Rosa verließ die Buchhandlung. Trotz der leichten Lektüre war die Tasche schwer. Trotz der schweren Tasche war ihr Herz leicht. Sieben Bücher hatte sie gekauft und freute sich auf vergnügte und belesene Abende in der Badewanne, vorm Kamin und im Bett. Auf eines war sie besonders gespannt. Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags.
„Wie wär’s, wenn du bei deinen Büchern anfängst?“, hatte Bogey, ihr Mann vorgeschlagen, als sie es bestellt hatte. Bogey hieß im richtigen Leben natürlich nicht Bogey wie Par und Birdy, sondern Joachim Bogner. Er spielte auch nicht Golf. Rosa hatte gelächelt und gesagt: „Ich hab’ eher an dein Computergerümpel gedacht.“ Ihre gemeinsame Tochter war auf leisen Sohlen in ihr Zimmer geschlichen und hatte hinter sich zugesperrt, aus Angst, dass die Feng-was-auch-immer-Aktion auch sie und ihr Reich betreffen könnte.
Im Buchladen hatte Rosa ein bisschen geschmökert, und es las sich vielversprechend an. Ich habe das Gefühl, dass ich in den letzten sechs Monaten nicht nur jeden Schrank daheim, sondern auch jeden Bereich meines Lebens durchforstet habe , so eine Frau in einem Dankschreiben an die Autorin. Ich fühle mich bereits jetzt schon so gesund und glücklich wie seit Jahren nicht mehr.
Rosa war zwar gesund und glücklich, aber noch gesünder und glücklicher konnte ja nicht schaden.
Von Dingen, von Menschen und von anderen Belastungen wollte sie sich befreien. Nein, nicht von Bogie, der war mehr Lust als Last.
Sie rührte in ihrem Kaffee und las.
Das Buch inspirierte mich meine Rumpelkammer auszuräumen und zum Flohmarkt zu fahren. Dabei habe ich 600 Euro verdient. Mit dem Geld finanzierte ich meinen ersten Urlaub seit Jahren.
Au ja, das klang gut. Sie sah sich schon am Hotelpool in Kreta liegen. Nicht drei Koffer würden sie begleiten, sondern nur ein kleines Rucksäckchen. Ob sich die 346 Marmeladegläser verkaufen ließen am Flohmarkt? Die 3 Tonnen schwere Holzbearbeitungsmaschine? 34 gebrauchte Lippenstifte?
Ausmisten würde also ihr Leben grundlegend verändern. Wollte sie das? So ganz sicher war Rosa noch nicht, als sie umblätterte.
Gerümpel ist aufgestaute Energie. Aufgestaute Energie ist klebrig. Aha. So klebrig wie ihr Küchenboden. So lustvoll haben Sie noch nie entrümpelt. Das stimmte sogar ganz sicher, Rosa hatte nämlich noch überhaupt nie entrümpelt. Bis jetzt hatte Rosa vorwiegend gesammelt.
Noch spürte sie nichts von der positiven Energie, die von diesem Ratgeber ausgehen sollte. Gerümpel macht depressiv. Es war wohl eher diese Lektüre, die sie da grad depressiv machte. Der Besitz von Krempel hält einen in der Vergangenheit fest. Unordnung verwirrt.
Das schlechte Gewissen fraß sich fest in Rosa. Lag das an ihrem emotionalen Gerümpel? An der Tatsache, dass sie nicht loslassen konnte? Dass sie abhängig war von Menschen, von Dingen, von Kitsch?
Gut, von Tante Annas Vasen und der zerschlissenen Bettwäsche würde sie sich ohne Problem trennen können. Das wäre ein Anfang. Oder die Festplatte ihres Computers. Aber sie konnte doch nicht einfach die ganzen Liebesbriefe wegschmeißen, die sie je bekommen hatte. Die wollte sie irgendwann noch ihren Enkelkindern zeigen. Sentimentaler Schrott , hieß das im Buch. Die Stofftiere ihrer Tochter. All die Bücher, die sie vielleicht doch irgendwann zum zweiten Mal lesen würde.
Es half nichts. Es musste entrümpelt werden. Körperlich und emotional. Wo aber sollte sie anfangen? Im Keller? Auf dem Dachboden? Auf ihrem Schreibtisch?
Sie schlug in ihrem klugen Ratgeber nach. Der Keller symbolisiert ihre Vergangenheit und ihr Unterbewusstes. Dinge, die dort gelagert werden, stehen für unerledigte Angelegenheiten im Leben.
Hm. Rosa dachte nach. Der Wein war ja in der Tat noch unerledigt. Was aber hatte er mit ihrer Vergangenheit zu tun? War sie in ihrem früheren Leben Alkoholikerin gewesen? Sie stöhnte. Sie würde das mit ihrem Therapeuten besprechen. Der Tiefkühlschrank stand auch im Keller. Ein Symbol für ihre unterkühlte Ehe?
Sie beschloss gerade, wieder in die Buchhandlung zurück zu pilgern und ihre Neuerwerbung gegen das neue Buch von Hera Lind umzutauschen, eine wirklich leichte Lektüre, da sprang sie folgende Geschichte an:
Eine Frau wurde von diesem Buch so inspiriert, dass sie bis auf fünf Kleidungsstücke alles aus ihrem Schrank ausräumte, auch die alte Stereoanlage und haufenweise Ramsch. Dadurch wurden Riesenmengen angestauter Energie freigesetzt, die Platz machte für Neues. Eine Woche später bekam sie von ihrer Mutter per Post einen Scheck über 5.000 Euro.
Boahh. Um fünftausend Euro würde Rosa sich eine Menge neuer Kleider kaufen können. Und neue Lippenstifte.
Am besten, sie schob die Sache nicht auf die lange Bank, sondern begann gleich damit.
Packen wir’s an, hieß das erste Kapitel.
Also packen wir’s an, sagte Rosa laut, voll klebriger Energie. Jetzt. Sofort. Auf der Stelle. Sie krempelte die Ärmel auf.
Der Aschenbecher. Er war hässlich und Rosa rauchte seit Jahren nicht mehr. Weg damit. Der antike Salz- und der Pfefferstreuer wären etwas für den Flohmarkt. Sie ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Das Tischtuch würde sie der Caritas bringen. Gleich morgen. Die Zeitschrift auf dem Tisch war von vorletzter Woche. Raus damit. Der Sessel alt und gebrechlich. Den könnte man einheizen. Knack, ab mit dem Stuhlbein. Die Stofftulpe in der Vase. Hässlich und völlig unnütz. Ein Staubfänger. Runter vom Tisch und rein in den Mistkübel.
Rosa wunderte sich, wie leicht das alles war. Richtig Spaß machte das Entrümpeln. Es befreite. Und wie es befreite!
Da spürte sie eine Hand auf der Schulter.
„Frau Bogner?“, flüsterte der Ober ihr besorgt ins Ohr. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Vielleicht hätte Rosa doch nicht ausgerechnet in ihrem Stammkaffeehaus beginnen sollen.
testsiegerin - 23. Sep, 18:48
Wien ist ein Aphrodisiakum für Nekrophile
(André Heller)
Sibylle war gern hier. Der Zentralfriedhof war für sie der schönste Ort in Wien. Sie fühlte sich immer unverstanden, wenn Freunde von auswärts den Kopf schüttelten, weil sie ihnen als eines der Wahrzeichen den Wiener Zentralfriedhof zeigen wollte.
Sie war eine Frau in den besten Jahren, also knapp über vierzig. Dank einer sensationellen Anwältin erfolgreich geschieden, von ihrem Mann großzügig abgefunden und Eigentümerin einer stilvollen Altbauwohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Als Unternehmensberaterin hatte sie einen Beruf, der sie ausfüllte und ihr Spaß machte. Mit ihrem Leben war Sibylle also ganz zufrieden.
Aber neben dem Leben mochte Sibylle auch den Tod. Deshalb zog es sie immer wieder hierher. Bei schönem Wetter, denn sie liebte zwar die Trauer, aber die Kälte und Nässe hasste sie.
Am liebsten war sie am Friedhof, wenn Beerdigungen stattfanden. An diesen Tagen zog sie ihren schwarzen Rock, eine schwarze Bluse und schwarze Strümpfe an und mischte sich unter die Hinterbliebenen.
Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
(Spinoza)
Sibylle bevorzugte Bestattungen mit sichtbarem, überwältigendem Schmerz. Der wurde am deutlichsten spürbar, wenn Kinder oder junge Menschen begraben wurden. Sie bekam Herzklopfen und weiche Knie, wenn eine Mutter von den Totengräbern zurückgehalten werden musste, weil sie ihrem Kind am liebsten in das offene Grab folgen wollte. Oder ein junger Mann am Grab stand, der gerade seine Frau verloren hatte und stumm weinte, während sein Gesicht Fassungslosigkeit, Schmerz und unendliche Liebe spiegelte. Und wenn die Kinder verloren und voller Fragen, die sie nicht zu stellen trauten, selbst gezeichnete Bilder in die Grube warfen.
Es war nicht so, dass sie Freude empfand oder Genugtuung, wenn sie Szenen wie diese beobachtete. Ganz und gar nicht. Auch Sibylle litt. Trotzdem, wenn ihr dann endlich die Tränen über die Wangen liefen, dann war da auch ein warmes, sattes Gefühl, dessen sie sich nicht einmal schämte.
Quem dei diligunt, adulescens moritur - Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben
(Titus Maccius Plautus)
Die anderen Beerdigungen, die Sibylle so liebte, waren die, zu denen kaum Leute kamen. Oder höchstens eine Nachbarin oder eine entfernte Kusine, die völlig abwesend wirkten. Diese Abschiede waren viel einsamer als die Begräbnisse voller ohnmächtiger Verzweiflung der Liebenden. Wenn sie dann so hinter dem Sarg des Verstorbenen herging und das Laub unter ihren Füßen raschelte, entstanden in ihrem Kopf Geschichten. Da sah sie obdachlose Penner, erfroren vor Bahnhöfen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung verschlossen blieben. Die alte Frau, die erst gefunden wurde, als Verwesungsgeruch durch den Briefschlitz drang. Den Studenten vom Land, der dem Tempo der Großstadt und dem Druck der Universität nicht standhielt und sich in seinem Untermietzimmer das Leben nahm.
Ich fürchte, dass mein Tod nicht bemerkt wird, außer durch meine zurückgelassene Unordnung.
(Armin Mueller-Stahl)
Zu Prominentenbegräbnissen ging sie nie und an den Ehrengräbern blieb sie nicht stehen. Sie mochte das einfache Leben und den einfachen Tod. Sibylle wusste von den Toten in der Regel nicht mehr als in den Todesanzeigen stand. Sie wollte auch gar nicht mehr wissen, denn es waren nicht die wahren Geschichten, die sie so aufwühlten, sondern ihre erdachten.
Sie wollte dabei sein, wenn es um den Tod ging. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass es sie selbst wieder einmal nicht getroffen hatte.
Der Hang zur Morbidität floss seit jeher durch ihre Venen. Als kleines Mädchen war sie am liebsten bei der Tochter des Bestatters zum Spielen gewesen, schaurig fasziniert von den Särgen und den ernsten Mienen. Während andere Kinder dem Oster- und Weihnachtsfest entgegenfieberten, wartete sie sehnsüchtig auf Allerheiligen. Und wenn ihre Mitschülerinnen einander „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit´ren Stunden nur“ ins Poesiealbum schrieben, so entschied sie sich für Sprüche aus den Todesanzeigen.
Wie ein Blatt vom Baume fällt,
So fällt ein Mensch aus seiner Welt,
Die Vögel singen weiter.
(Matthias Claudius)
Oft malte Sibylle sich ihr eigenes Begräbnis aus. Eine richtig schöne Leich, wie man hier sagte, wollte sie. Alle in Schwarz und ein Kranz mit weißen Rosen auf dem Sarg. Mozarts Requiem. Totengräber mit langen zerfurchten Gesichtern. Die weinerliche Stimme von Pater Gregor, der die „liebe Verstorbene“ huldigte und Freunde, die ihr mit feuchten Augen ein Schäuferl Erde ins Grab nachschmissen, während der Geistliche sagte: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Und die Tränen würden in Strömen fließen.
Auf jeden Fall sollte keine kalte Platte aus Marmor auf ihr liegen. Nur feuchte, weiche Erde würde ihren Sarg bedecken. Und darauf wunderschöne Kränze mit rührenden Abschiedsworten auf den Trauerschleifen. „Wir werden dich nie vergessen“. Danach würden sie alle beim Wirten sitzen zum Leichenschmaus. Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat. Zur Nachspeise Apfelstrudel. Und viel Wein. Den würden sie auf Sibylle trinken. Die Traurigkeit müsste dann dem Lachen weichen und irgendjemand das Wienerlied „Es wird ein Wein sein, und wir wer´n nimmer sein...“ anstimmen. Wahrscheinlich der Onkel Franz.
Eigentlich schade, dass sie das alles nicht mehr erleben konnte.
Rien, je ne regrette rien
(Edith Piaf)
würde auf der Todesanzeige, die hier Partezettel hieß, stehen. Gleich neben dem Foto, das sie an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen hatte. Mit Selbstauslöser auf dem Zentralfriedhof. Rien de rien. Ich bereue nichts.
*
„Die Angst vor dem Scheintod veranlasste Manchen anzuordnen, dass nach seinem Tod durch die Vornahme des Herzstichs die Möglichkeit des Lebendig-Begraben-Werdens ausgeschlossen wurde. Der Herzstich durfte jedoch ausschließlich von einem Arzt und erst nach der Totenbeschau vorgenommen werden“ , erklärte der Museumsreferent bestimmt schon zum tausendsten Mal.
Sibylle betrachtete gerade ein Stilett mit Holzgriffen und Stahlklinge, entstanden um 1900. Wenn der Spätherbst sich mit seinen feuchten kalten Nebeln über Wien legte, dann wurden Sibylles Besuche auf dem Friedhof seltener und die im Wiener Bestattungsmuseum häufiger.
„Sie sind nicht zum ersten Mal hier, nicht wahr?“ flüsterte ihr ein Mann zu, der sie schon eine ganze Zeit von der Seite betrachtet hatte. Erschrocken blickte sie auf.
„Ich?“ Sie lächelte verlegen und stammelte: „Nein ... ich ... wieso ... wie kommen Sie darauf?“ Sie fühlte sich ertappt.
„Oh!“ Er grinste liebenswert. „Ich habe ihre Lippen beobachtet. Und nicht nur, weil sie so schön rot sind, sondern, weil sie gleichzeitig mit dem Museumsführer seinen Text gesprochen haben.“
Sie schämte sich. Er würde sie jetzt wahrscheinlich für eine Verrückte halten, die nichts anderes zu tun hatte, als sich in ihrer Freizeit im Bestattungsmuseum herumzutreiben. Dabei stimmte das gar nicht, sie war ja meistens auf dem Friedhof. Die Geschichten hier waren zwar skurriler als die ausgedachten vom Friedhof, aber der Tod draußen fühlte sich lebendiger an.
Der Mann war etwas jünger als sie und sah gut aus. Groß und schlank war er und dunkelblond. Sibylle errötete und überlegte sich gerade eine überzeugende Erklärung, doch er sprach einfach weiter.
„Ein schönes Stilett, nicht wahr? Wussten Sie, dass Arthur Schnitzler und Johann Nestroy den Herzstich testamentarisch verfügt haben?“
Die Doctoren - selbst wenn sie einen umgebracht haben - wissen nicht einmal gewiß, ob man todt ist.
(Nestroy)
Natürlich wusste sie das, sie war ja nicht zum ersten Mal hier.
„Bösendorfer auch“, sagte sie und die Faszination am Tod hatte ihre vorübergehende Scham besiegt. „Sie wissen schon, der berühmte Klavierbauer.“ Er nickte. Er wusste. „Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen etwas!“ Sibylle nahm den Fremden einfach an der Hand und führte ihn in den Nebenraum.
„Mein Lieblingsstück“, sagte sie, als sie vor dem Josephinischen Gemeindesarg standen, einem Holzsarg mit Bodenklappen und einem Öffnungsmechanismus aus Schmiedeeisen.
„Der Verblichene wurde nackt in einen Leinensack genäht und in diesem Sarg deponiert. Dann wurde der Sarg auf das Grab gestellt, der Totengräber klappte den Boden auf und der Leinensack plumpste ins Grab hinein“, erklärte Sibylle voller Leidenschaft und er lauschte mit offenem Mund. „Sparpolitik anno 1784“, fügte sie noch lächelnd hinzu.
„Ich bin übrigens der August“, sagte er, noch immer mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Oh, der lieber Augustin!“, antwortete sie und sie strahlten einander an. Jeder hier kannte die mythische Figur des Sängers Augustin, der in einer Pestgrube übernachtete, um dann fröhlich weiter zu singen.
„Ich heiße Sibylle.“ Sie wollte ihm gerade die Hand entgegenstrecken, als sie bemerkte, dass sie die seine während des Monologs die ganze Zeit gehalten hatte.
„Komm, wir gehen wieder zur Gruppe, ja?“ Vorsichtig entzog sie sich ihm und schaute auf die Uhr. „Jetzt kommt nämlich gleich die grausige Geschichte von den Pestopfern.“
Der Museumsführer erzählte erst von der Pest und später von alten und neuen Beerdigungsriten. Sie lauschten und fühlten, wie ihre Herzen ein bisschen heftiger pochten als noch eine halbe Stunde zuvor. Und das lag nicht nur an den makabren Geschichten.
Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.
(Bundesreisekostengesetz 1973)
Draußen regnete es in Strömen. Sie standen da und sahen einander an. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“ fragte sie fast ein bisschen scheu.
„Nur, wenn du mich an der Hand nimmst.“
„Ich glaub, das geht“, sagte sie, griff nach seiner Hand und sie rannten zum Kaffeehaus um die Ecke und sangen dabei:
„Rock ist weg, Stock ist weg
Augustin liegt im Dreck,
Oh du lieber Augustin, alles ist hin“
Sibylle war nicht bloß zufrieden. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Sibylle glücklich war.
„Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?“ fragte August, während sie ihm durchs nasse dunkle Haar strubbelte und die Tropfen in ihren Kaffee spritzen.
„Nein. Hab ich nicht.“ Ihre Antwort kam schnell, aber wenig überzeugend. In Wahrheit mischte Angst davor sich mit der Sehnsucht danach.
„Magst du Friedhöfe?“ fragte sie und er nickte.
„Ich bin oft auf dem Grinzinger Friedhof draußen“, sagte August. „Meine Eltern sind dort begraben. Möchtest du mitkommen nächste Woche?“ Ja. Sie mochte.
Sie tranken ihren Kaffee und dachten nach. Und redeten. Über den Tod hauptsächlich. Aber, weil der Tod ein Teil vom Leben war, auch übers Leben. Und über den Sinn.
Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.
(Antoine de Saint-Exupéry)
Sie waren oft in dem Kaffeehaus. Meistens an Freitagen, an denen das Wetter ihren Friedhofsbesuchen einen Strich durch die Rechnung machte.
Irgendwann, der Winter war längst vorbei, saßen sie wieder hier.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ Diesmal war es Sibylle, die diese Frage stellte. August fütterte sie mit Topfenstrudel und sagte zärtlich:
„Ja. Hab ich.
Vor deinem.“
testsiegerin - 19. Sep, 21:50
Liebe Testsiegerin,
du weißt ja, im Moment schreibe ich grad an einer längeren Geschichte in sieben Teilen. Eine Woche im Bett heißt sie und besteht – wer hätte das gedacht – aus sieben Teilen. Drum stell ich hier auch grad nur nicht so neue Texte rein. Oder eben offene Briefe, die schreiben sich so nebenbei. An den Papst, an irgendeine lächerliche Ex-Moderatorin, an Freundinnen, die so ganz und gar nicht lächerlich sind.
Ja, und heute eben an dich.
Weißt du, liebe Testsiegerin, manchmal kotzt du mich ganz schön an. (So wie du vorgestern gekotzt hast, übrigens, weil du nicht weißt, wann genug ist. Und komm mir jetzt nicht mit Konstantin Wecker und "genug ist nie genug") Schon alleine dieses lächerliche Pseudonym! Wer bitte nennt sich Testsiegerin? O.k., ich geb ja zu, Kaffeehausintellektuelle und Freie Radikale waren auch nicht viel besser.
Darum geht’s aber gar nicht in meinem Brief, von mir aus kann sich jede und jeder nennen, wie er/sie will. Stell dir vor, manche nennen sich Grölemann oder Steppenhund oder so wie der Hauptmann von Köppenick.
Warum ich dir heute schreibe? Ich weiß es nicht, mir war einfach grad danach. Weißt du denn immer, aus welcher Motivation heraus du Texte verfasst? Das schaut mir nämlich gar nicht danach aus.
Ja, was ich dir sagen wollte, deine Gekränktheit und Beleidigtheit geht mir ziemlich auf die Nerven. Erst machst du auf Rakete und wenn man genau hinschaut, entpuppt sich dieses Geschoß als schlecht gefalteter Papierflieger. Gut, das kann jedem einmal passieren.
Einmal.
Kapiert? Nicht immer wieder. Immer wieder malst du deine alten Muster auf das karierte Papier und faltest es. Total schlampig noch dazu, und dann stürzt das Origami-Ding ab und du heulst. Obwohl – du bist kein Papierflieger. Auch keine Rakete. Kein Hubschrauber, kein Düsenjet, kein UFO. Du bist das alles und gleichzeitig nichts. Trotzdem hebst du regelmäßig ab, wirst dann völlig überheblich, tanzt auf dem Tisch und brichst dir prompt ein Bein. Andere Menschen würden nach solchen Erfahrungen einfach nicht mehr auf den Tisch klettern. Aber du bist nicht andere Menschen. Du bist die Testsiegerin, die immer noch glaubt, sie könnte fliegen. Die glaubt, sie wäre anderen Leuten überlegen.
Aber sicher doch bist du das. Weltmeisterin im Fettnäpfchentappen, das bist du. Weltmeisterin im Große-Reden-Schwingen und sich dabei ganz klein fühlen.
Erinnerst du dich noch, was deine Therapeutin dich vor Jahren gefragt hat: Brauchst du dieses Muster noch? Bist du da nicht schon hinausgewachsen?
Du musst hier nicht in der Öffentlichkeit darauf antworten, überleg es dir einfach mal in Ruhe. Ruhe. Weißt du überhaupt, was das ist, Ruhe?
Ständig auf der Suche nach Anerkennung bist du. Aber ich verrat dir mal was, meine Gute. Die findest du nicht draußen. Die findest du nur in dir. Mein Gott, jetzt red ich schon selber wie deine ehemalige Therapeutin. Ständig auf der Suche nach Bestätigung und Liebe bist du. Aber auch die hockt in dir und nicht am Stammtisch. Und noch etwas: Nicht jeder muss dich lieben. Das wäre erstens langweilig und zweitens ganz und gar unmöglich. Und keineswegs erstrebenswert.
Manchmal hab ich das Gefühl, du forderst die Konfrontation und damit auch deine eigene Verletzlichkeit immer wieder aufs Neue heraus. Du liebst die Provokation, oder? Musst du über so Dinge wie die Rolle der Frau, Toleranz gegenüber Randgruppen oder den Unsinn der Todesstrafe schreiben? Wo du doch genau weißt, dass es genug Leute gibt, die da ganz anders denken als du? Musst du dich mit deinen bauch-intuitiven Emotionen und deinem Sinn für Gerechtigkeit gegen streng wissenschaftliche Argumentationen stellen? Und musst du dem Leben auf die Stirn spucken, weil es ungerecht ist? Wusstest du das nicht längst, dass es weder Wunschkonzert noch ein Kindergeburtstag ist?
Ahja, wo ich schon dabei bin: Noch etwas an dir nervt mich gehörig. Deine Wut und dein Trotz. Musst du heulen, weil jemand dich und deine Texte pseudointellektuell nennt und dir Niveau abspricht? Musst du den Topf auf den Herd knallen, nur weil jemand behauptet, deine Knackwurst rieche nach Leichenteilen? Musst du den Postbeamten zur Schnecke machen, weil ein Brief nach Kärnten neun Tage dauert? Musst du einen Fahrkartenautomaten der deutschen Bahn aufs Schlimmste beleidigen, weil er weder Bargeld noch deine EC-Karte nimmt? Musst du gar dagegentreten, weil du statt Karlsruhe „Karlsdorf“ eingetippt hattest? Nur weil im Dorf für gewöhnlich Ruhe herrscht? Nicht sehr erwachsen, deine überzogene Reaktion, meinst du nicht?
Ein Tipp von mir, liebe Testsiegerin:
Werde endlich erwachsen. Möglichst bald.
Mach’s gut. Wir sehen uns. Vielleicht früher als mir lieb ist. Vielleicht schreib ich dir ja auch irgendwann, was ich an dir mag. Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Deine Barbara
testsiegerin - 17. Sep, 22:03
aufgrund von rechtsanwältlichem Druck gelöscht
testsiegerin - 10. Sep, 19:00
hi – liger paps, lieber benny
ich hab ehrlich versucht, dir in den letzten tagen aus dem weg zu gehen. ich hab’s nicht geschafft. du bist nämlich ganz schön hartnäckig und verfolgst mich auf schritt und tritt. obwohl wir beide wissen, dass wir einander nicht leiden können.
ich hab wirklich vorgehabt, zu deiner unpolitischen pilgerreise in österreich zu schweigen, ich dachte, meine güte, auch andere piefkes machen hier urlaub und sich wichtig und bestellen käse-sahne-kuchen statt topfentorten und ich reg mich nicht jedesmal auf.
30.000 waren in mariazell, na ja. bei der regenbogenparade waren 100.000, glaub ich, und - das sag ich nicht ohne stolz - beim maiaufmarsch am rathausplatz 120.000. und das, obwohl gusenbauer nicht unbedingten gehorsam und demut von seinen fans fordert.
wie gesagt, ich wollte mich raushalten, ich hab sogar akzeptiert, dass meine nichte, der ich tickets für robbie williams geschenkt hab, diese gegen zählkarten für deine performance eingetauscht hat.
aber weißt du, benny, du bist zu weit gegangen. ich dachte, wir hätten da einen deal? du lässt mich in ruhe und ich dich. aber was tust du?
provozierst blöd und mischst dich in politische angelegenheiten ein. da werd ich grantig. du regier gefälligst deinen zwergstaat, aber lass uns in ruhe. schau, es nützt ja eh nix. es ist weder dem pauli dem sechsten noch dem polen gelungen, die fristenlösung in österreich zu verhindern, und dir auch nicht. zum glück.
wir wissen ja eh, dass ihr da oben frauen nicht besonders leiden könnt, und sie nur als gebärgefäße betrachtet. selbst da sind euch die am liebsten, die werfen, ohne gebumst zu haben.
glaubst du denn wirklich immer noch, dass frauen in einer notlage nicht abtreiben, nur weil du oder der staat es ihnen verbieten? sie wenden sich dann halt nicht an ärzte, sondern an engelmacherinnen (die findet man heute nicht mehr in den dunklen gassen der alstadt, sondern bei google). sogar die chance auf den himmel haben sie sich vertan.
und eigentlich find ich es ein bissl peinlich, wenn ihr so tut, als wäre die katholische kirche up to date. deinen segen verteilst du jetzt nicht mehr nur altmodisch, in dem du die leute in form von weihrauch mit feinstaub belastest, nein, du versendest ihn per sms. in der straßenbahn hab ich ständig das ave maria als jamba-klingelton gehört, grausam war das. nur ein älterer herr, der hatte wenigstens die gregorianischen choräle drauf ;-)
kürzlich hab ich mich im second life rumgetrieben, weil mein erstes mir grad ein bissl langweilig war. und weil ich neugierig war, hab ich auf holy church – the ultimative adventure geklickt. Ich bin gefragt worden, ob ich schon älter als 18 bin. eh klar bin ich das, viel älter. so wurde ich zeugin einer online-hexenverbrennung. was hat die frau denn getan, hab ich den geifernden nachbarn gefragt, dabei kannte ich die antwort ohnehin. sie hatte lust am leben.
nur so zum spaß hab ich auch auf „confessional“ (also beichtstuhl) geklickt. das war irgendwie voll super. so ein multiple-choice-test. gelogen? aber ja doch. eitel gewesen? selbstverständlich. wollüstig? ohhhh ja. neidisch? ähm. tja. leider. die sonntagszeitung geklaut? ich meine, wer klaut die nicht?
ich hatte acht von zehn punkten. *lächelt stolz*
bereust du?, wurde ich gefragt. ich habe natürlich „nein“ geklickt, weil es eh niemandem etwas nützt, wenn ich bereue. tschack, flog ich aus der kirche, direkt auf den scheiterhaufen.
puh, da wurde mir ganz schön heiß. aber ich hatte noch eine chance.
widerrufst du?, tönte eine stimme aus dem off.
ich wusste nicht, was ich schon wieder rufen sollte und hab auf „delete“ gedrückt. und siehe da. sie waren alle weg, meine sünden. meine schwarze seele war weiß gewaschen.
(galileo galilei wäre begeistert gewesen, hätte das mit der erde damals auch so einfach funktioniert. klick – und schon bewegt sie sich nicht mehr.)
vielleicht lag das ja aber auch an den ablassscheinen, die man jetzt bei ebay ersteigern kann. die sind schon ziemlich verblasst, weil es sich um original ablassscheine aus dem mittelalter handelt. dort steckt die kirche nämlich immer noch fest. trotz computerrosenkränzen und handy-segen.
ach ja. eine schöne heimreise wünsch ich dir noch. und ein bissl sonne, denn das hast du ja nicht wirklich hingekriegt mit dem wetter, nicht mal mit seiner hilfe. geh zurück auf deinen heiligen stuhl. * und tschüs.
die barbara
* ich hab mich nicht getraut „geh ein bissl scheißen“ zu schreiben. so redet man schließlich nicht mit dem holy paps.
testsiegerin - 8. Sep, 16:27
Ich weiß, diese Miss-Geschichte ist ein bissl kitschig und rührig. Ich bin auch manchmal kitschig und rührig. Drum stell ich sie trotzdem rein.
"Ihre Tochter hat eine seltene Missbildung des Herzens", sagte der Arzt zur neugeborenen Mutter. "Das Herz ist zu groß. Es hört nicht auf zu wachsen. Ich fürchte, Sie wird die nächsten Jahre nicht überleben."
Die Mutter reagierte, wie alle Mütter reagieren würden. Sie fluchte, sie weinte, sie haderte. "Warum ausgerechnet sie!" brüllte sie, und "warum ausgerechnet ich?", bekam aber keine Antwort.
Der Vater blickte in die Ferne und murmelte: "So weit sind wir also schon. Es ist gefährlich, in dieser Welt ein großes Herz zu haben."
Das kleine Mädchen verhielt sich wie die meisten Kinder. Es wachte und schlief, schaute neugierig in die Welt und lächelte. Mit ihren Blicken trocknete sie Tränen, mit ihrem Lächeln berührte sie Seelen und machte harte Herzen weich. Zufrieden wandte sie sich dem Leben zu.
Das Mädchen mit dem großen Herzen, wie es von allen genannt wurde, war eine große Lehrmeisterin. Es lehrte die Menschen, ihr Schicksal anzunehmen und nicht dagegen anzukämpfen. Wenn es lachte, und es lachte oft, dann hörten die Menschen auf zu hadern und begannen zu lieben.
Das Kind. Sich selbst. Das Leben. Die Zufriedenheit im Land wuchs, und das Glück tat es ihr gleich.
Aber auch das Herz des Mädchens wuchs und wuchs, bis es schließlich keinen Platz mehr in dem kleinen Körper hatte.
Die Trauergäste trauerten, weinten und lächelten.
Miss Herzensbildung, stand auf dem kleinen Grabstein.
und hier:
http://whatamiss.vo-agentur.de/ könnt ihr eure eigenen miss-geschichten veröffentlichen. oder für die, die es schon gibt, abstimmen.
testsiegerin - 6. Sep, 21:44
Die Industrie, genauer gesagt die Industriellenvereinigung in Österreich, begrüßt eine Hinaufsetzung des Pensionsalters.
Wo aber sind sie, die Jobs für die Alten?
„Sie haben sich also bei uns als administrative Mitarbeiterin beworben, Frau ...“
„Koppensteiner. Konzstanze Koppensteiner.“
„Wie Sie wissen, sind wir einer der weltweit führenden Managementberatungs- und Outsourcing-Dienstleister. Unser Beratungsbereich im Supply Chain Management braucht Unterstützung im Sekretariat. Haben Sie denn Berufserfahrung?“
„Allerdings. Nach der Lehre zur Bürokauffrau war ich bei einem Hutmacher für die Buchhaltung zuständig. Danach hab ich drei Kinder gekriegt und fünfzehn Jahre beim Konsum im Büro gearbeitet. Anschließend war ich einige Jahre arbeitslos und später hab ich Umschulungen und Computerkurse besucht.“
„Sie sind ...“, Müller blätterte in der Bewerbungsmappe, „... Sie sind 69, wenn ich richtig lese?“
„Sie lesen richtig.“
„Das ist schön, Frau Koppensteiner. Wenn Sie da drüben schauen, unser neuer Dachdecker ist 67. Gut, er stolpert hin und wieder, aber das bekommt er bestimmt noch in den Griff. Wir freuen uns immer über ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und nehmen gerne in Kauf, dass die unserem Unternehmen ein Vielfaches kosten, mehr Urlaubsanspruch und in der Regel längere Krankenstände haben. Aber dafür haben wir Verständnis, wir werden ja schließlich alle einmal alt. Sie müssen wissen, wir schätzen die Weisheit und Lebenserfahrung, die Menschen in diesem Alter mitbringen. Vor allem aber ihre Gelassenheit.“
Konstanze strahlte gelassen. Da hatte sie ja Glück gehabt.
„Sie haben wohl nicht vor, noch mehr Kinder zu bekommen, oder?“
„Um Gottes Willen.“
„Sehen Sie, das ist einer der vielen Vorteile von älteren Arbeitnehmerinnen. Sie gehen nicht in Karenz, leiden nicht unter PMS und Menstruationsbeschwerden und haben keine Betreuungspflichten mehr.“
Konstanze verschwieg ihre pflegebedürftige Mutter und die Enkelkinder. Sie brauchte den Job, der mickrige Unterhalt ihres Exmannes reichte gerade für das Nötigste und bis zur Pension dauerte es noch fünf Jahre.
„Wo liegen denn so Ihre Stärken, Frau Koppensteiner? Warum soll ich Sie den anderen hundertfünzig Bewerbern vorziehen? Schließlich ist auch unter denen knapp die Hälfte weit über Sechzig.“
„Ich schaffe 320 Anschläge in der Minute.“
„Alle Achtung. Ein Terrorist würde Sie beneiden“, witzelte Müller.
„180 Silben in der Minute in Stenographie. Und ich kann Kurrentschrift lesen und schreiben.“
„Das ist wirklich wunderbar. Diese vom Aussterben bedrohten Fertigkeiten benötigen wir in unserem Unternehmen ganz dringend. Haben Sie einen Führerschein, gnädige Frau?“
„Nicht mehr. Ich musste ihn voriges Jahr abgeben, wegen der Augen.“
„Ach, das ist überhaupt kein Problem für uns. Wir stellen Ihnen da gerne unseren Chauffeur zur Verfügung, der Sie täglich abholen und wieder nach Hause bringen wird. Welche Zeit würde Ihnen denn passen?“
Konstanze musste nicht lange überlegen. „Halb neun?“ Da könnte sie ihre Enkelkinder noch zur Schule begleiten.
„Frau Koppensteiner, Sie haben den Job. Ich freue mich, Sie als neue Mitarbeiterin begrüßen zu dürfen.“
testsiegerin - 31. Aug, 20:26
Unverschämt
dein Lachen
über das ich ahnungsvoll stolpere
Behutsam
deine vertrauten Hände
in die ich dir gefallen will
Trunken
wir beide
und mit weichen Knien
Stabil
nur der Bauernschrank
Press mich dagegen
fester bitte
testsiegerin - 30. Aug, 18:24