„Manisch-depressiv“ lautet die Diagnose und zum Glück gilt sie nicht mir. Ich bin höchstens „damisch-menstruativ“, periodisch. Zum Pech gilt sie dir, vielleicht ist das aber gar kein Pech.
„Glaubst du auch, dass ich manisch-depressiv bin?“, fragst du.
„Ja.“
„Seit wann?“
„Wie lange kennen wir uns schon?“
Nimm bitte diese verdammten Pulverl, denke ich mir. Oder hab ich es laut gesagt? Nein, es geht mir nicht nur um dich. Auch um mich. Ich will dich nicht mehr so leiden sehen. Und ich will nicht mehr sehen, wie du regelmäßig abhebst und dir die Flügel brichst.
Du hast Angst, dass du nicht mehr kreativ arbeiten kannst, wenn sie dir mit den Medikamenten die Spitzen und die Tiefen wegsägen.
„Und jetzt, jetzt kannst du arbeiten?“, will ich wissen, „jetzt, wo du es nur mit Mühe schaffst, das Bett zu verlassen und Brot und Butter zu kaufen?“
Ich kann Beruf und Freundschaft gut trennen, normalerweise. Jetzt nicht. Jetzt brauchst du nicht nur eine Freundin, die dir zuhört und dich versteht, jetzt brauchst du Hilfe. Ich riskiere unsere Freundschaft, überschreite Grenzen, nehme dich an der Hand und begleite dich zur Ärztin. Es ist mehr ein Schleppen als ein Begleiten, wenn ich ehrlich bin.
Manisch-depressiv. Ein Stempel. Aber mehr Stempel als „völlig durchgeknallt“? Mehr Stempel als himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt? Rennen wir nicht alle mit unseren Stempeln durchs Leben?
„Hab keine Angst“, sage ich, obwohl ich weiß, dass du große Angst hast. Ich ja auch. Die Medikamente heilen dich nicht. Sie nehmen dir deine Schluchten nicht. Sie sorgen nur dafür, dass da unten eine Matte liegt, die deinen Sturz ein bisschen abfedert. Und dass eine Leiter an der Wand lehnt, die du benutzen kannst oder auch nicht. Die Tabletten nehmen dir auch die Gipfel und die dünne Luft da oben nicht. Sie geben dir nur Halt. Vielleicht verhindern sie, dass du abhebst und sorgen dafür, dass du wieder sicher ins Tal kommst.
Du schämst dich. Würdest du dich auch schämen, wenn du Diabetes hättest? Würdest du ernsthaft überlegen, ob es sinnvoll ist, den Blutzuckerspiegel zu messen und Diät zu halten?
Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass es für mich nicht anders wäre? Dass ich mich schämen würde, dass ich das Gefühl hätte, versagt zu haben, es alleine nicht zu schaffen? Dass ich Panik hätte davor, dass die Medikamente mich verändern. Und gleichzeitig die Sehnsucht, dass sie genau das tun?
Du kannst wieder schlafen, erzählst du mir. Seit du regelmäßig die Tabletten nimmst. Ich weiß, welche Überwindung das für dich bedeutet. Du kannst wieder arbeiten, sagst du und lädst mich zu deiner Ausstellung ein.
Dein schönstes Werk schenkst du mir.
Danke. Dafür. Und für alles.
Auch dafür, dass ich noch immer deine Freundin sein darf.
testsiegerin - 14. Dez, 23:25
Liebe Barbara,
das war mir schon klar, dass du ein bisschen pervers bist. Ich ja auch, sonst würde ich dir nicht noch immer antworten auf deine zur Hälfte zynischen, zur Hälfte liebenswerten und zur dritten Hälfte völlig dämlichen Briefe.
Warum hast du nicht schon viel früher geschrieben, dass du so leicht zu befriedigen bist? Ich hätte mir eine Menge Zeit und Geld gespart, für das Essen, für die Maroni, den Wein, den Lippenstift...
Ich hätte einfach ein paar Gesetzblätter kopieren (auf Privatkosten in der Privatzeit, selbstverständlich) und sie dir in privaten Kuverts mit privaten Briefmarken drauf schicken können.
Wie wäre es heute mit öffentlichem Personenverkehr?
(2) Unter Personenregionalverkehr (Verkehr im ländlichen Raum) im
Sinne dieses Bundesgesetzes sind nicht unter den Anwendungsbereich
der Bestimmung des Abs. 1 fallende Verkehrsdienste zu verstehen, die
den Verkehrsbedarf einer Region bzw. des ländlichen Raumes
befriedigen.
§ 3. (1) Verkehrsdienste sind eigenwirtschaftlich oder
gemeinwirtschaftlich erbrachte Dienstleistungen im öffentlichen
Schienenpersonenverkehr oder im Straßenpersonenverkehr
(Kraftfahrlinienverkehr).
Ich wäre ja mehr für die gemeinwirtschaftlich erbrachten Dienstleistungen zur Befriedigung. Im Verkehrsverbund. Und ich bevorzuge den Nahverkehr.
Besorg es dir trotzdem nett, während du das liest, ja?
Wie bitte? Noch nicht fertig? Na du brauchst heute aber lange. Kein Problem, ich häng noch was dran:
Nah- und Regionalverkehrsplanung
§ 11. Aufgabe der Länder und Gemeinden ist die auf Basis des
Angebotes gemäß §§ 7 und 10 vorzunehmende Planung einer
nachfrageorientierten Verkehrsdienstleistung (Reduzierung,
Ausweitung oder Umschichtung von Verkehrsleistungen) unter
Einbeziehung der in den §§ 20 und 31 angeführten Kriterien. Die in
§ 16 angeführten Planungen der Verkehrsunternehmen sind nach
Möglichkeit zu berücksichtigen.
§ 12. Ergibt sich auf Grund der Nah- oder Regionalverkehrsplanung
gemäß § 11 eine Reduzierung der Fahrplankilometer des Angebotes
gemäß § 7 sowie von Verkehrsdienstleistungen gemäß § 10, sind
dadurch frei werdende Bundesmittel weiterhin, vorrangig für
qualitätssichernde Maßnahmen, im öffentlichen Personennah- und
Regionalverkehr zur Verfügung zu stellen.
Jetzt aber, oder?
Ich muss aufhören, Jenny hat Alpträume. Und wenn du so weitermachst, ich auch bald.
Dein Herwig
P.S. Sag mal, hängst du unsere Briefe noch immer ans schwarze Brett?
testsiegerin - 12. Dez, 23:54
Lieber Herwig
Telefongespräch? Abgabenordnung? Orgasmus?
Schnappst du jetzt ganz über? Oder sprichst du im Fieber? Und was hat das alles mit mir zu tun?
Ach, jetzt wird mir einiges klar. Die Nummer, die ich dir gegeben hab, die hast du gewählt, oder? Die war nicht von mir, sondern von einer Frau, die eine Telefonsexhotline betreibt. Sie behauptet, sie sieht aus wie Christina Aguilera, in Wahrheit aber ist sie klein und pummelig und fettet sich mit den Telefonaten ihre Pension auf. Du hast sie also tatsächlich angerufen? Und nicht gemerkt, dass das nicht ich bin!? Na ja, spätestens bei der Telefonrechnung wirst du es bemerken.
Herwig? Hab ich dich jetzt erschreckt?
Alles gelogen. Ich war das am Telefon. Und ich bin blutige Telefonsex-Amateurin. Anfängerin sogar. Aber eine Freundin hat mir nach deinem letzten Brief geraten, ich soll jetzt so tun, als wäre das nicht ich gewesen. Ja, sie spinnt ein bisschen, ich weiß. Die Wahrheit ist, ich leide an einer speziellen Störung der Sexualpräferenz, der Linguaphilie. Nein, das ist falsch ausgedrückt, ich leide ja gar nicht darunter, sondern genieße sie. Du kennst das vielleicht aus dem Film Ein Fisch namens Wanda. Da kommt Jamie Lee Curtis, wenn er russisch redet. Ich hab das vor vielen Jahren auch mit russisch probiert und es war wirklich geil. Aber als ich dann Russisch-Englisch-Dolmetsch studiert habe, hat die Sache ihren Reiz verloren, weil ich plötzlich jedes Wort verstanden habe und die Kerle mir keine spannenden Spionagegeschichten, sondern über die russische Bundesliga erzählt haben. Dafür wollten sie dann auch noch einen Freistoß.
Mit griechisch hab ich es dann noch versucht, aber nach dem Griechisch-Kurs war auch da die Luft draußen. Kali orexi. Ja, und da bin ich dann umgestiegen auf Beamtendeutsch. Da verstehe ich – trotz jeder Menge juristischer Seminare – nach wie vor kein Wort. Puh, kannst du dir vorstellen, wie heiß mir geworden ist, als ich die Anonymverfügung und die Rechtsmittelbelehrung darunter gelesen habe? Es war einfach irre.
Meinen schönsten Höhepunkt hatte ich beim Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, Definition des Festlandsockels, Artikel 76 (4) a) ii). Mir wird immer noch ganz schwummerig, wenn ich daran denke.
Herwig?
Alles Quatsch. Es war deine Stimme, die mich erregt hat. Deine weiche, samtige, ruhige Stimme. Dein Tonfall, zärtlich und fordernd zugleich. Natürlich, Abgaben werden ja auch eingefordert.
Ich hab mich wirklich ein bisschen geschämt, danach. Ich hatte das nämlich ursprünglich überhaupt nicht vor, was da passiert ist, aber in dem Moment konnte ich nicht anders. Kontrollverlust, wenn Sie wissen, was ich meine.
Ich habe jetzt so eine kleine Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn du mir vertraute, versaute Worte ins Ohr flüsterst. So ganz ohne Telefonhörer dazwischen.
Es war phänomenal. Du bist phänomenal. Irgendwie.
Und ja, das nächste Mal haben wir beide dann schon wesentlich mehr Routine und ich lege nicht verschämt auf, o.k.? Da darfst du dann auch. Welche Sprache präferierst du?
Ich weiß nicht, ob ich es dir schon mal gesagt habe, aber ich mag dich sehr. Sehrsehr. Sehrsehrsehr.
So schaut’s nämlich aus.
Deine Barbara
testsiegerin - 11. Dez, 19:03
Puh, Barbara,
ich trinke gerade ein Glas Chardonnay (nein, nicht Jennys Meerschweinchen, sondern richtigen Wein) und versuche zur Ruhe zu kommen. Und das, obwohl die Unruhe eben mir sehr, sehr gut getan hat. Mein Ohr glüht immer noch von unserem Telefonat, obwohl du gar nicht viel gesagt hast, und ich bekenne freimütig: das Ohr ist nicht der einzige Körperteil, der glüht.
Dein Schweigen war ein ganz anderes als das bei Donna Rosa. Und deine Stimme, die das Schweigen hin und wieder gestört hat, die war viel leiser als in deinen Briefen.
Ja, jetzt sitze ich da und lasse unser Telefonat noch einmal Revue passieren.
Ich hab dir erzählt, dass ich vorhin einen Spaziergang gemacht hab, in ein schlimmes Gewitter geraten bin und mit völlig durchnässten Schuhen zu Hause angekommen bin, weil ich keine Gummistiefel anhatte. Du hast gefragt, ob ich dich wirklich angerufen habe, um mit dir übers Wetter zu reden. (Ich hab dich ohne jegliche Absichten angerufen, übrigens.) Dass du auch nass bist, hast du gesagt, wenn auch nicht an den Füßen.
Und dann haben wir geschwiegen. Ich, weil du mich verlegen gemacht hast, du – ja, keine Ahnung, warum du geschwiegen hast. Du scheinst manchmal einfach gern zu schweigen, ich gewöhne mich schön langsam daran.
Aber als du dann nach endlosen Minuten „Herwig ... Herwig ... Herwig“ geflüstert hast, ist mir ganz warm geworden. Ich wusste nicht, dass man meinen Namen so zärtlich säuseln kann. Mario oder Giovanni, das sicher, aber Herwig?
Hmmm. Du.
Ob es mich stört, wenn du dich streichelst, während wir schweigen, wolltest du wissen, und ich hab den Kopf geschüttelt. Aber das konntest du nicht sehen.
Dann hast du mich gebeten, dir etwas vorzulesen. „Aus der Göttlichen Komödie?“, hab ich vorgeschlagen und du hast gestammelt: „Irgendwas. Egal. Aber rede.“
Barbara, du bist die erste Frau in meinem Leben, die einen Orgasmus bekommen hat, während ich ihr aus der Niederösterreichischen Abgabenordnung aus 1977 vorgelesen habe. Tut mir leid, aber die Sammlung der Landesgesetze war das einzige Buch, das griffbereit auf dem Couchtisch lag.
Habe ich richtig gehört, dass du bei § 63 a gekommen bist? Bei dieser Passage, oder?
Anbringen, für die Abgabenvorschriften Schriftlichkeit vorsehen oder gestatten, können nach Maßgabe der der Abgabenbehörde zur Verfügung stehenden technischen Mittel auch telegraphisch, fernschriftlich, im Wege automationsunterstützter Datenübertragung oder in jeder anderen technisch möglichen Weise eingebracht werden.
Was fandest du daran eigentlich so erotisch?
Sicher bin ich mir ja nicht. Spätestens seit der Szene, als Sally Harry im Restaurant den Orgasmus, der in die Filmgeschichte eingegangen ist, vorgespielt hat, wissen sogar die blödesten unter uns Männern, dass der Schein manchmal trügt.
Aber ich geh einfach davon aus, dass es für dich schön war. Selber schuld, wenn nicht. Ich hätte schon mehr Geduld gehabt und noch ein paar weitere Paragraphen gelesen.
Barbara, dein Stöhnen hat mich ziemlich angemacht. Du hast „Danke“ in den Hörer gehaucht, dich bei mir entschuldigt, mir gestanden, dass dir das jetzt total peinlich ist und aufgelegt. Ja, danke auch. Du musst dich nicht entschuldigen, denn es war auch für mich wunderschön, dir gut zu tun. So bin ich. Ein völlig selbstloser Altruist, würden die einen sagen. Ein Idiot, die anderen. Aber es ist mir sowieso egal, was die einen und was die anderen sagen.
Und das nächste Mal ...
Ich küsse dich. Wo auch immer es dir gut tut.
Dein Herwig
P.S. Nie wieder werde ich bei einer Sitzung völlig unbefangen aus der Abgabenordnung zitieren können, sondern dabei immer ein völlig dämliches Lächeln auf den Lippen haben. Eines, das du mir dorthin gezaubert hast.
testsiegerin - 10. Dez, 16:48
Ach Herwig,
Wie wäre es, wenn du aufhörtest zu schwafeln und mich endlich anriefst? (Liebtest du den Konjunktiv auch so sehr wie ich? Manchmal fürchte ich, er könnte stürben, Hand in Hand mit dem Genetiv.)
Egal. Ich glaub, ich tät mich ziemlich freuen mögen, wenn ich deine Stimme hörtete, wie sie mir etwas vorliest.
Deine Barbara
testsiegerin - 9. Dez, 23:52
Liebe Barbara,
lese ich richtig? Du bist eine komplizierte, schwierige und launenhafte Frau? Jetzt schwindelst du mich aber an. Dein allererstes Schreiben an die Bezirkshauptmannschaft, all deine anderen Briefe, der verhinderte orientalische Ritualmord, deine hilfreichen Gedichtrezensionen, die hundert geschälten Maroni, all das waren doch Indizien dafür, dass es sich bei dir um ein pflegeleichtes, faltenfreies sowie aus- und einkochbares Exemplar der weiblichen Spezies handelt. Not to iron. Ich war überzeugt: Die wird an den Nachmittagen Strohsterne basteln, die Nachbarin auf Kaffee und selbst gebackene Kekse einladen, die Thujen im Vorgarten schneiden, mit Jenny Differenzialgleichungen diskutieren und mit verklärtem Lächeln auf dem Gesicht die Gartenzwerge abstauben. Auf dem Nachhauseweg von unserem legendären Restaurantbesuch dachte ich noch: Herwig, du hast Schwein gehabt. So eine liebe, nette, angepasste und unterhaltsame Frau. Endlich eine, die mit Dresscodes auf du und du ist, eine, die in allen Lebenslagen weiß, wie man sich zu benehmen hat, die Mohnblumen isst und den Wein, der ihr nicht schmeckt, einfach und ehrlich wegschüttet. Eine, die weiß, wann sie zu schweigen hat. Herwig, hab ich mir zugeflüstert, du hättest es schlimmer treffen können, und ich war dem Schicksal unendlich dankbar, dass es mir ausgerechnet dich vor die Füße geworfen hat. Eine Seele von einer Frau.
Und jetzt erzählst du mir so was. Ich bin erschüttert.
Hör mir mal bitte ganz gut zu: Meine hysterische Nachbarin geht mir furchtbar auf die Nerven und ich wünschte mir, du würdest ihr Gift in den Kaffee tun. Jenny braucht keine Ersatzmama, weil sie Mutter und Vater und Großmütter und Großväter und sogar eine Urgroßmutter hat. Und ich brauche auch keine Ersatzmama. An meine Hemden lasse ich nur Wasser und ein Bügeleisen, das von meiner eigenen Hand geführt wird. Zerrissene Zeitungen finde ich total praktisch zum Einheizen und ich finde es todlangweilig, wenn Messer im Messerblock und zwei gleiche Socken im Schrank sind.
Du siehst, ich bin also durchaus kompromissbereit. Was ich mir jedoch selbstverständlich erwarte ist, dass du im Bett abgehst wie eine Rakete. Jede Nacht mehrmals.
Verdammt, Barbara, ich hab mich in dich verliebt. Weiß Gott, warum, aber so ist es. In dich. Nicht in irgendein Model aus dem Chips-Katalog. Könntest du das bitte endlich kapieren?
Dein Herwig
P.S. Du hast die anderen Aufschläger der Bezirskshauptmannschafts- Volleyballmannschaft (VC Vorwärts Netzprobe) noch nicht gesehen, sonst würdest du über den Amtsarzt nicht so spotten.
testsiegerin - 9. Dez, 11:51
Lieber Herwig,
ja.
Will ich. Also telefonieren. Und das andere auch. Also, dass es weitergeht. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob ich will. Was ich will. Wie ich will. Aber ich will. Reicht das für den Moment?
Deine Gefühle machen mir Angst. Und meine machen mir noch mehr Angst. Es wird wieder wehtun. Früher oder später. Wahrscheinlich früher. Meistens hat es früher wehgetan als später.
Ich werde wieder enttäuschen. Dich und Jenny und mich und was weiß ich, wen noch. Du sagst, ich habe Angst, dass jemand bemerkt, dass ich nett bin. Ich will aber nicht nett sein, verstehst du? Nett klingt so austauschbar, belanglos, lieb, langweilig. Nett halt.
Ich bin keine Plastilinpuppe, die man sich so zurechtformt, wie man sie gerne hätte. Freundlich zu den Nachbarn, erfolgreich im Beruf, eine großartige Köchin und gute Gastgeberin, eine liebevolle Ersatzmama und gute Zuhörerin und aufregend im Bett. Ich bin definitiv nicht nett.
Wenn du eine nette Frau willst, nimm die Kelly und iss mit ihr jeden Abend Chips auf der Couch. Sie wird an deinen Lippen hängen und dich bewundern, wenn du ihr aus der Göttlichen Komödie vorliest.
Wenn du eine schwierige Frau willst, eine, die nicht weiß, was sie will, eine, die grad noch selbstherrlich und überheblich war und im nächsten Moment in Tränen ausbricht, weil sie sich von niemandem geliebt fühlt, wenn du eine Frau willst, die schon die ersten Fältchen hat und kein Botox spritzen wird, um für dich schön zu sein, eine, die voller Narben und Schrammen ist, die das Leben ihr zugefügt hat, eine die – weil sie manchmal so verwirrt ist – die Socken in den Kühlschrank steckt und die Löffel in die Waschmaschine, wenn du eine Frau willst, die zu laut lacht und zu laut heult und die Zeitung zerreißt, weil sie wütend auf das ist, was in der Welt so passiert, ja ... was wollte ich eigentlich sagen ... ja, ich weiß schon ... also, wenn du so eine willst, dann bin ich vielleicht die richtige. Aber wer will schon so was. Noch nicht mal ich will das.
Themenwechsel. Ich hab deinen Freund, den Amtsarzt, kennen gelernt. Zufällig. Nie und nimmer ist das der beste Aufschläger eines Volleyball-Teams. Das einzige, was der gelegentlich aufschlägt, ist ein Spiegelei in der Pfanne. Oder zwei oder drei oder vier.
Meine Telefonnummer: 0656/7484304. Und überhaupt bin ich froh, dass deine Ex-Frau noch lebt. Ich bin nämlich kein fieses Arschloch.
So. Punkt. Weiteratmen. Und aus.
Barbara
testsiegerin - 8. Dez, 11:05
Liebe Barbara,
oh, die Madame ist eifersüchtig. Wer hätte denn das gedacht? Und Madame hat ein angeschlagenes Selbstwertgefühl und fühlt sich von Kelly Clarkson-Sattmann-Tauber bedroht. Da schau her!
Meine Güte, hast du immer noch nicht bemerkt, dass du für mich total attraktiv bist? Dass ich deine Rundungen genauso gern mag wie deine Ecken und Kanten?
Barbara, ich bin froh, dass du mir nicht erzählst, dass der Nachmittag für dich schön war und dass du dich wohl gefühlt hast, als du mich gespürt hast und all das andere, dass du mir in deinem Brief auch nicht erzählst. Vielleicht könnte ich nämlich damit nicht so gut umgehen wie mit deinen ständigen Sticheleien.
Ich habe Jenny nicht erzählt, dass du eine dämliche Zicke bist. Ich hab ihr nur gesagt, sie soll sich nicht wundern, wenn du den ganzen Tag schweigst, das läge an einer sehr seltenen und geheimnisvollen Krankheit, über die man noch nicht viel weiß. Und dass es nichts mit ihr zu tun hat, wenn du in Gummistiefeln über den Tisch kletterst und den Krampus verprügelst und dass du eigentlich ganz nett bist, aber totale Angst davor hast, dass die Leute das bemerken. Das hab ich ihr gesagt, sonst nichts. Sie hat es trotzdem bemerkt, meine Tochter.
Und du hättest ruhig fragen können, was mit Jennys Mutter passiert ist.
Nichts Spektakuläres, obwohl ich wahrscheinlich aufgrund deines Hanges zur Dramatik in deiner Achtung steigen würde, könnte ich mit wilden und tragischen Geschichten auffahren. Vielleicht hättest du Mitgefühl mit mir, wäre sie vor unseren Augen vom Tsunami ins Meer gerissen worden, in der Standseilbahn verbrannt, von einem alkoholisierten Raser niedergemäht worden oder wenigstens an Brustkrebs verstorben.
Kann ich alles nicht bieten. Sabine wohnt drei Häuser weiter, ist seit drei Jahren meine Ex-Frau und wir verstehen uns wunderbar. Sorgen und Sorgerecht teilen wir und Jenny findet es mittlerweile cool, zwei Wohnungen zu haben. Das war aber nicht immer so, eh klar. Sabine ist noch bis Mitte Jänner auf Ausbildung in Deutschland, deshalb kann ich abends und am Wochenende nicht alleine weg (außer Mittwochs, zum Volleyballspielen) und hab Jenny deshalb zum Adventmarkt mitgenommen. Aber ihr habt euch ja ohnehin prächtig amüsiert.
Zufrieden mit meiner Erklärung? Sicher nicht. Bist du eigentlich jemals so richtig zufrieden? Oder gar glücklich?
Ach Barbara, wie geht es mit uns weiter? Möchtest du denn überhaupt, dass es weitergeht? Ich hab ein bisschen Angst, dass dir mein beschauliches Leben zu langweilig sein könnte. Einen Mord im Hotel Orient konnte ich dir nicht bieten und jetzt nicht einmal einen soap-opera-reifen Rosenkrieg mit der Ex. Tja, nicht mal Sex mit der Ex.
A propos. Was hältst du davon, wenn wir in den nächsten Tagen telefonieren? Wenn du magst, könnte ich dir dabei ja etwas vorlesen.
Ich drück dich
Dein Herwig
testsiegerin - 7. Dez, 16:19
Lieber Herwig,
was ich mit dir mache, fragst du? Gar nichts mache ich. Das Schicksal macht. Glaubst du ans Schicksal? Ich finde die Sache mit dem Schicksal praktisch, da ist man für sein Tun nicht verantwortlich, weil sowieso dieses Schicksal seine dreckigen Hände im Spiel hat.
Ich muss dir etwas gestehen, Herwig: Ich habe mich am Wochenende verliebt.
In Jenny.
Die Kleine ist voll süß. Dabei hab ich vor ihr mehr Angst gehabt als vor unserem Zusammentreffen. Kinder können ja grausam sein, und habe befürchtet, deine Tochter wird mich verachten, weil ich ihr für ein paar Stunden den Papa stehle. Ich bin aber keine Diebin, oder zumindest eine anständige, die das Diebsgut gerecht teilt.
Was hast du Jenny eigentlich über mich erzählt? Sie hat mich angestarrt wie ein UFO, das soeben im Schulhof gelandet ist und mir ständig auf die Füße gestarrt. Hast du wirklich geglaubt, ich fahre in schwarzen Gummistiefeln auf den Adventmarkt? „Du kannst ja sprechen“, hat sie fassungslos gesagt und ein wenig später „und Schreckschraube bist du auch keine“, in mein Ohr geflüstert.
Du hast also deiner Tochter erzählst, ihr verbringt den Sonntagnachmittag mit einer stummen, gummibestiefelten, dämlichen Zicke, die kleine Kinder frisst, wie?
Im Übrigen kannte sie mindestens so viele Schimpfwörter wie ich, wenn auch nicht so schöne, und meine Witze hatten ausnahmslos eine Pointe, die hat sich Jenny nur nicht gemerkt.
Ach, ich beneide sie ein bisschen, ich hätte auch gerne jemanden, der mir manchmal vorliest.
Über Beatrix hat sie mir auch erzählt, deine Tochter. (Unaufgefordert, ich schwöre!) Dass sie letztens mit euch Eislaufen war und wie Kelly Clarkson ausschaut, hab ich in Erfahrung gebracht. Ich habe soeben nach dieser Kelly gegoogelt. Nach mausgrauer, netter Kollegin schaut die aber wirklich nicht aus! Ich weiß, es geht mich nichts an. Du kannst schließlich Eislaufen gehen mit wem du willst, sogar mit Kelly Clarkson. Mich friert dabei sowieso immer.
Aber Frauen, die so ausschauen, die schicken einen nicht aus Mitgefühl zum Amtsarzt. Die tun das aus eiskalter Berechnung.
Ich meine es nur gut mit dir, Herwig. Nimm dich bitte in Acht vor der. Wolltest du nicht irgendwann einen neuen Job suchen? Das kann ohnehin nicht die Erfüllung sein, so ein Ärmelschonerberuf auf einer Behörde.
Ich schick dir zwei Küsse. Einer ist für Jenny. Richte ihr bitte aus, dass ich sie sehr mag. Und einer ist für ihren Vater. Sag ihm, dass ich ihn auch mag. Sag ihm, meine Gefühle sind bestimmt tiefer und ehrlicher als die von Kelly Clarkson, und meine Küsse besser.
Ich weiß jetzt übrigens, warum du mir damals mohnroten Lippenstift geschenkt hast. Nicht aufgrund deiner Liebe zum Waldviertel und meiner Liebe zum Lippenstift, nein. Rote Lippen, hab ich gelesen, verstören das männliche Kleinhirn. Der Mund signalisiert Eros, während andere Körpersignale eine andere Sprache sprechen - "Jetzt nicht" zum Beispiel. Und das kleine Männerhirn nimmt diese Mischung aus widersprüchlichen Signalen als weibliche Dominanz wahr. Zu Recht, sagt die Studie.
Herwig?
Ich sag dir jetzt nicht, dass das ein wunderschöner Nachmittag für mich war. Und dass ich mich in Wahrheit gar nicht gefürchtet hab vor den Krampüssern (ist das Plural von Krampus?). Und dass ich das Lehnen und Lächeln bei der Trockenbeerenauslese sehr genossen hab. Das alles behalte ich bei mir. Es sind meine Geheimnisse. Sonst wirst du noch übermütig.
Deine Barbara
P.S. Ich hab weder Jenny noch dich fragen getraut. Wo ist eigentlich ihre Mutter? Du musst das aber nicht beantworten, wenn es dir unangenehm ist, ja?
testsiegerin - 5. Dez, 21:57