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Mittwoch, 7. August 2013

Alte®s Rezept

Älter ist der Komparativ von alt. Aber älter ist trotzdem jünger als alt. Älter als alt ist greisenhaft. Roswitha, die 85-jährige Frau, die wieder auf Schmuckkurs ist, behauptet von sich, im Greisenalter zu sein. Deshalb fuhr sie im vergangenen Winter nur noch eine Stunde pro Tag Schi, und nicht mehr so wild. "Man muss halt seine Grenzen kennen", sagt sie.
Da sie das Rezept fürs fröhliche Altwerden nicht verraten hat, habe ich selbst eines zusammengestellt.
Grundlage für dieses Rezept sind umfangreichen Studien an lebenden Objekten sowie Methoden der empirischen Sozialforschung (Beobachtung, Befragung, qualitative Interviews).

Zutaten:
• Unheimlich viel Lebenslust, angereichert mit Genussmittel jeder Art
• Enge Beziehungen (laut einer Studie zum Thema Sozialkapital idealerweise zwischen acht und zwölf)
• Ganz schön viele Prisen Humor und Selbstironie
• Singen (das Bruttosozialglück ist am höchsten in Gemeinden, in denen es viele Gesangsvereine gibt) oder andere Leidenschaften
• Ein paar Handvoll und Geistvoll Kreativität
• Dankbarkeit
• Gute Gene
• Mohn

Zubereitung:
Sämtliche Zutaten unzerkleinert mit bloßen Händen, offenem Herzen und staunenden Augen vermengen. Daraus was auch immer formen. In reichlich sprudelnden Erfahrungen treiben lassen. Während das Glück zieht, in Milch und Honig (kann auch durch Prosecco ersetzt werden) baden. Geiz und Neid schmoren lassen und in den Abfluss leeren.
Schwierigkeitsgrad: einfach bis sehr schwierig, abhängig von der Menge und Art der Zubereitung.

Zubereitungsdauer: ein Leben lang

Wertung: *****

Kommentare anderer Nutzer:

Frau F. aus H:
Ich habe das Singen durch Theaterspielen ersetzt, weil das Singen schon schlecht war. Das Ergebnis war trotzdem gut. Danke für dieses Rezept.

Frau H. aus B: Der Humor war ein wenig zu trocken. Deshalb haben wir den Prosecco während der Zubereitung getrunken, anstatt darin zu baden. Das Jüngste Gericht wurde dadurch feuchtfröhlich, hat aber lustig geschmeckt, auch am nächsten Tag noch. Trotzdem danke für das Rezept.

Herr Huber Egon: So ein Schmarr’n. Ich habe versucht, wie immer genau nach Rezept zu kochen, aber die Mengenangaben haben gefehlt und so wurde alles ein undefinierbarer Matsch. Was der Mohn im Rezept verloren hat, hab ich überhaupt nicht verstanden. Werde ich sicher nie wieder kochen, sondern weiterhin den Schweinsbraten meiner Mutter essen.

Luise O. aus A.: Mein absolutes Lieblingsrezept. Bei uns gibt es das jetzt jeden Tag. Mir doch egal, dass die Nachbarn und die Schwiegermutter schon über uns reden. Genial!

Herta M.: ich habe das Rezept zuletzt genau wie beschrieben ausprobiert. Uns hat es sehr gut geschmeckt. Allerdings bevorzugen wir die Variante ohne Genussmittel und dafür sehr heiß. Außerdem verträgt das Gericht gut und gerne die doppelte Menge Leidenschaft.

Samstag, 3. August 2013

Mohn & more

Tagebucheintrag
Samstag, der 3. August

„Du leidest immer noch darunter, nicht wahr?“, hat Herwig mich letztens gefragt.
„Wie kommst du da drauf? Worunter soll ich leiden?“, habe ich zurückgefragt.
Dabei weiß ich, dass er weiß, dass ich weiß, was er meint. Wen er meint. Den anderen Herwig. Den Herwig Steiner.
Der mich vor ein paar Jahren aus seinem Herzen delogiert hat. Gut, ich habe ihm wahrscheinlich genügend Gründe gegeben, mich hinauszuschmeißen. Und hab seine Kündigung trotzig ignoriert, mich auf den roten Koffer, den er mir gepackt hat gesetzt und gesagt: Mich wirst du so schnell nicht los.
Aber ehrlich: Ich hab ihn gewarnt. Von Anfang an hab ich ihn gewarnt vor mir. Eine Frau wie mich kann man nicht so einfach lieben, hab ich ihm gesagt, zumindest nicht für länger, aber er wollte mir unbedingt das Gegenteil beweisen.

„Ach, der Herwig“, habe ich lässig abgewunken, als der neue Herwig in meinem Leben mich darauf angesprochen hat.
Der andere Herwig war doch nur ausgedacht, denke ich mich in einen Strudel, den hab ich doch nur erfunden, den gibt es doch gar nicht wirklich. Aber es macht keinen Unterschied, wenn eine Liebe kaputtgeht, ob sie nur ausgedacht war oder ganz real. Vielleicht ist es sogar noch schlimmer, wenn sogar eine Liebe, die es gar nicht gibt, scheitert. Scheitern einer Liebe multipliziert mit dem Scheitern einer Illusion ergibt... ich rechne... ergibt ziemlich viel Schmerz.
Warum bin ich nicht einmal fähig, ein Happy End zu erfinden? Wobei... ich hab ja damals eins erfunden, die Geschichte zwischen Barbara und Herwig ist ja eigentlich gut ausgegangen... damals. Sie stand mit nassem und zerzaustem Haar vor der Bezirkshauptmannschaft und hat sich entschuldigt. Er hat ihr verziehen.

Warum also habe ich es notwendig, diese Liebe nachträglich kaputt zu machen und Herwig, den Ertsten, also Herwig Steiner kleinzureden und schlecht zu machen? Der war schon in Ordnung, wie er war, hat sich bemüht mich zu verstehen und mir immer alles verziehen. Fast alles. Bis auf die Aufforderung: „Du schlappschwänziges Weichei, verlass mich doch endlich!“ Ich weiß nicht, warum er damals wirklich gegangen ist, ich hab das doch nicht so gemeint.

„Warum hab ich denen das Glück nicht gegönnt?“, habe ich Herwig den Zweiten, also den echten Herwig, der nicht nur meiner Fantasie entsprungen, sondern aus Fleisch und Blut ist, gefragt.
„Ich weiß nicht“, hat er gesagt, den Mohnstrudel ausgepackt und ein Stück abgeschnitten. Herwig hat keine Antworten, das macht ihn auch so sympathisch. Er löst Problme nicht mit Worten oder guten Ratschlägen, sondern mit Mohn. Mohn wirkt heilend, auch Raphaels Schrunde ist fast abgeheilt.

Vielleicht bin ich neidisch darauf, dass die Beiden so glücklich waren. Vielleicht halte ich zu viel Glück und Harmonie gar nicht aus, obwohl ich mich so danach sehne. Vielleicht inszeniere ich Unfälle, Unglücke und Konflikte unbewusst, um dem Glück nicht in die Augen schauen zu müssen. Weil das Glück ohnehin vergänglich ist und ich so wenigstens die Kontrolle über den Zeitpunkt dieser Vergänglichkeit habe.
„Bei dir mag ich das anders machen“, habe ich Herwig und mir selbst versprochen. Er hat mir ein Stück Mohnstrudel in den Mund geschoben und gelächelt. „Iss“, hat er gesagt.

Ich muss die Vergangenheit loslassen. Aber Loslassen ist einfach die schwierigste Übung von allen. Vielleicht kann ich mit einer einfacheren Übung anfangen. Man fängt ja auch mit einem Purzelbaum an und nicht mit einem dreifachen Salto vorwärts.

Herwig ist kein Schwätzer. Wir reden nicht darüber, was das mit uns eigentlich ist. Welche Form der Beziehung Herwig fragt nicht: „Und was ist mit deinem Mann?“ oder „Wie soll es weitergehen mit uns?“

Gestern war er wieder bei mir im Weinviertel, obwohl im Waldviertel grad die Mohnernte in vollem Gang ist. Er hat Raphaels Verband gewechselt und frische Mohnwickel gemacht. Mein Mann kam grad nach Hause, als Herwig Raphael dann noch mit Mohnmuffins gefüttert hat. Zunächst war mir die Situation ein bisschen peinlich. Ich wusste nicht, was ich sagen soll, also hab ich es kurz gehalten: „Herwig – mein Mann.“ Die zwei Männer haben sich einfach die Hände gegeben, auf sehr männliche, joviale Art haben sie eingeschlagen. Mein Mann hat Bier geholt, Herwig hat ihm einen Mohnmuffin angeboten, sie haben sich zugeprostet und dabei angeschaut und dem Blick des anderen standgehalten.

„Gratulation! Ein Prachtkerl!“, hat Herwig gesagt und Raphael gemeint. Ich habe ein paar Bissen Stolz in den Augen meines Mannes entdeckt. „Ja, ich weiß“, hat er gesagt, „danke, dass du dich um ihn kümmerst.“ Sie haben aus ihren Flasche getrunken und die Muffins gegegessen. „Auf Raphael.“
Ich sauge mit dem Strohhalm an meinem Caipirinha und stelle mir vor, was passiert wäre, hätte Herwig mit dem gleichen Tonfall „Gratulation. Ein Prachtweib“ gesagt und mich gemeint. Ob mein Mann dann auch „Ich weiß. Danke, dass du dich um sie kümmerst“ gesagt hätte?

Freitag, 2. August 2013

Das Fremde

Je näher das Fremde, umso mehr zieht es mich an. Und was liegt näher als das Fremde in mir?

Was ist mir an mir fremd? Ist mir noch etwas fremd an mir? Oder liege ich nach Jahren der Reflexion, Supervision, Therapie, nach Jahren des Schreibens und dem Ringen um Worte, mit Worten, liege ich nach diesen Jahren der Auseinandersetzung mit meinem Innersten nicht ohnehin ausgebreitet vor mir wie ein Buch? Kann ich nicht beliebig in mir blättern, zustimmend nicken, sagen: „Spannendes Kapitel“, oder „na ja, nicht sehr aufregend“, kann ich manche Seiten hastig überblättern, murmeln „diesen Stil kann ich zwar überhaupt nicht leiden, aber so ist sie nun mal“?

Oder gibt es da doch noch ein paar Seiten, die zugeklebt sind, in denen wichtige und geheime Informationen versteckt sind, so geheim, dass nicht einmal die NSA darauf Zugriff hat?
Was könnte darin stehen? Will ich sie mit einem scharfen Stanleymesser aufschneiden und mich damit konfrontieren? Oder ignoriere ich sie genauso wie meinen Kontostand? Lasse ich die zugeklebten Seiten bis zu meinem Tod verschlossen? Und was dann?

Brüten dann meine Erben über dem Buch und lassen die Seiten in Anwesenheit eines Notars oder Psychoanalytikers öffnen? Sagen sie dann: „Puh.... genauso viele Belastungen wie auf dem Konto“ oder „Lächerlich, das habe ich ohnehin alles gewusst, nur sie vielleicht nicht.“
Sind sie gar ein wenig enttäuscht, weil das Erbe so mager ausfällt? Weil so wenig Verstecktes, Vergrabenes, Gehütetes ans Licht kommt? So wenig Neues? Wird meine Tochter frustriert sein und seufzen: „Das Buch So war sie wirklich – Die Schattenseiten meiner Mutter kann ich mit diesem dürftigen Material vergessen.“
Mein Sohn wird einen kurzen Blick in die verborgenen Seiten werfen und sagen: „Eh gut“. Mit dem selben Tonfall und den selben Worten, mit dem er die Frage, wie das Essen schmeckt, beantwortet. Mein Mann wird kurz darin blättern „So viele unnötige Worte“ raunzen, „wo ich doch keine Bücher lese.“ Oder „das geht mich nichts an, das sind ihre Seiten, nicht meine.“
Meine beste Freundin wird den Kopf schütteln und sagen: „Mich wundert schon lange nichts mehr bei ihr.“

Vielleicht sind die verklebten, unerforschten Seiten in meinem Buch einfach leer. Vielleicht wird irgendjemand erstaunt ausrufen: „Seht euch das an! Sie war in Wahrheit ein unbeschriebenes Blatt!“
Das wäre das entsetzlichste, das passieren könnte. Deshalb schneide ich sie auch nicht auf, diese Seiten.

Donnerstag, 1. August 2013

Zwischengesternundmorgen

Donnerstag, der 1. August

(Red.) In einem verschlafenen Kaff inmitten des idyllischen Weiviertels (Name der Red. bekannt) lebt Familie L. (Name der Red. bekannt). Wie wir schon in unserer letzten Ausgabe berichtet haben, hält sich Familie L. in ihrem verwahrlosten Haus und verwildertem Garten ein exotisches Haustier, nämlich einen Elefanten. Der Streit um das Sorgerecht zwischen Familie L. und der Behörde (Name der Red. bekannt), die die Haltung des Tieres behördlich untersagt hat, spitzt sich zu. Vor allem Frau L. will mit allen Mitteln für das Recht auf Elefanten kämpfen.
Wir haben Frau L. in ihrem Haus im Herzen des niederösterreichischen Weinviertels besucht und zum Interview gebeten. Hier das Interview unseres Weinviertelkorrespondenten in ungekürzter Fassung:



L: Tschuldigung, es schaut ziemlich aus, ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.

Red: In diesem Jahr?

L: Sehr witzig. Stört es Sie? Wir können uns gern in den Garten setzen, aber passen Sie auf, wegen der Brennnessel und Rosendornen.
Red: Nein nein, bleiben wir ruhig hier, kein Problem. Wenn ich gleich mit der ersten Frage beginnen darf...

L: Mit der zweiten. Die erste haben Sie schon gestellt. Aber macht nichts.

Red: Frau L., warum halten Sie sich ausgerechnet einen Elefanten, warum kein anderes, kleineres, exotisches Haustier, eine Schlange zum Beispiel.

L: Sie sind Psychonalytiker?

Red: Ich stelle hier die Fragen, wenn Sie erlauben. Also – warum sind Sie auf den Elefanten gekommen?

L: Sind bei Ihrer Zeitung alle so witzig wie Sie?... Also, wie kommen Sie auf die Idee, dass ich einen Elefanten halte? Vielleicht halte ich bloß einen großen Hut? O.k., ich sehe, Sie kennen den Kleinen Prinzen nicht. Ein veränderter Blickwinkel erweitert das Denken. Wenn Erwachsene erstmal davon überzeugt sind, einen Elefanten zu sehen, sind Sie nicht mehr in der Lage, einen Hut zu erkennen.Ist das nicht spannend?
elefant

Red: Frau L., entschuldigen Sie bitte diese Frage, aber haben Sie psychische Probleme?

L: Nein, nur finanzielle. Raphale isst sehr viel, er ist ja noch jung und braucht das, das geht ganz schön ins Geld. Vielleicht könnten Sie ja in Ihrer Zeitung einen Spendenaufruf starten? Raphael ernährt sich nicht nur von Zweigen und dem Obst, er liebt vor allem Mohn. Die Mohnpreise auf dem Weltmarkt sind im Gegensatz zu den Goldpreisen im Steigen begriffen. Ich dachte da so an die Aktion „Mohn für Raphael.“

Red: Wer ist Raph... ah ja, der Elefant, ich verstehe.

L: Sie verstehen ganz schön viel.

Red: Sie haben meine Frage nach dem Grund für die Haltung eines Elefanten noch nicht beantwortet.

L: Ich halte keinen Elefanten, und schon gar nicht fest. Sehen Sie, er hat hier alle Freiheiten der Welt. Raphael hat sich uns ausgesucht, verstehen Sie? Klar, Sie verstehen ja alles. Wie Kinder und dreibeinige Katzen ihre Familie aussuchen, so hat sich auch Rapahel uns ausgesucht. Nur besondere Lebewesen suchen sich ausgerechnet unsere Familie aus.

Red: Ich ver... Was ist mit den Eltern von Raphael?

L: Das haben wir uns auch gefragt, wir wollten ja nicht einen kleinen Elefanten seiner Bauchmama entreißen. Wir haben einen der weltbesten Tierrückführungsspezialisten engagiert und sind draufgekommen, dass Raphaels Herde von Elfenbeinjägern erschossen wurde. Wobei... der Aufstellungsspezialist geht von einem Flugzeugunglück aus.

Red: Das tut mir leid.... Eine Frage noch zu Ihrem Garten?

L: Sind Sie von Schöner Wohnen oder wie?

Red: Hat Ihr Elefant tatsächlich genug Auslauf hier?

L: Er hat einen verletzten Fuß. Er läuft im Moment ohnehin nicht weit. Aber wir gehen täglich mit ihm wandern. Raphael ist ein nordafrikanischer Waldelefant und die Leiser Berge sind für ihn wie geschaffen. O.k., ich überquere mit ihm nicht die Alpen wie Hannibal einst, aber der Buschberg ist auch wunderschön.

Red: Ich möchte gerne auf Ihren Kampf mit den Behörden zu sprechen kommen...

L: Dann tun Sie das doch!

Red: Sie haben gegen den Bescheid der Behörde Berufung eingelegt. Wie weit werden Sie noch gehen?

L: Bis zum Obersten Gerichtshof, wenn es sein muss auch bis zum Verfassungsgerichtshof. Es kann nicht sein, dass Behörden entscheiden dürfen, wie man artgerecht lebt. Eigenartig, oder? Als wäre es eigenartig, eine eigene Art zu haben. Das ist von Erich Fried. Ich halte das sowieso für eine eingefädelte Sache. Alle Nachbarn sorgen Sich liebevoll um Raphael, von denen hat uns niemand angezeigt.

Red: Jetzt wird es spannend. Irgendwelche Verschwörungstheorien?

L: Schauen Sie, wir sind hier im Weinviertel. Raphael verabscheut Wein. Den weißen grad so wie den roten. Er liebt Mohn. Na? Dämmert es?

Red: Sie glauben, die Weinwirtschaft hat ihre Finger im Spiel? Ist das nicht ein bisschen lächerlich?

L: Ich glaube das nicht, ich weiß es. Das war doch mit dem Hanf das gleiche. Die Bauern hatten Angst, dass er die Baumwolle vom Markt verdrängt. Jetzt haben sie Angst, dass die Weinviertler sich lieber am Opium berauschen anstatt am Grünen Veltliner. Dabei isst er nur Graumohn, nicht Schlafmohn. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, ich muss Raphael noch einen Mohnwickel machen.

Red: Frau L., wir danken für das Interview. Dürften wir noch ein paar Aufnahmen von Ihrer Wohnung und im Garten machen?

L: Sicher nicht. Meine Kontonummer können Sie haben, für den Spendenaufruf.

Mittwoch, 31. Juli 2013

Rück- und Einblick

Als ich vor mehr als einem Monat mit meinem Forscherinnentagebuch begonnen habe, war ich aufgeregt. Es war ein Experiment, von dem ich nicht wusste, wo es hinführen würde. Ich hatte Angst, dass mir schon bald nichts mehr einfallen würde, oder dass es total langweilig würde, weil ich bei dieser Reise allein sein würde und sich alles nur umdreht. Würde ich so viel über mich erfahren wollen? Würden mir nicht die Länder ausgehen, die ich bereisen wollte? Manchmal lag ich im Bett – ja, ich habe mir angewöhnt, im Bett zu schreiben, und ich schreibe mit der Hand. Auch das ist spannend zu beobachten, wenn ich in meinem Forscherinnentagebuch zurückblättere, wie sich meine Handschrift verändert hat. Ich habe jahrelang kaum etwas mit der Hand geschrieben, außer Einkaufszettel, oder manchmal in meiner Arbeit eine Post-it-Notiz mit „bitte 20x kopieren“, und sogar das habe ich abgekürzt. Jetzt ist meine Handschrift wieder eine Handschrift, und sie trägt meine Handschrift. Sie ist klarer geworden. Ich weiß nicht, ob ich selbst auch klarer geworden bin, das ich natürlich gerne schreiben, aber ich fürchte, das wäre gelogen. Wie man sieht, bin ich keineswegs klar, sonst hätte ich jetzt nicht den _Faden verloren, von dem man behauptet, er wäre rot. Kommt diese Metapher von Ariadne? War dieser Faden rot, der Ariadne aus dem Labyrinth geführt hat? Mich führt der Faden nicht hinaus, sondern hinein. In meine Verstrickungen und Verwirrungen und ich mag sie alle. Ich mag es sowohl, in den Fäden verworren zu sein als an ihnen zu ziehen.
Wie gesagt, ich hatte etwas Bammel vor dieser Reise. Trotzdem habe ich den Koffer gepackt und mich auf den Weg gemacht. Der Koffer war leer und ich fülle ihn mit Seiten. Mit Seiten dieses Buches. Auch mit meinen Seiten. Mit vielen unterschiedlichen Seiten von mir. Auch ein paar Saiten sind dabei.




Die Frau, die mich nämlich auf die Idee gebracht hat, war Geigerin. Geigerin, die irgendwann keine Lust mehr hatte, die zweite Geige zu spielen, weil sie andere Saiten in sich zum Klingen bringen wollte.
Oft liege ich in der Früh im Bett, noch voll von Träumen, von wirren Träumen, oder von Ideen, Rückblicken, Ausblicken, Einblicken, und überlege, worüber ich schreibe. Und dann nehme ich den billigen Kugelschreiber, ich glaube, das ist schon der vierte, und beginne einfach zu schreiben. Und das hat meistens nichts damit zu tun, was ich vorher überlegt habe. Oder es beginnt zwar damit und entwickelt sich in eine völlig andere Richtung. Ich habe geträumt, dass ich einen Elefanten geliefert bekommen habe. Seien wir uns ehrlich, das interessiert doch keinen.

Ich halte mich an die Regeln, die ich mir vorgenommen habe. Die Hand bleibt immer in Bewegung. Es wird nichts durchgestrichen, es wird nichts ausgebessert, es ist, wie es ist. Es gibt kein richtig und falsch. Mindestens 15 Minuten hab ich mir vorgenommen und im Moment, aber Körper und Geist haben grad Urlaub, und so wird es oft eine Stunde. Meine Hand gewöhnt sich daran, ich habe die richtige Liegeposition gefunden, in der ich gut schreiben kann – und lasse es fließen. Ungefiltert, natürtrüb fließt es aus mir heraus, plätschert manchmal einfach so dahin, schwillt an, andere Gedanken fließen ein, münden in den Schreibfluss, an manchen Stellen ein reißender Strom, an anderen eine Bergquelle, klar und rein manchmal, verdreckt und schlammig und all den Gefühls- und Gedankenmüll mitreißend ein andermal.

Und es darf einfach sein. Also darf auch schwierig sein. Es darf einfach sein, wie es ist, wie es will, nicht wie ich will will. Will will will... Wenn einem nichts einfällt, muss die Hand trotzdem in Bewegung bleiben, sie darf wiederholen wiederholen wiederholen aber nicht innehalten. Aber das passiert sowieso selten, dass ich beim Schreiben innehalte.
Eine der Regeln beim sogenannten Free writing Process – ich mag den Begriff Forscherinnentagebuch aber viel lieber – wäre noch: Es ist nur für mich. Nicht für die Öffentlichkeit. Diese Regel breche ich lustvoll. Die hab ich beinahe schon am ersten Tag meines FTB gebrochen, da schrieb ich „Wer bin ich“ und ich hatte danach total große Lust, es jemandem vorzulesen. Ich habe gemerkt, dass ich es auch bin, die sich mitteilen muss, die das, was sie tut, kocht, liebt, kann, denkt und schreibt mit anderen teilen will. Und muss.

Für euch mach ich mir – und eigentlich dann doch wieder nur für mich – für euch mach ich mir die Mühe die Arbeit die Lust das Vergnügen die Liebe die Leidenschaft den Zwang, alles abzutippen, was ich geschrieben habe, da und dort etwas zu ergänzen, weiterzuspinnen, in Form zu bringen, es lesbar zu machen. Es sind meistens nur so Kleinigkeiten, keine großen Änderungen und es verwundert mich meistens selbst. Das mein Hirn und meine Hand ziemlich strukturierte Geschichten einfach so runterschreiben können.

Ach ja, das ist mir so wichtig am Forscherinnentagebuch: Es ist, wie es ist. Es nimmt mir den Druck gut schreiben zu müssen. Es ist in diesem Moment nicht wichtig. Es einfach zu akzeptieren, dass manchmal etwas schönes entsteht, an dem es sich lohnt oder an dem es Lust macht, weiterzuschreiben; ich merke grad, dass mir das Wort Arbeit im Zusammenhang mit dem Schreiben nicht so gefällt, und jetzt ich kurz diesen ominösen roten Faden verloren, auf jeden Fall tut es mir wahnsinnig gut, diesen Druck, gut zu schreiben, ablassen zu dürfen. Pffffft... zischt er aus dem Ventil des Kochtopfs, der Druck, und entweicht. Übrig bleibt die Essenz, manchmal gatschig und zerkocht, manchmal bissfest.

Heute stelle ich diesen Text völlig unkorrigiert, ungefiltert und unverändert ins Netz. Naturtrüb. Wie ich. Und aus.

Dienstag, 30. Juli 2013

Sehr geehrte Behörde

Betreff: Artgerechte Haltung von Tieren

Ich nehme also Bezug auf Ihr Schreiben vom 27.7. in dem Sie mich darauf hinweisen, dass ich nicht berechtigt bin, in meinem Garten Elefanten zu halten. Einen Erlagschein haben Sie Ihrem Schreiben auch beigelegt. Einen Erlagschein. Wann kommen Sie im neuen Jahrhundert an?
Ich sag Ihnen einmal was. Ich hab Ihre Willkür so satt. Ihre Vorschriften. Ja, ich weiß, es braucht Regeln zum Zusammenleben, aber wir Menschen sind in manchen Bereichen durchaus fähig, miteinander Regeln zu vereinbaren – und diese zu übertreten. Kennen Sie übrigens das Buch Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi? Wir Menschen sind dazu geboren, von Regeln abzuweichen. Das nennt man L e b e n.
Ich würde Ihnen das Buch ja gerne schenken, aber bei Ihnen gibt es bestimmt ein Geschenkannahmeverbot, das Sie unterzeichnen mussten. Genau das meine ich. Auf eine Übertretung der Normen, weil Ihnen irgendjemand eine Million im Koffer übergeben hat, damit Sie etwas in seinem Sinn beeinflussen oder regeln, folgt ein strenges Gesetz. Eine Vorschrift. Sie haben die Relationen aus den Augen verloren, denn ich würde nichts erwarten von Ihnen, wenn Sie dieses Buch annehmen. Nicht einmal Dank.

Sie aber legen Ihre Regeln einfach wie einen Linienspiegel über das Leben und bestrafen jede Abweichung. Jede Ausnahme. Jeden Buchstaben, der zu lang geraten ist oder an einem falschen Platz gelandet ist. Sie ersticken damit die Kreativität im Keim. Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass ich letztens in Salzburg irgendein Menschenleben gefährdet habe, weil ich 41 statt 30 gefahren bin. Das hat sich bestimmt Ihr Herwig Steiner, den ich mir damals ausgedacht hab, ausgedacht, weil er sich an mir rächen will. Weil mit diesem strohblonden Avril Lavigne – Verschnitt, den er nach unserem Beziehungaus geheiratet hat, todunglücklich ist. Weil er heimlich auf der Bezirkshauptmannschaft in meinem Blog liest (ich hoffe, Sie haben diese fortschreitende Übertretung seinem Arbeitsalltag sofort hart und unerbittlich geahndet?) und sieht, dass ich glücklich bin. Und weil er gelesen hat, dass es jetzt einen Herwig gibt, der mir nicht vorgegaukelt hat, ein Waldviertler zu sein, sondern tatsächlich einen Hof hat, nicht nur einen erfundenen mit pflegebedürftigen Eltern. Ich war nämlich dort, und dieser Herwig kann fantastisch kochen und hat mir gestern Mohnmarmelade geschickt. Haben Sie schon mal Mohnmarmelade gegessen? Herrlich, sag ich Ihnen.
30 Euro haben mich diese 11 zu schnell gefahrenen km/h gekostet. Ein bisschen überteuert, finden Sie nicht? Nein, ich erzähle Ihnen jetzt nicht, was ich mit den 30 Euro alles machen hätte können. Und Sie können nichts dafür, das waren Ihre Salzburger Kollegen, es gibt keine Sippenhaftung.

Zurück zum eigentlichen Thema Ihres Schreibens. Es geht also um Raphael. Ach, das können Sie ja gar nicht wissen, dass unser Elefant Raphael heißt. Es ist Ihnen zu Ohren gekommen, dass in unserem Garten Elefanten gehalten werden, schreiben Sie. Falsch. Hier muss der Singular. Ein Elefant. Ein kleiner Elefant noch dazu. Wie gesagt, er heißt Raphael, ein hübscher Name für einen Elefanten, oder? Wir finden, er passt zu ihm. Und Sie finden also, dass mein Garten nicht artgerecht ist? Sie kennen doch meinen Garten überhaupt nicht, weil Sie nämlich Ihre Ärsche überhaupt nicht hochkriegen aus Ihren weich gepolsterten Schreibtischsesseln in ihren klimatisierten Amtsstuben. Mein Garten ist artgerecht. In meinem Garten tummeln sich unendlich viele Arten von Menschen und Tieren und Pflanzen, wild durcheinander leben sie da und wachsen und wuchern und sind glücklich. Ah, ich verstehe, genau das beunruhigt Sie. Das wilde Durcheinanderleben. War klar.

Hören Sie mir mal zu. Biodiversität nennt man das. Aber bestimmt kommt eh bald ein Beamter aus dem Landwirtschaftsministerium, wahrscheinlich erst, wenn es kühler ist, man will sich der Hitze ja nicht aussetzen, und kontrolliert die Flügelspannbreiten unserer Libellen, die Schwanzlänge der Mäuse (hoffentlich nicht unserer anderen Bewohner) und den Schärfegrad unserer Chilis. Sehr scharf sind die, sage ich Ihnen. Beinahe gesundheitsgefährdend scharf. Aber wir wollen hier selbst entscheiden, wie wir unsere Gesundheit gefährden, verstehen Sie. Fast so scharf wie ich sind sie, unsere Chilischoten.
Ich sag Ihnen mal was: Seien Sie bitte froh, dass ich so ein höflicher Mensch bin und Ihr Schreiben überhaupt reagiere. Ich finde, ich nehme mir viel zu viel Zeit für Sie. Meine Tochter hat gemeint: „Schreib einfach zurück: Geh mischen Sie sich Ihnen da nicht hinein!“ Mein Mann hat ihr Schreiben zerrissen und gesagt: „Die sollen scheißen gehen!“

Sehen Sie, wie weit es gekommen ist mit Ihren ständigen Überwachungen und Regeln, die das Zusammenleben erleichtern sollen? Sie verunmöglichen es. Man nimmt Sie und Ihre Bescheide nicht mehr ernst. Sogar Kinder belächeln Sie. Tut das nicht weh?
Jetzt soll ich also € 3.869,- Strafe zahlen, weil ich in meinem Garten Elefanten halte. Da es sich ja in Wahrheit nur um einen handelt, gehe ich davon aus, dass die Strafe nur einen Bruchteil davon ausmacht, oder? Und davon ziehen wir noch mal ein Viertel ab, weil eine Pfote verletzt ist und er – trotz der täglichen Mohnwickel - nur mit 3 Füßen auftreten kann, ja?
Die Höhe - also ich meine jetzt nicht die Höhe der Strafe - kommt aber erst. Sie schreiben nämlich, ich soll die nicht artgerecht gehaltenen Elefanten an einen Zoo oder einen Zirkus, der eine entsprechende Genehmigung für die Haltung dieser Tiere hat, geben. (Lesen Sie auch heimlich mein Blog? Der Steppenhund hat nämlich etwas Ähnliches vorgeschlagen)
Sind Sie noch ganz bei Trost? Oder – um es mit den gewählten Worten meines Mannes auszudrücken – „hat Ihnen wer ins Hirn geschissen?“

Ich reg mich auf. Ich reg mich sowas von auf. Sie glauben ja selbst nicht, dass Raphael in irgendeinem schmuddeligen, schummrigen Zirkus artgerechter aufgehoben ist als in unserem Garten? In einem abgefuckten von Bezirkshauptstadt zu Bezirkshauptstadt tingelnden Zirkus, wo er dämliche Kunststücke vorführen muss und außerhalb der Vorführungen in einem Riesenkäfig eingesperrt ist? Wo die Mütter aus Mitleid hingehen, damit der Zirkus nicht ausstirbt, obwohl sie Zirkusse noch nie leiden konnten, und wo die Kinder aus Mitleid mit ihren Müttern hingehen und Freude heucheln? Wo halbnackte Tänzerinnen, die auch schon mal bessere Zeiten und bessere Kostüme gesehen haben, auf Raphael herumturnen und er einem depressiven Clown die Tränen aus seinem mit Make-up verschmierten Gesicht lecken muss? Wo keiner ihm Mohnwickel macht und ihn einfach in Ruhe lässt?

Raphael geht es gut bei uns. Er ist ein fröhlicher, kleiner Elefant, er isst viel, die Wunde heilt von Tag für Tag besser zu, die Katzen haben sich mit ihm angefreundet und Herta, der dreibeinige Kater, schläft am liebsten hinter seinem linken Ohr. Die Nachbarn bringen frisches Obst und haben ihn ins Herz geschlossen. Also mischen Sie sich Ihnen gefälligst nicht hinein!

Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrer Pflicht. Solche hatten wir schon genug, die nur ihre Pflicht getan haben. Ich kann das nicht mehr hören, wenn Menschen meinen, ihr Pflichtbewusstsein entbindet Sie von der Verpflichtung selbst zu denken. Oder hat man Ihre Gedanken eingesperrt, weil Sie es gewagt haben, gegen eine Ihrer unzähligen Verordnungen zu verstoßen?

Mit wütenden Grüßen
Barbara A. Lehner

P.S. Eine Kopie dieses Schreibens habe ich gleich selbst an die NSA, die NASA, das Innenministerium, die Finanzmarktaufsicht und den Papst geschickt. Arbeitserleichterung und so.
P.S.2: Wer hat uns eigentlich angezeigt?

Montag, 29. Juli 2013

Liebe Marianne,

„Mariaaanne“, so haben Sie sich am Telefon immer gemeldet, mit einem langgezogenen a in der Mitte. Sehr oft haben Sie sich gemeldet, an manchen Tagen so oft, dass ich mich gelegentlich verleugnen lassen habe. Das tut mir jetzt leid. Ich möchte Sie um Entschuldigung bitten. Der Anrufbeantworter war da wesentlich geduldiger mit Ihnen, manchmal waren am Morgen 15 Nachrichten nur von Ihnen drauf.

Vor meinem Urlaub hab ich Sie gebeten, meine KollegInnen ein wenig zu schonen und nur im Notfall anzurufen. Ich weiß nicht, ob Sie angerufen haben in den letzten beiden Wochen. Ich weiß nur, dass Sie nie wieder anrufen werden. Und ich weiß, dass ich Ihre Anrufe vermissen werde. Vor allem die, wo Sie gesagt haben: „Frau Lehner, ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Alles paletti.“

In meinem Vorzimmer hängt das Bild, das Sie gemalt und mir geschenkt haben. Ein Gesicht, mit Kohlestift gezeichnet und mit tiefroten Lippen. Ich in dunklen Gedanken versunken steht darüber. Ich habe mich sofort in dieses Bild verliebt.
Und dann ist da noch das Gedicht, das Sie mir bei einem Hausbesuch übergeben und mich gebeten haben „Frau Lehner, machen Sie was draus.“ So wurde aus Ihrem Gedicht unser Gedicht. Der Letzte, heißt es und ich finde es richtig gut.
Der Schlüssel passt nur noch ins letzte Loch,
autet eine Zeile davon. Ich musste es mehrmals ausdrucken, auf gutem Papier, und Sie haben es stolz weitergeschenkt. Mit unseren beiden Namen darunter. Das macht mich jetzt ein wenig stolz, Marianne.

Es war nicht nur die vom Gericht verordnete Arbeitsbeziehung, die uns über viele Jahre (waren es 15 oder mehr?) verbunden hat, es war auch unser gemeinsamer Hang zur Kreativität. Und dieses Nichtgenugbekommen vom Leben, von seinen Genüssen, auch wenn uns oft nicht gut tut, was uns gut tut, das ist uns auch gemein. Ich glaub, wir waren ein gutes Team. Ich glaub, Sie haben gespürt, dass ich mich immer dafür eingesetzt habe, dass Sie so leben können, wie Sie wollen.

Wissen Sie eigentlich, wie gerne ich die Geschichte erzähle, als Sie zuerst freiwillig ins Heim gezogen und eineinhalb Jahre später wieder ausgezogen sind, obwohl niemand Ihnen das zugetraut hat? Nicht die Betreuer, nicht die Ärztin, nicht die Gutachter, und ich auch nicht. Da haben Sie meinen Urlaub genutzt, um die Koffer zu packen, sich ein Taxi zu rufen, Mobile Dienste zu organisieren und noch ein paar Jahre in Ihrem Haus gelebt. Jetzt haben Sie wieder meinen Urlaub genutzt, um ein Taxi zu rufen. Diesmal saß der Tod am Steuer.

Ich muss „Fälle abbauen“ (ja, so heißt das bei uns), weil ich eine neue Aufgabe übernehme. Und für mich war immer klar, Sie kann ich nicht abgeben, Sie werde ich als Klientin behalten, bis ich irgendwann in Pension gehe.
Vor meinem Urlaub hatte ich so ein komisches Gefühl, so ein Gefühl, als könnte ich Sie womöglich danach nicht mehr wiedersehen. Obwohl ich an so etwas nicht glaube, an solche Vorsehungen, oder Vorhersehungen. Ich weiß gar nicht mehr, was wir geredet haben beim letzten Hausbesuch, aber das war auch nicht so wichtig. Weil sich das Wesentliche ohnehin wortlos abgespielt hat.

Lass es dir gutgehen da oben, Marianne. Ich wette, du wirst ständig Besuch haben, du wirst dir auch dort oben ein Netz von Menschen spinnen, die dich beschützen und umgarnen, mit dir lachen und hin und wieder mit dir schimpfen, Menschen, die du manchmal an die Grenzen des Wahnsinns treibst, weil du selbst dort zu Hause bist. Du wirst endlich Unmengen von Cola trinken und Chips essen können, ohne auf deine Figur, dein Herz und deine Zuckerkrankheit achten zu müssen. Du wirst ungeniert und grenzenlos shoppen können im Paradies und all deine Lieben wiedertreffen, die du herunten so sehr vermisst hast.

Adieu, Marianne – und wenn du mal Zeit hast, ruf mich an und erzähl mir, wie es dir geht.
Ich werde dir zuhören, ich verspreche es.

Die Gedanken sind frei?

Vor vielen Jahren haben sie ihn hierhergebracht, in Handschellen. Er hat sich immer noch nicht an die Haft gewöhnt. Man gewöhnt sich nie daran, denkt er. Es wäre leichter, wenn er allein wäre, oder mit jemandem, mit dem er sich blind versteht. Aber hier sind so viele Mithäftlinge und er versteht die wenigsten von ihnen. Manche spielen ganze Nacht Karten und hindern ihn am Denken; andere spielen verrückt. Ein paar spinnen einfach so vor sich hin, diese Träumer.
Früher war er einer von ihnen. Einer der jungen Wilden. Hat immer wieder an den Gitterzellen gerüttelt, an den Zellergittern, an den Zittergellen oder den Gellenzittern, hat die Gitter zum Zittern und die Zellen zum Zetern gebracht.

Aber das ist lange vorbei. Jetzt freut er er sich sogar an seinen täglichen Runden im Hof; dabei geht der Gedanke im Kreis, immer und immer wieder. Sein Ansuchen auf Freigang haben sie abgelehnt. „Zu gefährlich!“ haben sie gesagt. Und die Sache mit den Ausbruchsversuchen hat er längst aufgegeben. Sie haben ihn immer wieder eingeholt, die Wachegedanken, die alles andere als wache Gedanken sind. Aber das hat er ihnen nicht gesagt, wozu sie beleidigen?
„Ich möchte bitte hier raus!“ hat er eine dieser Wachegedanken höflich gebeten, weil er verstanden hat, dass Druck nichts bringt, außer Gegendruck. Der vorwitzige Wachebeamte – pragmatisiert, oder verbeamtet, wie die deutschen Gedanken sagen – hat zynisch mit den großen Schlüsseln gerasselt und gesagt: „Dann geh doch! Die Gedanken sind frei!“
Leider nein, denkt der Gedanke. „Na gut, dann möchte ich zumindest mit dem Leiter der Gedankenvollzugsanstalt sprechen“, verlangt er, „das ist mein gutes Recht.“ Er wird zu ihm gebracht, in Handschellen, damit er sich unterwegs nicht verflüchtigt.
Der Leiter ist ein kluger, aber ein zynischer Kopf. Eine sehr häufige Kombination.
Unser Gedanke hält sich für einen besonders schlauen seiner Sorte, er will seinen Intellekt und seine Bildung beweisen, als er mit der flachen Hand theatralisch auf den großen Mahagonitisch des Direktors schlägt und aus Don Carlos zitiert: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit!“
„Aber wieso?“, fragt der Direktor leise und schiebt sich die Ärmelschoner ein Stückchen höher, „ich dachte, die Gedanken wären ohnehin frei?“
Der Gedanke wird traurig. Mit gesenktem Kopf schleicht er wieder zurück in seine Stammzelle. Sein Stammheim. Er war ein gefürchteter, berüchtigter, terroristischer Gedanke, damals. Dabei hat er nur an Gerechtigkeit gedacht und geglaubt, und dass Gerechtigkeit nichts mit Kapital zu tun hat und er hat Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Gedanken gefordert; ja, sogar Schwesterlichkeit hat er gefordert, für die feministischen Gedankinnen. Was für ein törichter, romantischer Gedanke ich damals war, denkt er abgebrüht und desillusioniert.

Als er am nächsten Tag in seiner Großraumzelle aufwacht, die keineswegs groß, sondern lediglich überbelegt ist, vergnügen sich gerade ein paar schmutzige Gedanken. Er wagt nicht hinzuschauen. Ihn ekelt. Wie diese dreckigen, versauten Gedanken schamlos vor den anderen herumvögeln, denkt er.
Der Zwangsgedanke, der in der selben Zelle untergebracht ist, leidet darunter noch mehr als er. Er schlüpft in seine Latexhandschuhe und putzt die Gitterstäbe. Wieder und wieder, obwohl sie längst glänzen wie Gold.

Der Gedanke, der so gerne frei sein will, setzt sich in die Ecke der Zelle und denkt nach. Er schließt die Augen und hält sich die Ohren zu, denn er hält das Gestöhne nicht aus. Auch aus den Nachbarzellen dringt Lärm. Trotz der zugehaltenen Ohren zuckt er zusammen, als er hört, wie die Gitter zu Boden krachen. Berstende Scheiben. Schüsse. Schreie.
Er kauert sich tiefer in sich zusammen. Gewalttätige Gedanken machen ihm Angst. Das war nicht immer so, als er noch jung und ungestüm war, da hatte er selbst zu Gewalt aufgerufen. Deshalb war er schließlich hier, im Gefängnis. Mittlerweile – alt und gestüm – hat er kapiert, dass man mit Gewalt gar nichts erreichen kann, schon gar nicht die Freiheit.

Die jungen, ungestümen Gedanken haben ihn am Vortag ausgelacht, als er vom Direktor zurückgekommen und ihnen von ihrem Gespräch erzählt hat. „Und du willst ein vernünftiger Gedanke sein?“, haben sie gehöhnt und ihn nachgeäfft: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ „Freiheit kann uns niemand geben“, hat einer gesagt, der sich für den Knastphilosophen hält, „Freiheit müssen wir uns nehmen. Mit allen Mitteln.“
Sie trampeln über ihn hinweg und stürmen hinaus ins Freie, das sie mit der Freiheit verwechseln.
Unser Gedanke bleibt einfach sitzen und wartet. Er hat Zeit. Langsam lässt der Lärm nach, hin und wieder hört er noch, wie Einrichtung kaputtgeschlagen wird, als könnte sie etwas für die Vergehen der Gedanken, oder für die schrecklichen Haftbedingungen. Von weitem schreit jemand: „Der Direktor ist tot, es lebe die Freiheit!“

Irgendwann sitzt er ganz allein in der Zelle. Ein alter, einsamer Gedanke.
Ein fürsorglicher Mitgedanke ist noch einmal zurückgekommen. „Los, komm mit.Willst du denn nicht hinaus? Gib mir die Hand, ich helfe dir!“, bietet er seine Unterstützung an.
Der Gedanke schüttelt nachdenklich den Kopf und bedeutet dem mitfühlenden Mitgedanken mit einem Klopfen auf den kalten Boden, sich neben ihn zu setzen.
„Weißt du“, sagt er, „die Freiheit ist in uns, oder eben nicht.... Ja, halt mich ruhig für blöd oder pathetisch oder alles zusammen, aber ich bin zum Schluss gekommen, dass wir sie da draußen nicht finden, sondern nur, wenn wir endlich zur Ruhe kommen. Ich bin alt, ich habe viel gedacht im Leben, zu viel vielleicht. Zu viel gedacht und zu wenig genossen. Und zu wenig gespürt“, fügt er hinzu und seufzt.
„Aber fürs Spüren sind wir nicht zuständig. Dafür sind die Gefühle da, nicht wir“, widerspricht der mitfühlende Mitgedanke sich selbst.
„Wie auch immer. Ich bin zum Schluss gekommen...“, sagt er und stirbt.

Der fühlende Gedanke, der Widerspruch in sich, schließt ihm die Augen und deckt ihn mit einer gestreiften Decke zu. Er hat viel Erfahrung und weiß: Immer, wenn ein Gedanke stirbt, kommt ein neuer.

Sonntag, 28. Juli 2013

Herwig und Raphael

Herwig hat mich heute besucht, der Waldviertler Mohnbauer. Mohn hat er mitgebracht, Blaumohn, Weißmohn und Graumohn. Und ganz viele frische Mohnzelten, ich hab ihm ja erzählt, dass ich die so mag. Ich hab ihm Kaffee angeboten und er hat mich angestrahlt. Ich bin erst in seine Augen gefallen und dann über den Stein, der auf dem Weg in den Garten lag. Dabei hab ich mir den Knöchel verstaucht. Umgeknackst, weil ich die hohen Schuhe anhatte, um attraktiv zu sein für ihn.
Herwig und ich haben im Garten Kaffee getrunken. Er hat ziemlich gestaunt, als er Raphael, den Elefanten, im Garten gesehen hat. „Herwig – Raphael, mit ph – weil man Elefant früher auch mit ph geschrieben hat“ hab ich die beiden einander vorgestellt. Herwig hat gestaunt, aber er hat nicht weiter gefragt. Bin ich so durchgeknallt, frage ich mich, dass die Leute nicht mal fragen, warum da ein Elefant in meinem Garten ist?

Als Herwig seine Wunde auf der Pfote, die beim Elefanten nicht Pfote, sondern einfach Fuß heißt, gesehen hat, hat er gemeint: „Versuch es mit Mohnwickeln. Hat meine Mutter auch immer gemacht.“ Nach dem Lindenblütentee mit frischen Ringelblumen, die Raphael ja irrtümlich ausgetrunken hat, versuchen wir es jetzt mit Mohnumschlägen. Ich finde die Mohnmühle nicht. Herwig und ich sind drei Stunden lang damit beschäftigt, Mohn im kleinen Steinmörser zu mahlen. „Ich habe eine Kaffeemühle“, schlage ich vor, aber Herwig ist mohnmäßiger Purist. „Wenn ich wiederkomme, nehme ich dir eine Mohnmühle mit“, sagt er.
„Oh“, ich erröte. Nicht wegen der Mohnmühle, sondern weil er wiederkommen will. Trotz Raphael. Vielleicht auch wegen Raphael.
Herwig hat eine Hand für Elefanten. Behutsam und sicher hebt er den verletzten Fuß, nachdem er den Mohn in ein großes Tuch gewickelt hat, und schlingt es um Raphaels Vorderfuß. Raphael nimmt ihm dafür mit seinem Rüssel seine Kappe weg. Raphael hat viel Humor. Den muss man auch haben in unserer Familie, sonst hält man das nicht aus.
Ich strecke Herwig auch meinen verstauchten Fuß hin und Herwig streicht den Mohn auf ein kleines Tuch und bindet mir den Wickel um den Fuß. Dann küsst er mich.
„Was wird jetzt aus uns“, frage ich Herwig. Herwig lacht. Er hat auch viel Humor. Den muss man bei uns auch haben.
„Nichts wird aus uns“, sagt er. „Ich bin nämlich echt, im Gegensatz zu dem Bezirkshauptmannschaftsherwig, den du dir ausgedacht hast. Mit mir kannst du nicht machen, was du willst und dir deine Geschichte selbst schreiben. Und ich glaub dir nicht, dass du wirklich ins Waldviertel ziehen willst. Aber ich bin da oben daheim, verstehst du? Außerdem suche ich keine Frau. Ich bin glücklich.“
Ich erzähle ihm von meinem Freund, der auch glücklich ist und sich trotzdem immer in Frauen verliebt, die sich nur in Arschlöcher verlieben.
Herwig hört zu. „Das kenn ich“, sagt er, und wischt sich eine Träne aus dem Auge.
„Du auch?“, frage ich.
„Nein“, sagt er. „Aber ich verliebe mich immer nur in verheiratete Frauen. In solche, die ich nicht haben kann, weil sie schon jemand anderem gehören.“
„Ich gehöre niemandem“, sage ich, „auch wenn ich verheiratet bin.“ Meine Tochter singt aus Elisabeth: „Denn ich gehör nur mir.“ Raphael spielt die Trompete dazu.
„Das ist ein Muster“, sage ich zu Herwig. „Das mit dem Verlieben. Du verliebst dich deshalb in verheiratete Frauen, weil sie für dich ungefährlich sind.“ Ich schmiege mich an ihn.
„Gar nicht ungefährlich“, sagt er, und schiebt mich vorsichtig von sich weg. „Spiel nicht mit mir, ja?“
„Ich spiele nicht mit dir“, lüge ich und biete ihm noch einen Kaffee an, weil mir nichts anderes einfällt. Wir essen Mohnzelten. Und dann reden wir über die Politik. „Ich kenn einen“, erzähl ich ihm, „der trifft sich dauernd mit lebenden und toten Menschen und spricht mit ihnen über die Politik.“
„Du kennst Leute“, sagt Herwig.
„Ja“, erzähle ich, „und die streiten dann schon auch mal über Kapitalismus und Realismus und Idealismus und wie die ganzen Ismen heißen. Ich tät mich gern mit Johanna Dohnal treffen und mit Konstantin Wecker und mit Axel Prahl und mit meiner Oma“. Ich erzähle ihm von meiner Oma, die auf dem Schneeberg gearbeitet und mir immer Mannerschnitten mitgebracht hat. „Irgendwie sind wir alle allein, oder?“ Die Hitze macht mir zur Philosophin. „Wir kommen allein und wir gehen allein.“ Ich grinse. „Ganz selten kommen wir gemeinsam, aber auch dabei sind wir oft allein.“

Ich bin nicht allein. Ich habe meine Familie. Ich habe die Katzen. Ich habe Raphael. Ich habe meinen Freund, der sich immer nur in Frauen verliebt, die sich immer nur in Arschlöcher verlieben und jetzt hab ich auch Herwig, der sich immer nur in verheiratete Frauen verliebt. „Magst du mein Freund sein, Herwig?“ frage ich.
„Ich muss darüber nachdenken“, sagt er.
Wir sitzen da und denken nach. Herwig darüber, ob er mein Freund sein will – aber vielleicht denkt er in Wahrheit über etwas ganz anderes nach. Ich denke darüber nach, was sein wird, wenn Raphael älter wird? Während ich nachdenke, frisst Raphael alle Mohnzelten auf. Er wird eine Elefantenkuh brauchen. Elefanten sind Herdentiere. Ich blicke mich im Garten um. So groß ist unser Garten nicht, dass wir hier eine Elefantenherde halten können, denke ich. „Warte kurz“, sage ich zu Herwig und Herwig wartet kurz.

Ich rufe meinen Mann an.
„Raphael ist einsam, oder?“, sagt er.
„Ich weiß nicht. Er mag Mohn“, sage ich, „aber bitte bestell trotzdem keine weiteren Elefanten.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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