefeilt, gelötet, geschliffen, poliert haben, schreien vor Sehnsucht nach der Tastatur. Ich selbst habe Sehnsucht nach glänzenden Worten, aber noch glänzen sie nicht. „Leg sie in die Beize“, rate ich mir. Martha, die mir nicht aus dem Kopf geht, Martha die da drinnen in meinem Gehirn hockt und lacht, fragt: „Wo ist die Beize?“
Ja, wo ist sie, die Beize, die den Staub von den Worten nimmt, die den Schmutz aus dem Leben ätzt, wo ist sie, die Mattschlagbürste, die auf die Sätze einschlägt und alles, was zu viel ist, zu ungenau, zu schlampig, wegnimmt. Nimm die Schürze und den Gesichtsschutz, ermahne ich mich, denn wenn du die Sätze nicht mit beiden Händen gut festhältst, dann schlägt dir die Maschine deine Geschichten aus der Hand, zerfetzt sie in zusammenhanglose Silben, in Buchstaben, die du suchen, vom Boden aufheben und wieder zusammenlöten musst. Gefühle als Flussmittel. Gedanken als Lot. Aus dem Lot geratene Gedanken.
Danach in die Beize. Wo ist die Beize, verdammt noch mal?

So leer war mein Kopf, meine Gehirnwindungen so dünn besiedelt wie Nordkarelien. Nichts denken. Nur die Bergluft einatmen, Speckbrote essen, in die gelborangefarbene Abendsonne schauen, hämmern, schmieden und lachen.
Und jetzt kriechen die Gedanken, die vier Wochen Schlange standen, alle wieder hinein. Jeder will der erste sein. Der Alltag heischt um Aufmerksamkeit, die Sorgen und Ängste wollen sich ungeniert vordrängen, um die teuersten Logenplätze zu ergattern. Einer nach dem andern, mahne ich in meiner Türsteherinnenuniform, wenn Sie bitte nicht drängen wollen, es ist doch Platz genug für alle, das war es doch vor dem Urlaub auch. Die gute Laune, eine der wenigen Bewohnerinnen, die auch während der letzten Wochen auf der nichtssagenden, grasgrünen Oberflächlichkeit campieren durften, droht mit Selbstmord, wenn ich das Misstrauen hereinlasse. Ich gehe auf Distanz, setze meine Kontrollmiene auf und verlange die Ausweise. Das Misstrauen hat weder Pass noch Visum. „Ich muss sie leider ausweisen“, sage ich streng und räche mich für alles, was es mir im Leben je angetan hat. „Gefühle ohne gültige Ausweise müssen ausgewiesen werden.“

Die Erdbeeren sind vergilbt und bald wird auch die Gelassenheit wieder verblassen. Zitronenlimonade hilft gegen nordkarelische Depressionen, sagt der Wahnsinn und trinkt kalte Schokolade.
„Du hast zu viele Teile in dein Werk gepackt“, tadelt die Lehrerin in mir. „Lust und Tod und Nostalgie und kalte Schokolade passen nicht zu Zitronenlimonadengeschichten.

Ich richte die Flamme auf das Geschriebene, bis es beginnt, zu glühen und zu schmoren. Wenn es zu heiß ist, schmilzt es zu einer Kugel, denn die Kugelform garantiert ein Minimum an Oberfläche für ein gegebenes Volumen. So entstand auch die heutige Form der Erde, die früher eine riesige Silberscheibe war. Die Leute haben lauter seelischen und tatsächlichen Müll draufgelötet, bis die Lehrerin gesagt hat, so geht das wirklich nicht. Dann hat jemand eingeheizt, so lange, bis das physikalische Gesetz zur Anwendungen gekommen ist und sich die Erde zu einer riesigen Kugel zusammengetrollt hat.
Damit sie wieder glänzt, muss sie in die Beize.
Aber wo ist hier die Beize?

Freitag, 27. Juli 2007

Martha

Martha sagt, was sie denkt. Und Martha denkt viel. Sie nimmt ihre Tasse Tee und setzt sich von den älteren Herrschaften weg an den anderen Tisch. „Das ist ja nicht auszuhalten, die reden nur über Krankheiten.“
Sie selbst diskutiert gern über deutsche Lyrik und Geschichte, denn Martha ist Germanistin und Historikerin. Als ich ein Foto von meiner Freundin in der Abendsonne mache, stellt sie fest: „Na ja, in der Abendsonne ist jeder schön.“ Dann begutachtet sie mein Handy, ist erstaunt darüber, dass man damit sogar fotografieren kann, findet das genial und und beschließt, sich auch so ein Teil zuzulegen.

Ihr Vater war eine der herausragendsten Persönlichkeiten der österreichischen Fußballgeschichte, erzählt sie beiläufig. Im Alter von 55 Jahren ist er an einem Herzinfarkt gestorben. „Kein Wunder, der hat ja ständig geraucht.“ Martha zündet sich die nächste Zigarette an. Sie selbst ist gesund. „Na ja, Leistungssport kann ich mit meinem Knie nicht mehr ausüben“, meint sie, die Turmspringerin und Kraulerin war „aber muss ja nicht unbedingt sein.“

Martha liebt ausgefallenen Schmuck, deshalb ist sie hier, denn sie gestaltet und macht ihren Schmuck selbst. Schmuckstücke von der Sorte, bei denen meine Oma entsetzt aufgeschrieen hätte: "So etwas kann man sich doch nicht um den Hals hängen!" Sie fertigt einen originellen Handschmuck und hasst alles, was konservativ und allzu gleichmäßig ist. Langeweile verabscheut sie. Langeweile kommt auch nie auf, wenn Martha in der Nähe ist.
Ihren trockenen Lippen entschlüpft immer ein ebenso trockener Spruch. Als Roswitha, die bald 80 wird, beim Abendessen erzählt, dass sie zehn Geschwister hat, ruft Marhta: „Ich bin entsetzt! Dein Vater ist ein rücksichtsloser Mensch. So etwas kann man einer Frau doch nicht antun.“
Martha ist 89.
Sie war schon öfter hier, hat Steine geschliffen, Schmuck gefertigt, getöpfert und gemalt, doch irgendwie ist alles neu für Martha. Jeden Tag. Als sie am dritten Tag gefragt wird, wie es ihr im Kurs gefällt, antwortet sie: „Woher soll ich das wissen? Der Kurs fängt ja erst an!“

Martha weiß zwar nicht genau, wo sie ist und mit wem, sie weiß nicht, welcher Tag heute ist und wahrscheinlich auch nicht, welches Jahr, aber mit Feuereifer sägt, schleift und lötet sie. Als die Fassungen für den teuren Labradorit und das Ebenholz nach zwei Tagen Arbeit, viel Schweiß und einigen Missgeschicken endlich fertig sind, fehlen die Steine. „Welche Steine?“, fragt sie erst verwundert, erinnert sich dann aber: „Ich hab sie in ein Röhrchen gegeben.“ Sie weiß aber nicht, in welches und wo dieses Röhrchen sein soll. Dann lümmelt die sonst so lustige Martha verzweifelt an ihrem Arbeitsplatz, kramt in der riesigen Tasche mit den vielen Plastiksackerln und sagt: „Vielleicht hat jemand anderer sie eingesteckt.“ Um schnell hinzuzufügen: „Nicht absichtlich, natürlich, das behaupte ich ja nicht. Zufällig eher.“ Ihren Zimmerschlüssel sucht Martha auch immer, aber das wissen wir mittlerweile alle, dass der an ihrer Brust baumelt. Dorthin haben wir ihn am ersten Abend nämlich gehängt.
Wir helfen Martha, neue Steine und neues Ebenholz für die Fassungen zurechtzuschleifen und anzupassen. Am nächsten Tag wird sie vergessen haben, dass sie den Labradorit gekauft und verlegt hat und wieder glücklich sein.
„Jetzt muss die Silberplatte in die Beize“, erklärt die Kursleiterin und Martha fragt zum siebenundvierzigsten Mal: „Wo ist die Beize?“
Einmal sitzt Martha an meinem Arbeitsplatz. „Martha, du bist falsch hier“, mache ich sie behutsam aufmerksam, „das ist mein Platz.“
„Ich weiß“, sagt sie, „aber das Schmuckstück hier ist wenigstens schon fertig.“

Von Tag zu Tag schließe ich die Frau mehr in mein Herz. Ich weiß nicht, ob Mitleid angebracht ist, denn Martha scheint gar nicht zu leiden, oder nur sehr selten. Sie freut sich jeden Tag an der schönen Landschaft, murmelt: „Hier war ich noch nie!“ und „so etwas Wunderbares hab ich noch nie gesehen“, sie bringt uns zum Lachen und lacht selber mit, wenn sie zur Wirtin, mit der sie seit zwanzig Jahren per Du ist, sagt: „Ich glaube, ich habe Sie schon irgendwo gesehen, ich kenne Sie flüchtig.“

In meinem Auto bewundert sie die vielen bunten Lichter und erzählt, dass sie bis vor drei Jahren selbst gefahren ist. „Sie haben mir den Führerschein weggenommen“, beklagt sie sich, „dabei bin ich nur gegen die Einbahn gefahren. Gut, ich hab das Schild nicht gesehen, aber es kam ja gar nichts entgegen. Deshalb hätten sie mir doch nicht gleich den Schein wegnehmen müssen. Die haben nur irgendeinen Vorwand gesucht.“ Wäre ihr dieses Missgeschick nicht passiert, Martha würde immer noch Auto fahren.
Vielleicht ist es gut, dass sie das nicht mehr tut.

Heute Nachmittag habe ich mich von Martha verabschiedet. Mit einer liebevollen Umarmung. Ich weiß nicht, ob ich sie je wiedersehen werde. Aber in meinem Herzen, da werde ich sie behalten. Sie und das Flackern in ihren Augen, wenn sie – als ich mit frisch gewaschenen und gestylten Haaren zum Essen komme - sagt: „Deine Halskette ist wirklich ausgesprochen toll. Wenn du dich jetzt auch noch frisieren würdest!“

Donnerstag, 12. Juli 2007

Sergej in Siena oder Die Macht der Mandeln

Sergej öffnete die Fahrertür seines rostigen Skodas, in dem er vierzig Stunden fast ohne Pause gefahren war. So ähnlich musste sich Juri Gagarin damals gefühlt haben, nachdem sie ihn aus seiner Kapsel gezurrt hatten. Das also war Siena.
Seit fünfunddreißig Jahren träumte Sergej davon, einmal nach Siena zu fahren, aber immer war etwas dazwischengekommen. Erst unüberwindbare Grenzen und große Geldnot. Die Grenzen fielen, die Geldnot blieb. Dann kam seine Frau dazwischen und die Kinder, und sie ließen die Erinnerung verblassen. Die Erinnerung an eine Sammlung kolorierter Postkarten in der Schreibtischschublade seines Großvaters. Unter einem grünblauen Himmel quoll pures Gold aus der Fassade der Kathedrale. Die Piazza del Campo leuchtete in orange und violett wie ein Spielcasino in Las Vegas. Und die ganze Stadt roch nach Großvaters billigen Zigarren aus Georgien.

Sergej atmete die kühle Luft des Morgens ein. Hier roch es nicht nach Zigarren, sondern nach Olivenöl. Er schlenderte über den Markt, inhalierte den Duft von Zitrus- und Meeresfrüchten, bewunderte die Artischocken und fragte sich, warum man hier am Gemüsestand Blumen verkaufte.
Bei einer besonders italienisch aussehenden Italienerin kaufte er ein paar Kekse. „Kann-tu-tschi-ni“, erklärte sie. Ihre weißen Zähne blitzten und ihre Brüste wippten auf und ab, während sie lachte. Wahrscheinlich lachte sie ihn aus, weil er mit Geld aus dem Jahre 1957 bezahlen wollte. Das hatte er auch in Großvaters Lade gefunden. Er streifte den Schein sorgfältig glatt und steckte ihn in die Hemdtasche. Damit wollte er noch mehr Zähne zum Strahlen und Brüste zum Wippen bringen.

Sergej schnupperte an den Keksen. Sie rochen nach Mandeln und aufdringlich süß. Er steckte eines in den Mund. Hart und trocken. Ernüchtert kaute er weiter und schluckte. „Schade ums Geld“, schimpfte er auf Russisch. Aber Sergej hatte Hunger, und deshalb quälte er sich zwei weitere Kekse durch den Gaumen. Den vierten und fünften aß er ganz in Gedanken, ohne auf den Geschmack zu achten. Er beobachtete eine weitere Italienerin, die Wein verkaufte. Ihre Zähne strahlten nicht so wie bei der anderen, aber dafür wurde noch mehr gewippt.

Sie hielt ihm eine kleine Flasche Wein hin. Vino santo, stand drauf. Hier war wohl alles heilig. Den alten Schein ließ er unberührt, weil es auch so schon genug wippte. Er schraubte die Flasche auf und nahm einen Schluck.
„Mamma mia! No! No!“, schrie die Weinverkäuferin auf und gestikulierte wild.
Er sprach nur ein paar Brocken italienisch und sie gar keinen Brocken russisch, aber keine dreißig Minuten später hatte er ein Rendezvous und saß gemeinsam mit Amanda vor einer kleinen Bar. Nach ihren weichen italienischen Anweisungen tunkte er harte italienische Kekse in süßen italienischen Wein. Nicht zu lange und nicht zu kurz.
Zuvor hatten sie ein Wörterbuch gekauft. Italienisch-Russisch. Russisch-Italienisch. Lächelnd tauschten sie das kleine Buch und Höflichkeitsfloskeln hin und her. Nach etlichen Tauschereien und noch mehr getunkten Cantuccini gelang es Sergej, den Text auf Amandas T-Shirt zu übersetzen:
Ich habe auch Augen.
Das hatte er schon längst gemerkt. Warm und braun waren die. So wie der Espresso, den sie jetzt tranken. Aber sehr viel tiefer als die kleine Tasse. Und ganz in der Tiefe las er darin: Ich habe auch Brüste.
„Vieni con me “, sagten ihre Lippen, nachdem sie sich den Kaffeeschaum abgeleckt hatte.

Sie zeigte ihm die Sehenswürdigkeiten der Stadt: Die goldglänzende Front des Domes Santa Maria. Den Palazzo Communale mit dem Schwindel erregenden Torre del Mangia.
Dass Siena nicht nach alten Zigarren roch, wusste er ja nun bereits, aber er war beeindruckt von den kräftigen Braun- und Rottönen, die mit dem bonbonfarbenen Kitsch der Ansichtskarten nichts gemein hatten. Billig wirkte hier nichts, weder der Himmel noch die Erde, und schon gar nicht Amanda mit ihren sienaroten Haaren.

Er folgte ihr, als sie sich durch die engen Gassen der Altstadt schlängelte und stellte fest, dass nicht nur ihre Augen und ihre Brüste sehenswert waren. Sie ist viel zu jung für mich, ging es durch seinen Kopf, aber zu gerne hätte er sie angefasst, die Sehenswürdigkeiten der Amanda.

Sie passierten das Haus der Heiligen Katharina. Während Sergej sich noch daran erinnerte, dass dies die Schutzpatronin Italiens war, fasste Amanda ihn an der Hand und zog ihn in einen schummrigen Hauseingang. Sergejs Herz klopfte.
Sie drückte eine finstere Holztür auf und schob ihn hindurch.
Im Innenhof war es so hell, dass Sergej blinzeln musste. Durch einen Urwald von Topfblumen folgte er ihr die Treppe hinauf und wieder durch eine Tür. Jetzt betraten sie einen bestimmt vier Meter hohen Raum, den große Rundbogenfenster mit buntem Glas säumten. Vor einem der Fenster saß ein Mann im Rollstuhl.
Amanda nahm eine Flasche und drei Gläser aus einem antiken Wandschrank, küsste den alten Mann auf die Wange und setzte sich zu ihm. „Mio nonno “, erklärte sie und Sergej blätterte im Wörterbuch. Das war also ihr Großvater.
Sie schenkte ein. Sergej holte eines der restlichen Cantuccini aus der Jackentasche, um es einzutunken, aber Amanda winkte ab. „Porca miseria, no! Grappa. Salute.“
„Sergej parla il russo“, sagte sie und das erste Mal seit ihrem Besuch zeigte der Alte eine Regung.
Auf seinen Wink trat sie näher an den Rollstuhl heran. Sergej konnte hören, wie der Großvater tuschelte, aber verstehen konnte er absolut nichts. „Si“, sagte Amanda immer wieder, und ab und zu blickte sie dabei zu Sergej herüber und lächelte.
Mit einem krächzenden „Okay“ beendete der Alte das Gespräch und klang dabei wie Marlon Brando als Pate. Dann rollte er langsam zum Wandschrank, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. Einen Moment rechnete Sergej damit, dass er eine Pistole auf ihn richten würde, aber dann klappte er ein kleines Buch auf.

„Sicuro?“, fragte der Pate noch einmal und Amanda nickte. „Sicuro.“ Sicher.
Mit zitternden Fingern reichte er Sergej ein paar Zettel.
„Brief von russische Frau. Augen kaputt“, grummelte er. „Bitte vorlesen.“
Sergej betrachtete erst die sauber geschriebenen kyrillischen Buchstaben und las dann. Er schmunzelte. Eine gewisse Valerija schwärmte von wunderschönen Tagen und Nächten in Siena. Dankte Paolo für seine Gastfreundschaft. Die Pasta. Den Wein. Und für das, was danach gekommen war. Der Großvater lächelte entrückt und Amanda wartete ungeduldig und hatte keine Ahnung, worum es ging und warum das Schmunzeln auf den Gesichtern der Männer immer breiter wurde. Hier ist das Rezept von Borschtsch, schrieb Valerija, einer russischen Nationalspeise mit roten Rüben. Und ob Paolo ihr dafür verraten könnte, wie man diese harten Mandelkekse zubereitete.
Acht Jahre war dieser Brief jetzt alt und offensichtlich der letzte in einer ganzen Reihe von Briefen. Danach hatte Paolo nicht mehr geantwortet. Der Augen wegen.
“Bitte, du schreibst Antwort?”
“Sicuro.” Sergej nickte und lernte Italienisch.

“Brjansk liegt praktisch auf meinem Weg”, murmelte Sergej, als er vor dem Briefkasten stand und steckte den Umschlag wieder in die Tasche.

“Valerija Mandlikova?”
“Ja, die bin ich.” Die dunklen Augen der alten Dame funkelten lebhaft.
“Sie haben Post.”

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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