bg

Sonntag, 20. Januar 2008

Alles wird Hut

„Bitte die Fahrscheine vorweisen!“
Charlotte Paulsen streckte dem Schaffner die beiden Tickets entgegen.
„In Bologna müssen Sie umsteigen. Ich wünsche den Herrschaften eine angenehme Reise.“
Das wünschte Charlotte sich auch. Dreizehn Stunden Anreise im Zug und zwei Tage Aufenthalt in Alessandria lagen vor der Geschäftsführerin von Hab & Hut. Fliegen wäre natürlich schneller und bequemer gewesen, aber Charlotte litt unter entsetzlicher Flugangst. Sie litt auch unter Bauchweh vor der gemeinsamen Reise mit ihrem Hutdesigner, aber Herr Heinrich Hab, der Firmenbesitzer, hatte darauf bestanden, dass sie gemeinsam die Modistenmesse besuchten.
„Waren Sie schon mal im Piemont?“ Ludger Safranski bot ihr einen Kaugummi an.
„Nein, noch nie. Es ist ja auch die erste Hutmesse in Alessandria.“
Anlass der Messe war der 175. Geburtstag von Giuseppe Borsalino, dem Begründer der berühmten Hutfabrik.
„Es gibt aber doch sicher aufregendere Gründe ins Piemont zu reisen als eine Hutmesse.“
„Da haben Sie Recht.“ Charlotte Paulsen repetierte ihr Reiseführerwissen. „Skilaufen in Sestriere. Romantische Bootsfahrten auf dem Lago Maggiore. Trüffelsuche in der Langhe. Mode-Shopping in Turin.“
Den aufregendsten Grund, warum sie hier und jetzt ins Piemont reiste, verschwieg sie aber. Der saß ihr gegenüber und hielt ihr noch immer einen Kaugummi entgegen.
„Nein danke, ich kaue nicht. Davon bekomme ich Muskelkater im Kiefer. Waren Sie schon mal dort?“
„Ja. In Turin.“ Er schaute zu Boden.
„Und?“
„7. März 2006.“ Ludger Safranski winkte ab.
Oh je. Offensichtlich war an diesem Tag in Turin etwas Schlimmes passiert. Vielleicht war seine Verlobte mit einem Italiener durchgebrannt. Oder sein brandneues Cabrio hatte im norditalienischen Verkehrsgewühl einen Totalschaden erlitten. Und er hatte dabei womöglich noch einen Menschen überfahren. Charlottes Magen krampfte sich zusammen. Aus Mitgefühl einerseits, andererseits aber auch, weil sie jetzt nicht bis Venedig traurige Geschichten hören wollte.

„Das tut mir leid“, sagte sie, ohne eine Ahnung davon zu haben, was ihr überhaupt leid tat.
Er nickte. „Ja, mir auch. Werder war die bessere Mannschaft. Und dann lässt Wiese kurz vor Schluss einfach den Ball fallen. Unglaublich.“
Charlotte atmete auf. Nicht etwa, weil sie gern über Fußball redete. Aber lieber über Fußball als über Verblichene oder Verflossene.
„Ich wusste nicht, dass Sie ein Fan von Werder Bremen sind. Ich dachte, Sie stammten aus dem Ruhrgebiet?“
„Aus Paderborn. Das ist zwar Westfalen, aber nicht im Ruhrgebiet.“
Sie errötete leicht. Dabei war ihr klar, dass auch Ludger Safranski noch vor einem Jahr St. Pölten für ein Zentrum des alpinen Schitourismus gehalten hätte. „Und Paderborn liegt bei Bremen?“
„Global betrachtet schon. 250 Kilometer sind ja keine Entfernung. Wir sind nach Bremen gezogen, als ich zwölf war.“
Charlotte überlegte, wie er wohl mit zwölf ausgesehen haben mochte. Hatte die Nase schon damals so viel Platz in seinem Gesicht eingenommen? Waren die Haare so struppig in alle Richtungen gestanden wie jetzt? Oder hatte Mama Safranski dafür gesorgt, dass sie stets sorgfältig frisiert und gescheitelt waren?
„Wollten Sie schon damals Hutdesigner werden?“
„Nein. Ich war fantasielos, wie alle Jungs in dem Alter. Ich wollte Mittelstürmer bei Ajax Amsterdam werden.“ Er grinste. „Amsterdam lag nämlich auch so gut wie um die Ecke. 350 Kilometer sind ja keine Entfernung.“
Zwischen Charlottes und Ludgers Augen lagen etwa neunzig Zentimeter. Und Charlotte konnte nicht sagen, ob ihr das zu weit entfernt oder zu nahe war.

Seit fünf Monaten spielten die beiden nun bereits mit der Distanz und mit der Nähe. Schon am ersten Tag hatten sie einander sympathisch gefunden, als Heinrich Hab sie als „Frau Paulsen“ und „Herr Safranski“ vorgestellt hatte. Eben dieser Heinrich Hab, der in seiner Firma kein Techtelmechtel zwischen seinen Mitarbeitern duldete, der sogar den eigenen Neffen aus der Firma geworfen hatte, weil der sich mit dem Lehrmädchen auf dem Donauinselfest getroffen hatte. Er wünschte es auch nicht, dass einer seiner Hutmacher eine Vorgesetzte duzte. Ludger war es seit der Kindheit gewohnt, sich mit dem Gebaren der Obrigkeit zu arrangieren, ohne deren Ansichten zu übernehmen. Schließlich hatte er die streng katholische Grundschule am Paderborner Dom besucht und war dennoch zu einem gesunden Jungen herangereift. Charlotte arbeitete seit einundzwanzig Jahren in der Firma und fühlte sich ebenfalls jung, reif und gesund.
Sie hielten sich brav an die Regeln und legten umso mehr Betonung auf das „Sie“, je näher sie sich kamen. Seitdem sie erfahren hatten, dass sie gemeinsam nach Italien fahren würden, betonten sie ganz besonders nachdrücklich.
Es knisterte.
Ludger wühlte in seiner Sporttasche und brachte eine Packung Erdnusslocken zum Vorschein.
Charlotte lehnte ab. „Von Erdnüssen bekomme ich so ein Kratzen im Hals.“
„Klar. Darf ich Sie etwas fragen?“
„Wenn es sich nicht um das Ergebnis eines Champions League-Finales handelt, gerne.“
„Sie sind Geschäftsführerin einer Hutfabrik und ich habe Sie noch nie mit einem Hut gesehen. Tragen Sie keine Hüte?“
„Würden Sie eine ähnliche Frage auch stellen, wenn wir in einer Fabrik für Unterwäsche beschäftigt wären?“ Sie amüsierte sich über sein Erröten. Gleichzeitig ermahnte sie sich, nicht zu weit zu gehen. Natürlich hatte sie Spaß daran, mit einem um zehn Jahre jüngeren und spannenden Mann zu flirten. Natürlich hatte sie Lust auf mehr. Auf seine Entwürfe und Trendansagen konnte sie sich verlassen, aber auch auf seine Diskretion? Eine kleine Bemerkung hier, ein verräterisches Lächeln da, und schon wäre ihr Job beim Teufel. Das war kein Mann wert.
„Soll das etwa heißen, Sie tragen keine Unterwäsche?“ Ludger hatte die Fassung schnell wieder gefunden.
„Interessiert Sie das?“ Sie genoss den Blick in seine dunklen Augen.
„Ja.“
Plötzlich war alles dunkel, nicht nur seine Augen. Der Zug war in einen Tunnel eingetaucht. Wie nah mochte er jetzt sein? Sie hielt den Atem an. Der Zug schaukelte sie sanft hin und her.
Er saß im Dunkeln und wagte nicht, sich zu rühren. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er spürte den Blick von Heinrich Hab im Nacken, die strengen Augen, die ihn durch die unfehlbare schwarze Hornbrille beobachteten, hier im stockfinsteren Zug zwischen Bruck und Leoben.
Genauso plötzlich, wie es zuvor dunkel geworden war, wurde es jetzt hell.
Charlotte begann wieder zu atmen und schaltete einen Gang zurück: „Sie haben mich vorhin gefragt, warum ich nie Hüte trage.“
Ludger zog die Augenbrauen hoch und schmunzelte. „So? Habe ich das?“
„Haben Sie.“
Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Pssst. Sagen Sie nichts. Lassen Sie mich raten: Sie glauben, Sie haben kein Hutgesicht?“
„Ich glaube nicht. Ich weiß.“
Er zog Zeichenblock und Stift aus der Tasche. „So ein Unsinn. Jede Frau hat ein Hutgesicht. Es passt nur nicht jeder Hut zu jedem Gesicht. So wie nicht jeder Deckel auf jeden Topf und nicht jeder Spieler in jede Mannschaft passt. Oder können Sie sich Ronaldinho bei Zhenis Astana vorstellen?“
„Wer ist Zhenis Astana?“
„Kommen Sie näher“, lockte er sie und sie kam näher.
„Zhenis Astana ist kasachischer Fußballmeister“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Schade. Ich hatte gehofft, Zhenis Astana wäre eine aufregende Frau.“
„Du lieber Himmel. Was sollte eine schöne Frau von Ronaldinho wollen?“ Ludger kaute zur Illustration mit Hasenzähnen auf der Unterlippe.
„Muss eine Frau denn schön sein, um aufregend zu sein?“ Auch Charlotte biss sich auf die Unterlippe, was allerdings sehr viel attraktiver wirkte.
„Es gibt Frauen, die sind schön und aufregend.“ Mit geübten Strichen skizzierte er ihr Gesicht.
„Gibt es die?“
Er hörte auf zu zeichnen und blickte ihr tief in die Augen. „Ja.“

„Ist hier noch frei?“ Eine Dame, die vor fünf Jahrzehnten schön und aufregend gewesen sein mochte, betrat das Abteil.
„Ja, natürlich.“ Ludger legte Stift und Papier zur Seite und wuchtete den Koffer der Frau auf die Gepäckablage. „Kompliment zu Ihrem Hut“, sagte er anerkennend, „der Stetson steht Ihnen wirklich gut.“
Die Dame nahm gerührt neben Ludger Platz. „Wissen Sie, ohne Hut fühle ich mich irgendwie nackt.“
Ludger lächelte triumphierend. „Meine Rede. Man behauptet sich leichter, wenn man sich be-hauptet.“
Charlotte richtete sich auf. „Ich behaupte ja gar nicht das Gegenteil. Ich finde Hüte sehr schön. Es ist nur wegen des Hutgesichts.“
Sie wusste nicht, ob sie der Frau für ihr Auftauchen böse oder dankbar sein sollte. Böse, weil sie die angenehme Spannung unterbrochen hatte, oder dankbar, weil sie ohne es zu wissen dazu beitrug, dass zwei Menschen ihren Arbeitsplatz behielten.
„Darf ich Ihnen ein Schweizer Konfekt anbieten?“ Die alte Dame hielt Charlotte ein Holzschächtelchen unter die Nase.
„Das ist ganz lieb“, lehnte Charlotte ab, „aber ich bin allergisch auf Kakaobutter.“
Die Dame verzog das Gesicht, als litte Charlotte unter einer unheilbaren Krankheit, was bei einer Kakaobutterallergie vermutlich auch der Fall war. Ihre Miene heiterte sich aber rasch wieder auf, als Ludger begeistert zugriff.
„Darf ich Ihnen im Gegenzug ein Stück Lübecker Marzipan anbieten?“
„Kommen Sie etwa aus Lübeck?“
„Nein, aus Bremen. Aber 200 Kilometer sind...“
„...sind ja keine Entfernung“, ergänzte Charlotte, die sich langsam ein wenig ausgeschlossen fühlte und keineswegs mehr in Betracht zog, dankbar zu sein. „Wohin reisen Sie?“
Das war die höfliche Umschreibung für: „Wann steigen Sie endlich wieder aus?“
„Ich fahre nach Friesach“, lautete die erleichternde Antwort.
„Friesach ist wundervoll“, befand Charlotte, die nun hoffte, die Nacht im Liegewagen mit ihrem Hutmacher allein zu verbringen. Heinrich Hab war nicht nur streng, sondern vor allem auch geizig. Charlotte hatte den Auftrag die Reisekosten so gering wie möglich zu halten. Deshalb auch keine Fahrt im Erste-Klasse-Waggon und kein komfortables Bett im Schlafwagen, statt dessen eine schmale Pritsche in einem Abteil für sechs Personen. So eine Pritsche konnte man gar nicht teilen, selbst wenn man wollte.
Die beiden anderen tauschten Höflichkeiten, Naschwaren und Visitenkarten aus, und Ludger versprach, die Frau Magister demnächst in Friesach zu besuchen. Charlotte mühte sich damit, sich auf ihren Krimi zu konzentrieren.
„Wir erreichen in Kürze Friesach“, befreite die Stimme aus dem Lautsprecher sie von ihren Qualen. „We will shortly arrive in Friesach.“
Ludger half dem Koffer von der Gepäckablage und der alten Frau aus dem Zug. Dann machte er es sich wieder auf seinem Sitz gemütlich, grad so, als ob nichts geschehen wäre. Aus seiner Tasche zauberte er zunächst einen Kühlbeutel und aus diesem wiederum eine Flasche Sekt. Gekonnt entkorkte er die Flasche, ganz ohne Knallen. Charlotte war sofort bereit ihm seine Unaufmerksamkeit während der letzten Stunde zu verzeihen. Er wickelte eine Sektflöte aus einem Tuch. Eine. Er schenkte sich ein und hob das Glas.
„Prost, Frau Paulsen. Auf schöne Tage in Italien.“
Sie konnte es nicht fassen. „Das ist aber freundlich von Ihnen, mir auch ein Gläschen anzubieten“, schnappte sie beleidigt.
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“ Er nippte vom Sekt. „Sie sind doch bestimmt überempfindlich gegen die Perlen, nicht wahr?“
„Warum glauben Sie das?“
„Sie vertragen doch weder Kaugummi, noch Erdnüsse oder Kakaobutter. Ich musste davon ausgehen, dass Sie sich von destilliertem Wasser und sterilisierter Astronautenkost ernähren.“
„So? Mussten Sie das? Und wenn Ihre Annahme nun falsch ist?“
„Machen wir die Probe aufs Exempel.“ Ludger öffnete erneut seine Tasche und befreite ein weiteres Sektglas aus dem Tuch.
„Ich habe übrigens gar keine Allergie gegen Kakaobutter. Ich kann nur die Schweizer nicht leiden, da wollte ich kein Konfekt von dort. Haben Sie vielleicht noch etwas Marzipan für mich?“
„Aber gern. Vorausgesetzt, Sie haben nichts gegen Hanseaten.“ Er goss den Sekt in ihr Glas und schaute sie verführerisch an.
„Wollen Sie mich mit dem Alkohol etwa gefügig machen?“
„Nein. Lieber mit dem Marzipan.“
Charlotte trank Sekt. Erst in kleinen, dann in größeren Schlucken. Der Alkohol erreichte ohne Umschweife ihr Gehirn und prickelte darin. Sie kostete vom Marzipan und leckte sich anschließend langsam die Finger ab, sogar die, die gar nicht damit in Berührung gekommen waren. Ludger saß aufrecht in seinem Sitz, in einer Hand sein Glas, in der anderen die Flasche, aus der er Charlotte hin und wieder nachschenkte. Zwischendurch stellte er die Flasche zur Seite und fütterte sie mit Marzipanhappen, sorgsam darauf bedacht, weder ihre Lippen noch ihre Zunge zu berühren. Charlotte legte den Kopf in den Nacken und strich nun mit dem Zeigefinger vom Kinn abwärts, über ihren Hals, bis zur Perlenkette, mit der sie spielte.
„Sagen Sie mir bitte, wenn Sie so weit sind?“
Sie hielt in ihren Bewegungen inne. „Wie weit?“
„Na gefügig.“
„Möchten Sie etwa wieder eine Probe aufs Exempel machen?“
Sie hafteten mit den Blicken aneinander wie zwei Hypnotisierte und ließen ihren Gedanken schweigend freien Lauf, als der Zug in den Bahnhof von Villach einrollte und neben einer Reklamewand zum Stehen kam.
Seien Sie auf der Hut, lautete der Slogan, und kein geringerer als Heinrich Hab selbst hatte sich als Träger seines eigenen Produktes auf dem Plakat ablichten lassen. Seine grauen Augen drangen tief hinein in das Liegewagenabteil des EuroNight-Zuges Allegro Tosca, der in Kürze Italien erreichen sollte.

Erst als sie die Grenze überschritten hatten, griff Ludger wieder nach Block und Bleistift und setzte sein Werk – noch immer wortlos – fort. Diesen Hut hatte er schon seit ein paar Monaten in seinem Kopf mit sich herumgetragen, auf ihrem Kopf.
Er widmete sich ihren Augen, deren Grün er mit dem Kohlestift in Grauschattierungen auf das Papier bannte. Das linke Lid zuckte und er bemerkte, wie Charlotte versuchte, die Kontrolle zu behalten. Aber in der Tiefe loderte ein Feuer. Seine kühle, souveräne Vorgesetzte brannte. Die Haut über den hohen Wangenknochen glühte. Ihre Lippen blieben zwar geschlossen, aber er konnte genau hören, was sie ihm zuflüsterten. „Ludger“, raunten sie in seiner Fantasie, „berühren Sie mich endlich.“
Und er berührte sie. Auf dem Zeichenblatt. Er verwischte allzu strenge Konturen und ihr Gesichtsausdruck wurde unter seinen Fingern weich und warm. Versunken in sein Modell und das Bild zeichnete Ludger, während Charlotte ihm bewegungslos gegenübersaß und der Zug sich Kilometer um Kilometer Venedig näherte.
„Schon fertig?“
Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den Hut.
„Gibt es so viel an mir zu zeichnen?“
Er lächelte vieldeutig. „Ja. Und nein.“
„Stört es Sie, wenn ich die Augen schon ein wenig schließe?“
„Keineswegs. Schließen Sie nur.“
Und Charlotte schloss die Augen. Hörte das Rauschen des Zuges. Träumte von Venedig und vom Piemont. Von Ludgers Körper und ihrem eigenen. Von prickelndem Sekt, köstlichem Marzipan und gierigem Sex. Ein leichtes Ruckeln riss sie aus den Träumen. Sie fand ihren Körper nicht in seinen Armen, sondern unter einer wärmenden Decke wieder. Ihr gegenüber saß Ludger, schlafend, den Zeichenblock im Schoß. Vorsichtig, damit sie ihn nicht weckte, griff sie danach.

Charlotte sah und staunte. Ein Damenhut ohne Krempe, im 50er-Jahre-Stil mit einer großen, aber schlichten Blume an der Seite, dazu ein schmales Lederbändchen mehrmals lässig um den Hut gewickelt. Wollfilz vom Merinoschaf, bordeauxrot mit weißer Maulbeerseide, hatte er dazugekritzelt. Mit dieser Kopfbedeckung könnte sie sich tatsächlich anfreunden, und nicht nur damit. Er hatte sie schmeichelhaft abgebildet, die Fältchen um Augen und Mund nur angedeutet, und selbst die kleine Narbe am Kinn hatte er dankenswerterweise weggelassen.
Sanft strich sie über die Zeichnung, löste das Blatt aus dem Block, faltete es zusammen und steckte es in ihren Ausschnitt. Sie fragte sich, woher er von dem Muttermal an ihrem rechten Oberschenkel wusste. Aber alles wusste er scheinbar nicht. Sonst hätte er ihre Brustwarzen größer gezeichnet. Den Rest hatte er sich ein wenig schöner als die Realität vorgestellt, fand sie und kroch mit Herzklopfen unter die Decke.

Freitag, 18. Januar 2008

Gulag für Teens

Manchmal wirft jemand in unserem Nachbarland – noch vor Beginn der EM - einen Ball in die Höhe. Dann springt hierzulande jemand auf und versucht diesen Ball – gefüllt mit heißer Luft – zu fangen. Und dann liest man in der Zeitung: ÖVP will Erziehungscamps für jugendliche Straftäter.

Erwartet man von solchen Camps, dass daraus junge Menschen mit Rückgrat hervorgehen, die sich friedlich für Menschenrechte und Umweltschutz einsetzen, die anstatt sich ins Koma zu saufen mit ihren Tanten Tee trinken und über Adorno und Fromm diskutieren, oder mit ihren Onkeln Schach spielen und sich in Kontemplationen über das Unendliche in der Mathematik ergehen? Die sich am Abend im Freundeskreis eine Dokumentation auf ARTE anschauen?

Wollen diese konservativen Kreise überhaupt aufgeklärte Menschenrechtsaktivisten und –innen? Oder wünschen sie sich nicht klammheimlich, dass in solchen Lagern Menschen geformt werden, die Zucht, Ordnung und Gehorsam für die wesentliche Werte im Leben halten?

Die Strategie ist schlau (man könnte auch sagen: perfide):
Man tut jahrelang alles dafür, dass die Kriminalitätsrate nicht zu niedrig wird. Sperrt den Jugendgerichtshof zu, schließt Gendarmerieposten, kürzt die Ausgaben für Prävention, kürzt die Mittel für die Bewährungshilfe, spart Sozialarbeiterstellen ein, schafft entgegen dem Rat von Experten „Outdoortherapien“ mit schwierigen Jugendlichen ab, weil man sie für zu teuer und hält und meint, dass so etwas nichts bringt.
Und siehe da! Die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen steigt. Dann reibt man sich die Hände und schreit nach einer Law and Order-Politik, polemisiert und sammelt mit sibirischen Erziehungscamps Punkte im Wahkampf.
Die gleichen Politiker schreien hier, die gegen Ganztagsschulen sind, in denen man erzieherische Maßnahmen setzen kann. Die gleichen, die Jugendliche aus der Unterschicht noch weiter an den Rand drängen, indem sie zum Beispiel Freizeitangebote in den Schulen kaputtgespart haben.

Junge Menschen brauchen keine Umerziehungslager, sondern Vorbilder. Denn am meisten orientieren sie sich daran, wie Erwachsene sich ihnen gegenüber verhalten. Respekt- und liebevoll, konsequent und verlässlich? Oder autoritär, zynisch, voller Misstrauen und mit totaler Überwachung?

Kinder, deren Vergangenheit ihre Gegenwart und Zukunft kaputtgemacht hat, brauchen Menschen, die auf sie eingehen, nicht solche, die sie verbiegen wollen. Sie dürfen nicht, weil sie einmal Mist gebaut haben, für den Rest ihres Lebens abgestempelt aund ausgegrenzt werden. Sie brauchen geschulte BetreuerInnen, PädagogInnen und ErzieherInnen, geschützte Orte und Zeit. Vor allem brauchen sie Perspektiven und Chancen. Eine Ausbildung, sinnvolle Freizeitbeschäftigungen, Arbeit, Begleitung. Das kostet Geld.
Ein Erziehungslager in Sibirien ist da natürlich billiger.

Werfen Sie den Ball bitte wieder zurück über die Grenze, Herr Missethon. Und werfen Sie bitte ganz, ganz weit. So, dass er nie wieder zurückkommt. So, dass ihm unterwegs die Luft ausgeht.

Freitag, 4. Januar 2008

Sinnfrage

Auf dem Markt wühle ich geduldig mit beiden Händen in warmen gerösteten Kaffeebohnen
Lausche den Synkopen deines Lachens
Vermische das Rot der Paradeiser mit dem Gelb der Zitronen
und male ein Bild aus Glücksmomenten

Zu Hause labe ich mich am Knistern vom Jungrind über dem Feuer
Streichle die Narbe auf deinem Knie
und erfreue mich behutsam an deiner Verletzbarkeit
In deiner Nähe atme ich die Wärme von Zimt und Kreuzkümmel
Koste vom schweren Wein und nehme den Mund zu voll
Das Salz deines Leibes lasse ich mir auf auf der Zunge zergehen
Sehe ungeduldig deinen Hunger wachsen
und verliere das Gleichgewicht

In deiner Halsbeuge wittere ich frisch geliebten Schweiß
und frage:

Welcher unserer Sinne
ist nun der des Lebens?

Donnerstag, 3. Januar 2008

Heldin der Treue

Abenteuer Lust
zerknirscht unter deinen
müden Füßen
Ausgedämpft
der Hunger aufs Leben
still doch ungestillt

Führe mich nicht,
spuckst du der Versuchung ins Gesicht
Pure Lust ist Sünde
verschlammst du
den Quell

Aufrecht und stolz
Gefallen statt fallenlassen
Heldin der Treue
gemeißelt in Marmor

Nur dir selbst
nie treu gewesen

Samstag, 29. Dezember 2007

Darf ich vorstellen? ... Femmes frontales

cover

Hier gibt es einen kurzen Einblick in unser Schaffen:


http://www.youtube.com/watch?v=iP7aK0mMEj0

Wir sind drei Künstlerinnen aus Wien und Niederösterreich. Wir sind femmes frontales*. Frauen, die halten, ohne zu versprechen.
Wir laden zum Lachen, zum Nachdenken und zum Mitfühlen ein. Wir unterhalten tonal, verbal und opal. Mit einer Stimme, die aus dem Bauch kommt, Texten, die berühren und Schmuckstücken, die verführen.

Eleonore Petzel - Musikerin
Eine erdige Stimme, tief aus dem Herzen. Sie erzeugt Gänsehaut auf den Seelen ihrer Zuhörer. Auf der gemeinsamen CD mit mir singt sie nicht nur, sondern flötet auch, zum Teil auf ungewöhnlichen Blasinstrumenten wie einem Kuhhorn.
Gitarrestudium am Mozarteum Salzburg, Gesangsausbildung, zahlreiche Konzerte, Einzelperformances, Komponieren.
Mit Freude unterrichtet sie Gitarre und Gesang an einem Wiener Gymnasium.

Christine Mark - Schmuck
Jedes Stück wartet auf seine Trägerin. Die meisten nicht lange. Sie schmiedet Stimmungen und Gefühle in jeden Ring, jede Kette, jede Brosche.
Autodidaktin seit 1981, seit 1986 freischaffende Künstlerin.
Handwerkliches Können, Mut und Kreativität machen ihre Arbeiten zu etwas unvergleichlich Schönem. Ihre bevorzugten Materialien sind Silber, Gold, Fossilien, Halbedelsteine und Perlmutt.

Barbara A. Lehner - Autorin
hierorts ohnehin bekannt


*frontal = die Stirn betreffend
Frontal, weil wir dem Leben die Stirn bieten. Und das Leben uns. Wir konfrontieren unser Publikum mit unserer und ihrer Lebenslust, unseren Ängsten, Sehnsüchten und Tabus.

Dienstag, 18. Dezember 2007

Sinnfragezeichen

Die Wirbelsäule
hat die Form eines Fragezeichens
Weil das Leben aus Fragen besteht

Wäre sie ein Rufzeichen,
das Leben wäre laut und starr
So hat es zu sein!, würde es uns
in einer Tour niederbrüllen
So und nicht anders!

Wäre die Wirbelsäule ein Punkt
und das Leben eine Antwort
würden wir aufhören uns zu bewegen
Punkt. Ende. Aus.

Die Wirbelsäule ist ein Sinnfragezeichen
und jeder Wirbel eine neue Frage
jede Bandscheibe ein Zweifel

Wer sind wir?
Wohin gehen wir?
Warum bleiben wir?

Indem wir sie stellen
und in Frage stellen
indem wir uns ihnen stellen
richten wir uns auf

Montag, 17. Dezember 2007

Die Ballade vom guten Mann

Ich bin ein guter Mann, Sie müssen mir glauben
Im Frühling füttere ich die Tauben
Im Sommer säubere ich die Gassen
und helf Blinden über einsame Straßen
wenn sie es erlauben

Und wenn in dunkler Winterszeit
die Armut und die Einsamkeit
lassen Seelen und Herzen vereisen
von braven Witwen, Witwern und Waisen
bin ich zur guten Tat bereit

Ich fühle das Leid, das Seelen quält
bring alte Wollsocken und Geld
doch spend ich nicht nur Licht im Dunkeln
damit die Kinderaugen funkeln
Ich bin ein wahrer Weihnachtsheld

Oh gütiger Gebieter, Herr
Es freut mich meine Wohltat sehr
Drum stell mich auf die große Probe
auf dass der Engelschor mich lobe
Und machs mir heuer extra schwer

Mein Wunsch, er wurde nicht verwehrt
und Gott hat mein Gebet erhört
Am Heiligen Abend klopft am Tor
an der Hand vom gütigen Dorfpastor
ein Kindermörder, schwer gestört

An des Mörders and’rer Hand
Gekettet mit des Eisens Band
Einer, der statt zu beglücken
Die Witwen schnitt in viele Stücken
Mir aus der Krone wohlbekannt

Der dritte in diesem trostlosen Bund
ein Drogendealer mit aidskrankem Hund
Der Pastor seufzt: Auch sie brauchen Liebe
nicht nur Verachtung und Peitschenhiebe
So mach ihre dunklen Seelen gesund!

Gesagt, getan, ein Mann, ein Wort
schon ist der Pfaffe wieder fort
Und wirft mich in der Heil’gen Nacht
den Geiern vor um viertel Acht
Aus drei Paar Augen blitzt der Mord

Mir wird ganz angst und mir wird bang
so nimmt das Schicksal seinen Gang
ich teile das Brot, ich teile den Wein
und endlich schlafen die Schurken ein
beim zwölften Glockenklang

Dort schnarchen ihre Mörderseelen
träumen vom Töten, Rauben, Stehlen
Ich aber denke an die Frau’n und Kinder,
die Opfer dieser Menschenschinder
Eine Stimme beginnt mich zu quälen

Erlöse die Welt, so spricht der Herr
folgsam erfülle ich sein Begehr
damit meine Seele wird wieder gesund
erschieße ich die Ganoven plus Hund
mit Vaters altem Jagdgewehr

Im Gefängnishof füttere ich Tauben
träume dabei von Hafturlauben
jeden Advent schmück ich die Zelle
mal Abend für Abend Aquarelle
Ich bin ein guter Mann, das müssen Sie glauben

Sonntag, 9. Dezember 2007

Oscar - Danksagung

Ich danke der Regisseurin für die weibliche Hauptrolle in meinem Leben.
Bei der Ausstattung hast du zwar etwas gespart, aber für ein B-Movie wurde ein in weiten Teilen ansprechender Film daraus. Keine Mainstreamklamaukkomödie, sondern ein sinnlicher, humorvoller, schräger, politischer, emotionaler und poetischer Film. Eine atmosphärisch dichte Lebensgeschichte ohne hohen Anspruch und mit bisweilen eindringlicher Erotik, der an einigen Stellen die Tiefe fehlt.

Danke vor allem für die Auswahl meiner Partner. Manchmal hast du dich zwar im Casting buffen lassen und daneben gegriffen, aber meistens hatte ich das Glück, mit den Besten (und oft Schwierigsten) des Genres zu spielen. Du beweist eine einfühlsame Hand bei der Besetzung der bis in kleinste Nebenrollen hochkarätigen Charakterdarsteller, besonders der starken Frauenrollen in meiner Geschichte.

Das mit witzigen und tiefsinnigen Dialogen gespickte Drehbuch, die tragfähigen Spannungsbögen, und die Dramaturgie verbinden komische und tragische Elemente gekonnt miteinander. In einigen Szenen jedoch gerät die Balance zwischen komischer Ironie, spannendem Plot und unbarmherzigem Lebensdrama ins Wanken.

Danke dem Beleuchter und dem Kamerateam für das großartige Spiel aus Licht und Schatten. Die Kameraeinstellungen charakterisieren sich durch Nähe und Distanz zu den Figuren und der Handlung. Danke, dass ihr manche Szenen weichgezeichnet und andere einfach ausgeblendet habt.
Danke der Cutterin für den konsequenten, aber liebevollen Schnitt. Manchmal waren sie tief, die Schnitte, aber rückblickend muss ich erkennen, dass sie dem Leben oft neue Wendungen und dadurch mehr Spannung gegeben haben.

Ich weiß, es handelt sich nicht um einen Märchenfilm, aber habe ich trotzdem drei Wünsche frei?

Für die gefährlichen emotionalen Actionszenen wünsche ich mir ein Double, eine Emo-Stunt-Frau, sozusagen. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste und möchte mich nicht mehr verletzen und nicht verletzen lassen.

Vom Beleuchter wünsche ich mir, dass er in Zukunft etwas sparsamer mit den Schatten umgeht. Sie tun meiner Herbst-Winter-Depression nicht gut.

Und als Drittes und Letzes wünsche ich mir eine klitzekleine Kleinigkeit: Ein Happy-End. Muss ja nicht so bald sein.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

Web Counter-Modul


Briefverkehr mit einem Beamten
Erlebtes
Femmes frontales
Forschertagebuch
Gedanken
Gedichte
Geschichten
Glosse
In dreißig Tagen um die Welt
Kurzprosa
Lesungen
Menschen
Sex and the Country
Toll3ste Weiber
Vita
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter