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Samstag, 27. Juli 2013

Raphael

Ein riesiger Lastwagen hält vor unserem Haus. Nicht schon wieder eine Baustelle, stöhne ich und gehe hinaus, um den Arbeitern Getränke anzubieten. Sie brauchen viel Flüssigkeit bei dieser Hitze.
„Bin ich hier richtig bei Lehner?“, fragt der Fahrer, öffnet die Seitenklappe seines Ungetüms, lässt die Laderampe herunter und den Elefanten heraus. Aber, möchte ich sagen, aber ich hab doch gar keinen Elefanten bestellt! Der Fahrer drückt mir den Lieferschein in die Hand. „Wenn Sie bitte da unten rechts unterschreiben, dass ich ihn zugestellt habe“, sagt er. Wenigstens ist das ein altmodischer Lieferschein aus richtigem Papier und nicht eines dieser modernen digitalen Kästchen der Paketzusteller, das ich einmal ruiniert habe, weil ich darauf beharrt habe, mit meinem eigenen Kugelschreiber zu unterzeichnen.
Der Lieferant reißt mir einen rosaroten Abschnitt vom Lieferschein herunter und drückt ihn mir in die Hand. Der Zettel sieht genauso aus wie der, den ich letztens bei der Schuhreparatur bekommen habe. Hoffentlich verwechsle ich die beiden nicht.
„Muss ich was bezahlen?“, frage ich ängstlich.
„Nein, alles erledigt.“ Ich ärgere mich über meinen Mann und rufe ihn sofort an. „Bist du schon ganz deppert?“, schreie ich ins Telefon und es ist weniger eine Frage als eine Feststellung, „du kannst doch nicht einfach einen Elefanten bestellen, ohne das vorher mit mir abzusprechen. Ich wohne auch hier, falls du das vergessen hast! Überhaupt: Was hat der wieder gekostet? Vorige Woche der Flügel, heute der Elefant, was kommt noch alles?“
Zunächst schweigt mein Mann kurz. „Jetzt reg dich doch nicht schon wieder so auf“, sagt er dann, „ich wollte es dir eh sagen, aber dann hab ich vergessen, und du bist ja nie daheim.“
Der Lastwagen startet. Wahrscheinlich will der Fahrer nicht in unseren Ehestreit hineingezogen werden. Wahrscheinlich hat er zu Hause seinen eigenen und ist damit ausreichend bedient.
„Na gut“, sage ich ins Telefon, jetzt ein wenig versöhnlicher. Ich denke an mein letztes Kommunikationsseminar. Das VW-Modell. Vom Vorwurf zum Wunsch. „Ich wünsche mir, dass du mich das nächste Mal in solche Entscheidungen miteinbeziehst.“
Ich höre, wie er seine Augen rollt, aber auch er lenkt ein. „Ja, mach ich. Überhaupt - er ist eh noch klein“, sagt er.
Na gut, denke ich, wir werden auch diese Situation irgendwie meistern, so wie wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren schwierige Situationen gemeistert haben.

Der Lastwagen fährt mit einem Rumpeln weg. Der Elefant schreit. „Ist ja gut“, tätschle ich ihn an der Seite, „alles wird gut.“ Wahrscheinlich hat er Heimweh, denke ich. Wir könnten später gemeinsam Universum schauen, da ist bestimmt ein Bericht aus deiner Heimat dabei. Vermutlich hat er aber auch Hunger. Ich biege einen Ast des Birnbaums herunter. Ich hab mich noch nie darum gekümmert, was Elefanten so essen. Ich schaue auf den Gehsteig, ob der Lieferdienst zufällig eine Bedienungsanleitung dagelassen hat. Nichts. Aber ich sehe, warum der Elefant so schreit. Er ist an den Zehen verletzt. Der Lastwagen ist über seine Pfoten gerollt, als er weggefahren ist.
Mir schießen Tränen des Mitgefühls und des Zorns in die Augen. „Jetzt mal rein mit dir, kleiner Bimbo“, sage ich und beiße mir auf die Zunge. Bimbo darf man bestimmt nicht sagen, das ist rassistisch. Außerdem kann ich nicht erkennen, ob der Kleine aus Afrika oder aus Indien ist, und zu einem indischen Elefanten Bimbo zu sagen, ist noch mal so schlimm. Einer von beiden hat Schlappohren, erinnere ich mich an den Biologieunterricht. Aber welcher?

Jetzt ist auch die Nachbarin auf der Straße: „Was ist denn bei Ihnen schon wieder los, Frau Lehner?“, fragt sie.
„Nichts, nichts“, sage ich, „er wird sich gleich wieder beruhigen.“ Ich weiß nicht, wie ich ihn ins Haus bringen soll, er hat ja keine Leine dran. Also greife ich behutsam sein Ohr und führe ihn die Einfahrt runter. „Vorsicht, steil!“, warne ich ihn, aber das scheint ihn nicht zu stören.

„Guten Morgen“, verschlafen kommen die Mädels aus dem Zimmer. „Mich hat was aufgeweckt“, sagt Theres und reibt sich die Augen. „Dabei bin ich noch gar nicht fertig mit schlafen.“ Als sie den Elefanten sieht, rollt sie die Augen und sagt: „Dieser Papa. Was dem immer einfällt!“ Rosi dagegen kann ihr Glück kaum fassen. „Oh Gott, ist der süß!“
„Das ist Raphael“, sage ich. Der Name ist mir grad eingefallen und bestimmt weder afrikanisch noch indisch noch rassistisch.
„Schau mal, er ist verletzt“, sagt Rosi, als sie die Wunde sieht, „wir müssen ihn verarzten.“
„Soll ich die Tierärztin anrufen?“, fragt Theres. Sie erreicht sie nicht. Zum Glück, denke ich, denn sie ist nur für Kleintiere zuständig, und Raphael fällt wohl trotz seiner Jugend eher nicht in diese Kategorie.

Ein wenig später kommt Rosi mit einem Kübel Lindenblütentee mit frischen Ringelblumen drin und einem Leintuch als Verband, um ihn zu verarzten. „Den Tee macht mir meine Mama auch immer, wenn ich krank bin.“ Raphael leckt ihr dankbar übers Gesicht und trinkt den Kübel leer. „Er hatte Durst“, sagt Rosi entzückt, „habt ihr gesehen, wie gierig er getrunken hat?“
Theres ist da realistischer. „Vorsicht“, sagt sie, „was oben reinkommt, kommt meistens unten wieder raus.“

Wir bringen Raphael in den Garten. Ein wenig unsicher schaut er sich um, Rynn und Hermes, die beiden Katzen, flüchten ängstlich auf den Zwetschkenbaum. Nur Herta, der dreibeinige Kater, beschnuppert Raphael neugierig und beginnt dann, an seiner Wunde zu lecken. Wahrscheinlich freut er sich, dass er nun nicht mehr der behinderte Außenseiter in der Familie ist. Ich stelle die beiden einander vor: „Raphael“, ich deute erst auf den Elefanten, und danach auf den Kater, „und das ist Herta!“
Herta schnurrt zufrieden. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber auch aus Raphaels Innerem ertönen Geräusche der Wohligkeit. Ich glaube, die beiden werden Freunde.

„Ich mach uns jetzt erstmal auch was zu trinken“, sage ich und bitte die Mädels, in der Zwischenzeit auf unser neues Familienmitglied aufzupassen. „Wir werden das Kind schon schaukeln“, sage ich zu mir, als ich den Tee aufgieße, „wir sind schließlich schon mit schwierigeren Situationen als einem kleinen Elefanten fertig geworden.“

Freitag, 26. Juli 2013

Was Frauen wollen

„Ich bin so wütend“, sagt er und löffelt die indische Spinatsuppe, die leider genauso schmeckt, wie sie aussieht, „Doris hat eine SMS geschrieben. Sie ist wieder zu ihrem Freund zurückgegangen.“
„Wie jetzt?“ Auch bei ihrer Linsensuppe stimmen Aussehen, Geschmack und Konsistenz im negativsten aller Sinne überein. „Zu dem, unter dem sie so gelitten hat, weil er sie wie Dreck behandelt und nicht ernst genommen hat?“
„Genau der, der sie gedemütigt, abgewertet und genauso schlecht behandelt hat wie früher ihr Vater.“
„Bekannte Muster und so“, sagen sie beide und legen die Löffel zur Seite. Sie lachen. Sogar, wenn er behauptet, so wütend zu sein wie schon lange nicht, strahlen seine Augen und seine Stimme Sanftmut und Rücksicht aus. „Kränk dich nicht", sagt sie, „das hat nichts mit dir zu tun, nur mit ihr. Sein Verhalten gefällt ihr zwar nicht, aber es ist ihr vertraut, das kennt sie, damit kennt sie sich aus."
„Der brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, einen Dackelblick aufzusetzen und Es tut mir so leid murmeln, und dass er jetzt alles versteht und sich ändern wird, und nein, eine Paartherapie wäre nicht nötig, weil sie hat ihm ja die Augen geöffnet... und schon kriecht diese intelligente, schöne und liebenswerte Frau auf Knien zu ihm zurück.“ Jetzt schleicht sich ein kleines bisschen Rage in seine sanfte Wut. „Weißt du, ich dachte immer, ich will das nicht - ich mach es anders, begegne Frauen mit Respekt... Ich bin ein Vollidiot, so schaut’s aus.“
„Bist du nicht“, sagt sie, aber er hört sie nicht.
„Ich versteh euch Frauen einfach nicht“, fährt er fort, „warum steht ihr so drauf, von Männern schlecht behandelt zu werden? Und wenn ihr die Typen endlich losgeworden seid, habt ihr nichts besseres zu tun, als euch das nächste Arschloch zu suchen, das euch schlecht behandelt. Wie verdammt dämlich sind Frauen?“
Sie schluckt. Sehr dämlich, denkt sie. „Verallgemeinere bitte nicht!“, sagt sie, aber sie weiß, dass er Recht hat, das beobachtet sie Tag für Tag. Früher hat sie das auch an sich selbst beobachtet, als ihr damaliger Freund sie auf der Autobahn einfach aus dem – zum Glück stehenden – Auto geschmissen hat, weil sie ihn kritisiert hatte. Oder ihr eines Abends die Luftmatratze hingeworfen hat, weil er zur Erkenntnis gekommen war, dass ein 1,60 Meter breites Bett zu schmal für sie beide war. Sie hat die Luftmatratze brav aufgeblasen anstatt sie aufzuschlitzen. Anstatt ihn aufzuschlitzen. Wenn sie wütend ist, ist sie alles andere als sanftmütig.

„Vielleicht solltest du in anderen Gewässern fischen“, schlägt sie beim Goa-Fish vor, der auch keine Offenbarung ist, „auf Selbsterfahrungswochenenden und Psychoworkshops lernt man vermutlich keine Frauen mit gesundem Selbstwertgefühl und innerer Stärke kennen, sondern nur solche, die kämpfen und auf der Suche sind.“
„Hey, ich hab auch ein gesundes Selbstwertgefühl und innere Stärke. Und bin trotzdem neugierig auf mich.“
Daran zweifelt sie nicht.
„Ich glaube, ich muss meine Performance dramatisch ändern!“, meint er. Wenigstens der Reis schmeckt, wie Reis schmecken soll, nämlich nach nichts. „Wenn du mit einer Frau eine Beziehung willst, dann gib ihr die Peitsche.“
„Trink dein Mango-Lassi und red’ keinen Scheiß“, lacht sie. „Und sei mal ehrlich, was willst du mit Frauen, die solche Männer wollen?“
„Sie wollen Männer mit Eiern verstehst du? Aber Teddybären haben keine Eier, das weiß jedes Kind. Und da man die Anderen nicht ändern kann, muss man sich selbst ändern, um zu seinem Ziel zu gelangen - so einfach, so pragmatisch, so logisch ist das...“
„Aber du bist noch lange kein Teddybär, nur weil du nicht am ersten Abend mit ihnen in die Kiste steigst und ihnen zuhörst, anstatt nur über dich selbst zu reden. Du hast Eier. Du bist nicht umsonst Eierkönig. Einer der liebenswürdigsten Eierkönige, die ich kenne, kapier das endlich! “ Schön langsam wird sie wütend, nicht er.
„Aber genau das ist ja das Problem. Keine Sau steht auf liebenswürdige Eierkönige. Früher dachte ich auch, Nietzsche ist ein Idiot, aber offenbar hatte er Recht. Ich sehe ja in meinem Umkreis, wie gut das funktioniert. Alle Männer, die bei Frauen erfolgreich sind, verarschen sie nach Strich und Faden. Schluss jetzt mit Empathie, Aufrichtigkeit, Ebenbürtigkeit, Augenhöhe...! Unterdrück sie, behandle sie wie Scheiße und sie werden dich lieben. Das krieg ich auch noch hin.“
„Quatsch, sie werden dich höchstens fürchten, mit Liebe hat das nichts zu tun. Außerdem... “, sie deutet mit dem Zeigefinger auf sein Dessert, „außerdem zittert vor dir höchstens der Mangopudding.“

*

Italienisch statt Indisch. Carpaccio statt vegetarischer Fleischbällchen. Er kommt im Dreitagesbart, das Hemd hängt lässig aus seiner Hose.
„Und? Wie geht’s dir mit deiner neuen Strategie?“ Sie nippt am Prosecco.
„Geht so. Hab eine Frau kennengelernt, indem ich arrogant war und sie beleidigt hab. Nachdem ich auf ihre SMS nicht reagiert und ihre Anrufe weggeklickt hab, ist sie mit einer roten Rose vor der Firma gestanden und hat mich zum Essen eingeladen. Lass dir das mal auf der Zunge zergehen. Sie hat mich zum Essen eingeladen.“
„Und? Glücklich darüber?“
„Geht so.“ Er kann nicht gut reden mit vollem Mund und schluckt die Miesmuscheln hinunter. „Nicht wirklich, um ehrlich zu sein“, sagt er, „was ich wirklich gut kann, ist geben, nicht nehmen. Aber ich gebe nicht auf. Ich bin auf dem richtigen Weg, ich spüre das.“
„Ich sag es noch einmal“, sie wickelt die Spaghetti auf die Gabel, „deine Theorie ist Nonsens. Sie geht nicht auf!“
„Keineswegs ist sie Nonsens. Beobachte doch mal Frauen, wenn sie über Männer sprechen und schau auf ihre nonverbalen Signale - wenn sie sich furchtbar über einen Typen aufregen und ihn Arschloch schimpfen, dann leuchten ihre Augen vor Bewunderung - wenn sie hingegen über einen lieben, fürsorglichen Mann sprechen, entdeckst du Zeichen der Verachtung um ihre Mundwinkel.“
Sie muss lächeln. Einmal hat sie ihn Arschloch genannt - es war nicht einmal ernst gemeint - und er war gekränkt gewesen. „Wie du meinst.“ Sie gibt es auf, ihn davon überzeugen wollen, dass es Frauen gibt, die ihn genauso gernhaben, lieben und begehren, wie er ist. Noch bevor der Nachtisch serviert wird, geht sie. Ein wenig enttäuscht.

*

„Ich hab mich verliebt“, platzt es im Biergarten aus ihm heraus, noch bevor der Erdäpfel-Vogerlsalat serviert ist.
„Oh! Erzähl!“
„Sie ist Single, aufregend und intelligent, hat einen ähnlichen Humor wie ich und steht auf die Wiener Austria.“
Kurz zuckt sie zusammen, erinnert sich aber daran, dass ihre eigenen Fußballpräferenzen grad nicht so wichtig sind wie das Glück ihres besten männlichen Freundes.
„Und?“ Der Suppenlöffel fällt ihr aus der Hand. „Was war? So spann mich doch nicht so auf die Folter.“
„Nichts war.“ Seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Sie sagt, vor ein paar Jahren wäre sie auf diese Masche hereingefallen. War ein Muster von ihr, sich immer in die größten Idioten zu verlieben. Aber da ist sie drüber weg. Sie findet mich witzig, aber sie steht nicht mehr auf Arschlöcher. Sie will einen Mann, der sie auf Augenhöhe respektiert, der ihr Herz und ihren Verstand mag und nicht nur ihre weichen Brüste. Einen Mann, dem sie vertrauen kann.“
„Ja super, da bist du genau der Richtige! Dann zeig ihr doch einfach, wie du wirklich bist.“ Die Stelze wird serviert, sie beißt genüsslich hinein, „ach, ich freu mich so für dich!“
„Zu spät“, sagt er und rührt sein Schnitzel nicht an, „ich hab’s versucht. Sie hat gemeint, ich wäre doch nur wie alle anderen. Die sagen auch, dass sie in Wahrheit ganz anders sind und kapiert haben, worauf es ankommt. Ach du“, er schaut traurig. „Ich fürchte, ich hab’s vergeigt.“
Sie schluckt ihr „Na, was hab ich dir gesagt?“ hinunter. Sagt stattdessen einfach „Scheiße, das tut mir leid.“ Ein „Hoffentlich lernst du was draus“ kann sie sich aber nicht verkneifen.
„Hab ich schon. Ich hab gelernt, ganz egal wie mann es macht, es ist immer verkehrt."

Donnerstag, 25. Juli 2013

Fehler.haft

„Warum lernen wir Geschichte?“, hat der Geschichtsprofessor am Beginn der ersten Stunde im Gymnasium gefragt. Und sich auch gleich selbst die erste Antwort zu geben. „Um aus ihr zu lernen.“

Nichts lernen wir aus der Geschichte, behaupte ich. Vor allem nicht aus ihren Fehlern.
Unser Gehirn ist nicht dazu programmiert, aus Fehlern zu lernen. Ein Einstellungsfehler vielleicht, aber die Evolution oder wer auch immer uns konzipiert hat, hat nichts aus diesem Fehler gelernt, sonst würden wir nämlich nicht die Umwelt kaputt machen und Kriege führen.
Würden Menschen aus Fehlern lernen, gäbe es keine gefährlichen Rückfallstäter. Sondern lauter liebe, sanfte Jungs, die geläutert säuseln: „Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, die Zeit im Knast hat mir total gut getan und ich habe diese Zeit für Meditation und wichtige Erkenntnisse genutzt. Ich habe dort andere, ebenfalls großartige Menschen kennengelernt, die wie ich aus ihren Fehlern gelernt haben. Jetzt möchten wir das Gute und Gelernte auch an andere Menschen weitergeben und in Männerstrick- und Gesprächsrunden die anderen Menschen lehren, aus ihren Fehlern zu lernen. Und wenn sie es nicht kapieren, werden wir es ihnen mit ein wenig Nachdruck und einem kleinen bisschen Gewalt eintrichtern; so lange werden wir sie mit ihren Köpfen in die eigene Scheiße stecken, bis sie kapiert haben werden, dass Gewalt kein Lösungsmittel ist.“

Wie gesagt, unser Gehirn kann das gar nicht, aus Fehlern lernen. Bei Lob und Anerkennung wird unser Belohnungszentrum aktiviert, bei Fehlern das Angstzentrum.
Beim Chinesisch lernen, beim Autofahren, eigentlich immer und überall lernen wir durch Fehler nichts. Außer Angst davor zu haben, den Fehler zu wiederholen. Vor lauter Angst prägen sich die Fehler tief in uns ein. „Bitte keine Ampel“, sagt mein Kind, „da stürzt er mir jedes mal ab.“ Sie rollt auf die Ampel zu, der Motor stirbt ab.
Beim Mandarin lernen gibt es Worte, die ich mir partout nicht merken kann. Schon, wenn ich das chinesische Schriftzeichen sehe, bekomme ich Herzklopfen und weiß: „Scheiße, es wird wieder falsch sein.“ Qien 2. Falsch. Scheiß Angst vor dem Fehler. Angst vor dem Versagen. Angst davor, nicht geliebt zu werden. Von der Sprachlernmaschine, die es rot aufleuchten lässt, von den hupenden Autofahrern, dem Kritiker, dem Leben.

Jetzt halten Sie mich vielleicht für eine Heilige. Keine Sorge, die bin ich nicht.
Im Literaturforum, in dem ich früher geschrieben hab, habe ich es geliebt, die Fehler der anderen aufzudecken und habe den anderen Schreibenden meine Kritik wie ein eiskaltes, nasses Handtuch um die Ohren gefetzt. Ich bin auf den Feldern der frisch gepflanzten Gedichte und Geschichte durch die Furchen gewandert und hatte an allem etwas auszusetzen. „Hier, das Pflänzchen ist beinahe verdorrt, und das hier wächst schief, und das hier hat keine Überlebenschance, reiß es aus! Aus dir wird nie ein guter Landwirt“, hab ich gesagt und bin unachtsam auf sprießende Pflanzen draufgetreten, „aber vielleicht kannst du etwas anderes besser, vielleicht stricken oder singen oder Mistkübel ausleeren.“

Ungefragt weise ich andere Menschen auf ihre Fehler hin, vielleicht, um mich nicht mit meinen eigenen zu konfrontieren. Ungefragt sagen wir anderen Menschen, wie sie richtig Mandarin sprechen, Autofahren, Wortpflanzen säen oder leben.
Anstatt ihnen einfach zu sagen, was sie gut machen. Was wir wertschätzen. Welche Erfolge sie haben. Und dass wir sie lieben, auch wenn ihnen der Motor abstirbt. Schwächen schwächen. Stärken stärken. Deshalb sollten wir die Stärken unserer Mitmenschen stärken.

Keine einfache Übung. Ich werde Fehler machen dabei. Und vermutlich nichts aus ihnen lernen.

Mittwoch, 24. Juli 2013

Lieber Herwig,

vielleicht wunderst du dich jetzt ein wenig über meine Mail. Ich wundere mich ja auch, und ich bin reichlich verwirrt nach dem gestrigen Tag. Aber ich will versuchen so ehrlich wie möglich zu sein. Ganz ehrlich ist im Leben nicht immer möglich; leider. Vielleicht liegt es daran, dass es die ganze Wahrheit gar nicht gibt.
Also, wo fang ich an? Ja, ich fang vor 5 Jahren an. Da gab es in meinem Leben nämlich schon einmal einen Mann namens Herwig. Herwig Steiner. Er hat an der Strafabteilung der Bezirskhauptmannschaft gearbeitet und mir erzählt (in Briefen, persönlich kannten wir uns damals noch gar nicht), er würde gerne nach seiner Pensionierung ins Waldviertel ziehen, um den Bauernhof seiner Eltern zu übernehmen, in irgendeinem Kaff, das auf –schlag endet. Nein, nicht Braunschlag, und nein, auch nicht Hitzschlag. Sehr witzig. Dieser Mann und ich haben uns viele Briefe geschrieben. Lange Briefe. So ein lieber, älterer Beamter, dachte ich. Stell dir vor, ich hab ihm warme Unterwäsche empfohlen, wie peinlich war das denn!
Das Angebot, zu ihm ins Waldviertel zu ziehen und Waldviertler Knödel zu formen, hat mir Angst gemacht. Es war mir zu viel Natur, zu viele Gummistiefel, zu viel Wald im Waldviertel. Ich war damals einfach noch nicht so weit, verstehst du? Ja, auf jeden Fall hat sich dann herausgestellt, dass er weder kurz vor der Pensionierung stand noch einen Hof im Waldviertel hatte, sondern er mich ziemlich dreist angelogen hat. Wir haben uns trotzdem weitergeschrieben und sogar persönlich getroffen und es kam, wie es kommen musste: Wir haben uns ineinander verliebt. Es war keine einfache Liebe, das kannst du mir glauben, aber eine aufregende Zeit. Die Details erspare ich dir.
Die Beziehung ist nicht gutgegangen, ein paar Monate hat sie gehalten, er hat sich danach in eine jüngere verliebt, in eine Kollegin. Vielleicht kann etwas nicht gutgehen, was auf einer Lüge basiert.
Vielleicht kann etwas nicht gutgehen, das auf der Phantasie basiert, denn diese ganze Geschichte und unser Briefverkehr (mittlerweile ein Bestseller) ist in Wahrheit nie passiert. Ich hab ihn mir einfach ausgedacht und mir selbst die Antworten geschrieben. Vielleicht war er ja deshalb so aufregend, weil es das Privileg der Phantasie ist, aufregend und nicht alltäglich zu sein.

Du hältst mich jetzt für ein bisschen verrückt, oder? Das nehme ich aber in Kauf, denn ich will nicht, dass da von Anfang an eine Lüge zwischen uns steht, verstehst du? Man kann eine Beziehung nicht mit einer Lüge beginnen.

Ich hatte Herwig, unsere Liebe, den Schmerz, den er mir zufügte, wenn auch nur in meiner Phantasie, beinahe vergessen... bis gestern.

Bis ich gestern ins Waldviertel gefahren bin. Ich bin im Ottensteiner Stausee geschwommen, wunderschön war das, nur der See, der Wald und ich, an der Oberfläche war er ganz warm der See, aber wenn man die Zehen in die Tiefe gestreckt hat, war es kühl, als würde das Ottensteiner Tiefseeungeheuer mit seiner eisigen Zunge an meinen Zehen lutschen.
Ja, und dann habe ich noch Mohnzelten gekauft, obwohl ich nicht weiß, warum die so heißen; weil ich die immer kaufe im Waldviertel und weil mein Sohn die so liebt, und dann bin ich auf die Mohnfelder gefahren und tief hineingekrochen, und hab ein paar Fotos gemacht, weil ich die Mohnfelder bei der Mohnblüte so wunderschön finde. Am schönsten die mit dem pinkfarbenen und weißen Mohn, die roten nicht so. Ja, und da bist du plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts, mitten im Mohnfeld. Mit blauer Lagerhaus-Montur und einem strahlenden Lächeln. Ich hab gedacht, du wirst jetzt fürchterlich schimpfen, weil ich mich einfach so ins Mohnfeld geschlichen hab, und weil ich ein paar Stengel und Kapseln abgebrochen hab, für die Vase zu Hause. Du aber hast nur „Schön, oder?“ gesagt. Ich bin mir wie ein Fremdkörper vorgekommen, wie ein Trampel im Mohnfeld, mit meiner Kamera und den knallrot bemalten Lippen, die auch farblich so gar nicht zu den zarten Mohnblüten gepasst haben.



In deinen Augen war nur Freude. Freude über den blauen Himmel und den Sommer und die Pracht dieses Mohnmeers (ja, so hat der andere Herwig es immer genannt).
Und dann hast du mich einfach an der Hand genommen, hast gesagt „Komm, ich zeig dir was.“ Du hast mir deine Mohnfelder gezeigt, mir den Unterschied zwischen Weiß- , Grau- und Blaumohn erzählt, und dann hast du mir in deinen Traktor geholfen. Auf dem Weg zu deinem Bauernhof hast du nicht volkstümliche Musik gehört, wie die meisten Bauern, sondern mir ein Gedicht vorgetragen:

Blaue, linde
Sommerwinde,
Wiegt mein Mohnfeld leicht und leis,
Daß die blanken
Blüten schwanken,
Rosenrot und lilienweiß!



Foto: Theres Lehner

Auf deinem Hof hast mir die Mühlen gezeigt und mich vom Mohnöl kosten lassen. „Hunger?“ hast du mich in der großen Küche gefragt.
„Wenn ich keine Waldviertler Knödel formen muss“, hab ich vorsichtig geantwortet und du hast gelacht.
Mohnlachsforelle mit Mangosalat gab es. Und schöne, tiefe Gespräche, übers Leben, Literatur, über die Angst und die Einsamkeit. „So, ich muss dann wieder.“ Du hast dir die Mundwinkel mit der Stoffserviette abgewischt und mich schweigend zurück zum Auto gebracht.
Zum Abschied hast du mir das Haar aus der Stirn gestrichen und mich an dich gedrückt. In deiner Halsbeuge roch es nach Mohn, berauschend und warm. Es roch nach Daheim. Du hast eine Visitenkarte aus deiner Latzhose gezogen und mir gereicht. Eine lilafarbene Mohnblüme war darauf und dein Name: Herwig Steiner.

Bevor du mich fragst: Ja, ich kann es mir vorstellen, da rauf zu ziehen, zumindest im Sommer. Ja, ich will mit dir in Gummistiefeln Forellen fangen und Mohnnudeln wuzeln. (Brauchst jetzt gar nicht so grinsen, das war keine Metapher für irgendetwas, Mohnnudeln stehen in diesem Fall einfach für Mohnnudeln).
Und jetzt hab ich Angst, dass du mich das alles gar nicht fragst.

Barbara

Dienstag, 23. Juli 2013

Gebt ihnen Namen

Sperrt die Wilden ein und gebt ihnen Namen! (Karl Popper)

Namen erwecken Dinge zum Leben. Fassungslos war ich, in dem kleinen griechischen Dorf vor vielen Jahren, als man die kleinen Kinder nur Baby (moro) gerufen hat. Einen Namen bekommen sie erst im Alter von sechs, hat man mir erklärt. Man weiß ja noch nicht, wie sie sich entwickeln, welcher Name zu ihnen passt. Vielleicht war aber auch alles ganz anders und meine Griechischkenntnisse zu schlecht, um es richtig zu verstehen. Der griechische Salat war wunderbar.

Namen machen Dinge und Projekte erst wirklich. Wir Toll3sten zum Beispiel, wir sind in dieser Formation nicht länger Katharina, Beate und Barbara; also natürlich sind wir das immer noch, aber wir sind viel mehr, indem wir die Toll3sten sind. Wir haben unserer Band mit dem Namen auch Gestalt gegeben. Uns sozusagen erschaffen.
Indem Eltern uns Namen geben, impfen sie uns mit Erwartungen und Ansprüchen. Werde!, sagen sie. "Werde, wie wir wollen, dass du wirst."

Namen prägen. Eine Barbara ist anders als eine Ingrid. Ein Marcel anders als ein Friedrich. Ein Waldemar anders als ein Kevin. Toll3ste Weiber anders als Drei Nette Mädels am Rande des Mädelssein.
Namen erfinden Menschen neu.

Wie wäre ich geworden mit einem anderen Namen? Reine Spekulation, ich weiß, aber lassen Sie mich ein wenig in die schwüle Sommerluft hineinschwurbeln und -spekulieren. Wie wäre ich geworden als Herta oder als Karin, das waren damals auch beliebte Namen, in den frühen Sechzigern? Barbara ist offen und weich. Also der Name auch. Barbra sagen die einen, Warwara die anderen, aber man kennt den Namen auch in fremden Ländern. Barbara, die Wilde, die Fremde. Vor allem sich selber fremd. Barbara, der Name kann gut getanzt werden, weich und offen. Barbara kann nicht gut tanzen.

Sperrt die Wilden ein und gebt ihnen Namen! Wenn man etwas einen Namen gibt, hat man weniger Angst. Ich habe keine Angst vor der fetten Spinne Susi in meinem Badezimmer. Vor der Nacktschnecke Elsa. Vor Fluppi, dem Fußpilz auch nicht. Wie könnte man vor etwas Angst haben, das Fluppi heißt?
Also, wie wäre ich geworden als Herta? Ohne jetzt die Hertas dieser Welt verunglimpfen zu wollen, aber vermutlich würde ich als Herta Faltenrock und gebügelte Rüschenblüschen tragen. (Ein schönes Wort; ein onomatopoetisches Rüschenblüschen. Man spürt die Rüschchen förmlich beim Aussprechen.) Als Herta hätte ich einen grünen Lodenhut und in der Schule hätten mir die Barbaras und Sabines und Beates eine Feder aus Papier gebastelt, mir in den grünen Lodenhut gesteckt und mich ausgelacht. Wie wir der Herta damals. Ich wäre Polizistin geworden und hätte mich Jahre später an den Lippenstift klauenden Barbaras und Sabines und Beates gerächt, indem ich sie eingelocht hätte. Ich hätte einen langweiligen Mann geheiratet, einen Numismatiker, der am Sonntag die Gartenzwerge abstaubt und Kinder bekommen, die den selben Haarschnitt wie der Gartenzwergrasen gehabt hätten. Noch später hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten, weil ich die Welt nicht mehr ertragen hätte.

Als Hiltrud hätte ich wahrscheinlich irgendwann die FPÖ gewählt und blaue Socken und mich selbst in Vorurteilen verstrickt. Ich bin froh, dass ich mich als Barbara so gut wie niemals in Vorurteilen verstricke, vor allem nicht, was Namen betrifft.

Valentina hätte ich gerne geheißen. Als Valentina hätte ich schon aus Prinzip mein Russisch-Englisch-Dolmetsch-Studium abgeschlossen und wäre Doppelagentin geworden, berühmter noch als Mata Hari. Edward Snowdon wäre ein Lercherlschas gegen mich gewesen. Jeden Tag hätte man von mir in der Zeitung gelesen, in Steckbriefen „Wanted – Dead or Live“ oder anderen Kolumnen. Als Valentina wäre ich kein offenes braves, sondern ein verschlossenes, geheimnisvolles und spannendes Kind gewesen. Ich hätte viel geschwiegen, aber wenn ich etwas gesagt hätte, wäre das von immenser Bedeutung für die gesamte Weltgeschichte gewesen. Man hätte meine Worte schon als Baby aufgezeichnet und mittels modernster Techniken entschlüsselt und gedeutet. Meine Eltern wären einerseits sehr stolz auf mich gewesen, ich wäre ihnen aber schon in meiner frühen Kindheit ein wenig unheimlich gewesen. Trotz Namen hätten sie sich beinahe vor ihrem eigenen Kind gefürchtet.

Niemand dagegen würde sich vor drei Frauen fürchten, die sich Lust und Last von der Seele schreiben, hießen sie Die Lieblichen. Die Lieblichen würden auch keine Gangster- und Piratengeschichten oder halbpornografische Romane schreiben, sondern Heimatromane aus den Tiroler Alpen verfassen. Sie würden Zenzi, Annerl und Trude heißen und zu ihren Lesungen würden nur ein paar schwerhörige Jäger kommen, die sich an ihren aus den Dirndln quellenden Brüsten erfreuen.

So schauts nämlich aus.

Montag, 22. Juli 2013

(K)Ein Märchen

Er lebt im obersten Stockwerk eines alten, gemauerten Turms.
Nacht für Nacht verlässt er seinen Turm, um sich mit ihr im Wald zu treffen. Sie gibt sich ihm hin, wild und leidenschaftlich. Schmeckt seine Haut, überall, spürt ihn in sich und dabei gleichzeitig sich selbst wie nie zuvor. Wenn er bei ihr ist, fühlt sie sich lebendig und das Leben spannend. Danach rauchen sie eine Zigarette oder trinken ein Glas Wein. Alles ist gut. Irgendwann sagt sie ihm, dass sie ihn liebt. Er steht auf und geht zurück in seinen Turm. Nichts ist gut.
„Können wir uns einmal tagsüber treffen?“, will sie eines Nachts wissen, als er sich anzieht und auf sein Pferd steigt.
„Ich werde darüber nachdenken“, sagt er und reitet davon. Als sie ihn in einer der folgenden Nächte darauf anspricht, meint er knapp „Es ist noch zu früh. Vielleicht irgendwann.“ Als sie Monate später vorsichtig fragt, wann denn irgendwann wäre, schnaubt er sie an: „Nerv mich nicht.“

Trotzdem steht sie Tag für Tag vor seinem Turm und schaut zu ihm hoch. Hin und wieder blickt er kurz aus dem Fenster und lockt sie mit dem Zeigefinger zu sich. Ihr Herz klopft vor Vorfreude. Doch als sie näher tritt, sticht sie sich an der Dornenhecke. Durch ihren Aufschrei erwachen die zwei Grenzsoldaten und stellen sich ihr mit gekreuzten Lanzen in den Weg.
„Was hast du hier verloren?“ fragen sie. Nichts hat sie verloren, aber sie hat auch nichts gefunden. Nichts, was sie sucht. Vielleicht, weil sie nicht weiß, was sie sucht. „Verschwinde“, sagen die Grenzposten, „er will das nicht.“
Sie leckt sich das Blut von den Fingern. „Aber natürlich will er das“, flüstert sie, „er kann es sich nur nicht eingestehen. In Wahrheit hat er Sehnsucht danach, dass jemand mit einer Machete die Dornenhecken durchdringt und die Mauern seines Turms niederreißt. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein, nicht so drängend. Durch meine beständige Liebe wird er erkennen, dass es das Beste für ihn ist, sich auf mich einzulassen und mich zurückzulieben.“
Einer der Grenzsoldaten, der größere der beiden, hält sich den mit der Rüstung bedeckten Bauch vor Lachen. „Gute Frau“, sagt er, „Sie müssen sich verlaufen haben. Das Leben ist kein Märchen und unser Chef kein verwandelter Prinz.“

Der Andere, der Kleinere, schaut ihr tief in die Augen und fällt augenblicklich in ihren Blick. „Vergessen Sie ihn“, sagt er, „Er tut Ihnen nicht gut.“
Traurig geht sie weg, um am nächsten Tag wiederzukommen. Und am übernächsten. Und am überübernächsten. Dunkle Ringe hat sie unter den Augen, weil auch die nächtlichen Besuche des Turmbewohners ausgeblieben sind und er sie nur in ihren Gedanken besucht. Immer trauriger wird sie. Immer magerer auch.
„So kann es nicht weitergehen, schöne Frau“, sagt der freundliche Grenzsoldat mit den blitzenden Augen eines Tages, „Sie müssen etwas essen.“

Er bringt ihr mit Speck umwickelte Pflaumen. Am anderen Tag hat er frischgebackenes Brot mit Avocadocreme dabei. Oder rotbackige Äpfel, damit auch ihre Wangen wieder rosig glühen mögen.
„Ich liebe ihn doch so sehr“, sagt sie an die riesige Linde gelehnt, mit vollem Mund, „und er liebt mich auch, das spüre ich. Er braucht mich genauso wie ich ihn, mindestens. Er kann es nur nicht zeigen... Noch nicht“, fügt sie hinzu.
Sie macht dem Grenzer schöne Augen, denn sie hat eine Idee: „Seinen Wachen wird er ja wohl vertrauen. Bringen Sie mich doch zu ihm!“
Der Grenzsoldat schüttelt voll Verständnis und Mitgefühl den Kopf. „Wir dürfen Sie wirklich nicht zu ihm lassen. Strenger Auftrag vom Chef. Ich könnte meine Anstellung riskieren.“ Als er ihren treuherzigen Blick und den gesenkten Kopf sieht, beginnt das Blut in seinen Adern zu kochen und er lenkt er ein. „Gut, dann riskiere ich eben meine Anstellung“, seufzt er. „Manchmal hab ich meinen Job ohnehin satt. Eine nach der anderen muss ich ab...“ Er beißt sich auf die Zunge. Zum Glück hat sie nicht gehört, was sie nicht hören will. „Kommen Sie nach dem nächsten Vollmond im Morgengrauen“, fährt er fort, „er steht früh auf. Dann werde ich Sie zu ihm bringen und ein gutes Wort für Sie einlegen.“

Während sie aufblüht, vor Hoffnung, von der sie noch nicht weiß, dass sie trügerisch ist, wird das Gesicht des Grenzpostens von Tag zu Tag schmäler vor Sorge.
„Vergiss Sie“, sagt sein Kollege mit der Rüstung. „Sie tut dir nicht gut.“
„Ich muss mich einfach noch mehr bemühen“, sagt der Blitzäugige, „dann wird sie mich eines Tages lieben. Vielleicht liebt sie mich ja schon... und weiß es nur noch nicht.“

Sonntag, 21. Juli 2013

Wer gibt?

Ein neuer Tag. Ein neuer Anfang. Neue Chancen. Neues Spiel, neues Glück.

Die Karten werden neu gemischt. "Wer gibt?" Petrus sagt, er wäre nur fürs Wetter zuständig, "ich geb Sonne, Wärme, ein leichtes Lüftchen, sonst nichts, heute. Ich mag mich auch mal ausruhen."

"Gott soll geben", sagt jemand, "der ist dafür zuständig".
"Wie soll jemand geben, den es vielleicht gar nicht gibt?", wende ich ein. "Also ich geb nicht", sagt die Vergangenheit, "ich hab erst gestern gegeben." Schicksal und Glück streiten, als das Glück die Karten an sich reißen will. "Du kannst nicht geben", sagt das Schicksal, "weil du immer nur gute Karten gibst, und wie langweilig ist ein Spiel, in dem alle gewinnen." Jetzt mischt sich auch noch das Unglück ein. "Du würdest vor lauter Mitleid lauter Joker verteilen", sagt es, "aber mit lauter Jokern kann man nicht mal Jolly spielen. Neben den Trümpfen braucht es auch die Nieten, die Karten, die nichts wert sind und von allen anderen gestochen werden."
„Wer gibt?“, frage ich noch mal, schon ein wenig ungeduldiger.
„Na gut, dann geb ich halt wieder mal, bin ich ja gewöhnt“, seufzt das Leben. Es legt die Karten verdeckt auf den Tisch und verteilt sie mit offenen Händen, bringt sie in eine andere Formation, um sie danach wieder in einem Stapel zu sammeln. Ich sitze gespannt da und warte auf meine Karten. Hoffe auf ein paar Asse. Aber auch die können unangenehm sein, wenn jemand beim Bauernschnapsen einen Bettler ansagt. Und die Glatze beim Tarock, die so ausschaut wie ein Ass, die ist genau Null wert.

„Was wird überhaupt gespielt?“, fällt mir rechtzeitig ein.
„Ach, das ist nicht so wichtig“, sagt ein Mitspieler. „Wenn das Leben gibt, spielt jeder sein eigenes Spiel.“
„Und nach welchen Regeln?“
Der Anarchist unter den Spielern lacht.
Ich sortiere die Karten in meiner Hand, als mir auffällt, dass nicht einmal die Anzahl der Karten gerecht verteilt ist.
„Uno“, sagt die Spielerin links von mir und freut sich. "Ich bin gleich fertig."
Ich hab noch nicht mal angefangen, denke ich. In einem unbeobachteten Moment schiebe ich mir den Herzkönig in meinen Ärmel. Wer weiß, wofür der noch mal gut ist.
„Vierzig“, sagt mein Gegenüber an.
„Fünfzig“, gebe ich zurück. „Fast schon 51.“
Ich habe den Sküs, den Narren, in der Hand, die höchste Karte im Tarock, aber niemand will Tarock spielen.
„Zu kompliziert“, sagt der Eremit und legt eine Patience. Sie geht nicht auf, wie alle anderen zuvor.

So sehr hab ich mich aufs Spiel gefreut und so einsam fühle ich mich jetzt. Wütend schmeiße ich meine Karten auf den riesigen Tisch. „Ich spiel nicht mehr mit!“, schreie ich, aber auch das scheint den anderen egal zu sein. Das Kind neben mir – oder ist es das Kind in mir? – sortiert selbstverliebt seine Rennauto-Karten. „3.200 Kubik“, sagt es, und „260 PS.“ Es braucht nur noch den roten Ferrari zu seinem Glück.
Der Spieler mit der dunklen Brille pokert hoch. „All in“, schiebt er alle Jetons in die Mitte des Spieltisches. Alles oder nichts. Leben oder Tod.

Die weißhaarige Alte, möglicherweise eine Weise, breitet ein rotes Samttuch aus und breitet darauf kunstvoll das Blatt fächerförmig aus. „Leg die linke Hand auf dein Herz und zieh eine Karte“, befiehlt sie. Ich lege. Ich ziehe. Ich schaue.

Die XIII. Ein weißes Pferd. Darauf ein Skelett in einer Ritterrüstung. Der Tod. In seiner Hand eine schwarze Flagge mit einer weißen Rose. Im Hintergrund eine Sonne. Geht sie auf? Geht sie unter?
Als die weise Weiße das Entsetzen in meinen Augen flackern sieht, streicht sie mir beruhigend über den Arm. „Der Tod steht auch für einen Neubeginn“, sagt sie. „Jeder Tag ist ein neuer Anfang.“ Und dann kichert sie hämisch. „Aber nicht für jeden.“

Samstag, 20. Juli 2013

Abgestempelt

Spätestens, als sie mir gesagt hat, dass sie Bewusstseinsforscherin ist, hätte ich misstrauisch werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich aber noch, jeder und jede kann sein, was er will, Autorin, Bungeejumper, Seifenbläserin, Bankmanager, Urologin... warum also nicht Bewusstseinsforscherin? Und überhaupt. Bin ich etwas anderes als Bewusstseinsforscherin, wo ich seit Wochen Tag für Tag in mein Forscherinnentagebuch schreibe? Vielleicht sollte ich es Bewusstseinsforscherinnentagebuch nennen? Ich forsche in meinem Bewusstsein, noch nicht ganz aufgewacht, nicht mehr ganz im Tiefschlaf. Ich schürfe an der Oberfläche meines mittleren Unbewussten. So schaut’s nämlich aus.

Wie gesagt, ich war nicht sofort auf der Hut, nicht skeptisch, vielleicht, weil ich das prinzipiell nicht bin. Manche nennen das Naivität, ich nenne es Offenheit. Außerdem habe ich mich geschmeichelt gefühlt, als die Frau nach der Lesung zu mir kam und mit mir über einen Text sprechen wollte. Über den Brief an mein großes Kind. Als Autorin hab ich mich geschmeichelt gefühlt und auch als Mutter. Ein Mensch, der so viel Interesse an uns zeigt, kann kein schlechter Mensch sein, oder?
Nach der Diagnose hat sie mich gefragt. Und ich, die ich jahrein, jahraus mit Menschen mit Diagnosen arbeite, merke, dass sie mich zunehmend wütend machen. Die Diagnosen, nicht die Menschen. Sie beschreiben immer Defizite, immer das, was abweicht von der oder fehlt zur sogenannten Normalität. Es gibt nicht die Diagnose „liebenswerter, offener, junger Mann“. Und trotzdem tun wir so, als wären Diagnosen so etwas wie ein Code, der uns hilft, Menschen besser zu verstehen. In Wahrheit hindern sie uns daran, weil sie das Bild in uns festigen und unsere Vorurteile einzementieren. Diagnosen sind nur ein Stempel, den uns irgendwann jemand auf die Stirn gedrückt hat, damit er sich nicht die Mühe machen muss, in unsere Herzen zu schauen. Mit einer Farbe, die sich nicht wegwaschen lässt, ohne die Haut mitabzulösen. Wir können sie nicht wegschrubben, die Stempel, auch wenn sie längst nicht mehr zu uns passen.

Wir brauchen sie, die Diagnosen, weil sie uns helfen, Ordnung zu schaffen. Alles brav einsortieren in die vorhandenen Laden; die Zuckerkranken, die mit Krebs, die Depressiven, die Alkoholiker, die Autisten... Es gibt uns Sicherheit. Ganz unsicher macht es uns, wenn wir jemanden nicht einordnen können, weil er in keine Kategorie passt.

Auf meiner Stirn sind viele Stempel. Stark – den hat mein Vater gleich nach der Geburt ins Stempelkissen und anschließend auf meine Stirn gepresst. Schlampig und faul haben sie später dazugeprägt, Sie-könnte-ja-wenn-sie-nur-wollte, hat die Lehrerin einen freien Platz auf der Stirn gesucht und gefunden, aber auch begabt und witzig.
Nur, damit Sie nicht glauben, ich wäre etwas Besseres, auch ich bin Besitzerin einer ganzen Batterie von Stempeln in allen Formen und Stempelkissen in allen Farben, an denen ich mich fleißig bediene.

Zurück zur Bewusstseinsforscherin. Sie will Details über meinen Sohn wissen; welche Therapien er hinter sich hat und ob er eine Freundin hat und was er beruflich macht und wie er in die Familie eingebunden ist. Ich antworte brav und voll mütterlicher Liebe und Stolz – und dann kommt die Klatsche.
Dass es nur um mich gehe, meint die Bewusstseinsforscherin, und dass ich Probleme hätte damit, das spürt sie an meiner Aura. Sie habe schließlich jahrelang im Wald gelebt und bei den Schamanen, sie wisse mehr als eine Psychologin, sie fühle das an meiner Energie. Meine Freundlichkeit wird bemühter, ich würde sie gerne abschütteln, mich wieder den Leuten an meinem Tisch zuwenden, ich will mir meine Ohren zuhalten und nicht hören, was sie sagt, aber das spürt sie nicht. Sie hat mich fest in ihren Klauen. Und obwohl ich weiß, dass es Mist ist, was sie redet, dass es ausschließlich mit ihr zu tun hat, was sie sagt, und nicht mit mir und schon gar nicht mit meinem Kind, tut es weh. Ich will nicht unhöflich sein, ich eigne mich nicht für Publikumsbeschimpfungen.

„Du schilderst alles nur aus deiner Sicht“, sagt sie, „es geht dir nur um dich! Aber wie sieht denn dein Sohn die Welt?“ Ich maße mir nicht an, zu wissen, wie er sich selbst und die Welt wahrnimmt, aber er vermittelt mir und den anderen hier täglich den Eindruck, dass er im Reinen ist, mit sich und der Welt. Er strahlt von seinem Traktor, erzählt von der Weizenernte und schneidet die Hecken zurück.

Ich kann mich nicht anders von der Bewusstseinsforscherin lösen als mich physisch zu entfernen.
Als ich zurückkomme, ist sie weg. Nicht ohne vorher meine Freundin des Kindesmissbrauchs bezichtigt zu haben, weil auch sie ihren kleinen Sohn missbrauche und einen offenen Brief an ihn vorgelesen hat. Nicht ohne einen Sessel umzustoßen, zu fluchen und uns des Energieraubes zu beschuldigen.

Ich krame in meiner Tasche nach den Stempeln. Zwei finde ich. Der erste ist für mich und meine Freundin. Rabenmutter, steht drauf. Den zweiten kriegt die Bewusstseinsforscherin: Psychisch krank.

Und da war noch Frau H. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine schöne Geschichte.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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